Politik drückt sich um ein Böllerverbot
Jedes Jahr spielt sich in Deutschland ein bizarres Ritual rund um Silvester ab. Einige Tage vor dem Jahreswechsel kommen die Gegner und Befürworter von Böllern und Feuerwerksraketen in den Medien zu Wort, großformatige Anzeigen locken die Böllerfreunde in die Läden. Dann kracht es am 31. Dezember 2024 wieder und fünf Mitbürger kommen zu Tode, Tausende werden verletzt, Häuser in Brand gesetzt, allein in Berlin 300 Randalierer festgenommen. Politik und Verwaltung sprechen angesichts dessen allerdings von einem überwiegend friedlichen Verlauf. Es ist schon pervers, wenn unterm Jahr über Feinstaub und das klimaschädliche CO2 gar eifrig diskutiert wird, doch wenn Böller krachen und Raketen in den Nachthimmel zischen, setzt bei vielen Bürgern scheinbar der Verstand aus. Ganz nebenbei bemerkt: Es geht nicht um einige kleine Knallfrösche, mit denen Kinder oder Jugendliche das neue Jahr begrüßen, sondern um die Einkaufswägen voller Feuerwerksartikel, die häufig nicht gerade die betuchtesten Mitbürger nach Hause schleppen, um minutenlanges Dauerfeuer erschallen zu lassen bzw. um Kugelbomben, die nicht nur Finger und Hände abreißen, sondern ganze Hausfassaden erschüttern. Halbgare Kommentare aus Politikermund beeindrucken die Missetäter nicht, die mit Böllern und Raketen ihre Mitmenschen bombardieren und besonders gerne Polizisten, Feuerwehrleute oder Sanitäter unter Beschuss nehmen. Und sind die Silvester-Vandalen alkoholtrunken abgezogen, darf auf Kosten des Steuerzahlers der ganze Müll eingesammelt werden, denn zum Aufräumen hat dann doch die Kraft gefehlt. Sind die Böller-Toten begraben, die Verletzten aus dem Krankenhaus entlassen, der Feuerwerksmüll eingesammelt, dann schläft die Debatte bis zum nächsten Jahr wieder ein. Und das Ritual beginnt zum Jahresende aufs Neue.

Feiern nur mit Krach und Umweltschäden?
Auf die Schattenseiten der Silvesterknallerei bin ich bereits mehrfach in meinem Blog eingegangen, daher möchte ich hier nur noch auf einige besonders gravierende Folgen eingehen. „Jährlich werden rund 2.050 Tonnen Feinstaub (PM10) – davon rund 1.700 Tonnen PM2.5 – durch das Abbrennen von Feuerwerkskörpern freigesetzt, der größte Teil davon in der Silvesternacht“, so das Umweltbundesamt. „Diese Menge entspricht in etwa einem Prozent der gesamt freigesetzten PM10-Menge in Deutschland.“ Dies ist stets eine Steilvorlage für die Böllerfans, denn sie meinen, was sei denn schon ein Prozent des jährlichen Feinstaubs. Dabei vergessen diese Zeitgenossen gänzlich, dass die ganze Menge in gerade mal einer Stunde anfällt und dass in der Automobilindustrie um jedes Mikrogramm Feinstaub gerungen wird, wovon qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland abhängen. Obskur ist es, wenn die gleichen Politikerinnen und Politiker, die fleißig über den von Fahrzeugen verursachten Feinstaub philosophieren, bei der Silvesterknallerei verstummen. Wer möchte ohnehin einer bestimmten Klientel ihre fragwürdige Feierlaune verderben? Und so kehrt jedes Jahr das Ritual zurück: Über Böller und Raketen wird diskutiert, aber es geschieht nichts. Trotz der Folgen für Mensch, Tier und Natur.

Wer wüsste nicht, dass sich Wild- und Haustiere bei lauten Explosionen und künstlichen Lichtblitzen fürchten, dennoch lebte die Ballerei auch nach den Coronajahren wieder auf. Und nach meinem Empfinden geht es immer mehr um den Krach, der sich mit Batteriefeuerwerk hervorrufen lässt, und weniger um die Schönheit einer bunt explodierenden Rakete am Himmel. Viel zu wenige Einzelhändler weigern sich bisher, Feuerwerksartikel in ihr Sortiment aufzunehmen, so dominieren die ganzseitigen farbenfrohen Anzeigen der Supermärkte und Discounter. „Richtig feiern ins neue Jahr“, betitelte ‚Kaufland‘ eine seiner Anzeigen. Geht „richtig feiern“ nur, indem man Tiere verängstigt, Menschen gefährdet und Feinstaub in die Luft bläst? Da bin ich nun ganz anderer Meinung und wundere mich sehr, dass der Besitzer von ‚Lidl‘ und ‚Kaufland‘, der Multimilliardär Dieter Schwarz, als Mäzen für Bildungsprojekte auftritt, aber keinerlei Bedenken zu haben scheint, wenn seine Unternehmen die Unkultur der Böller und Raketen propagieren.

Haus- und Wildtiere brauchen Schutz
Eine drastische Reduzierung der verkauften Feuerwerksartikel muss in Deutschland durchgesetzt werden, ein Verbot in historischen Innenstädten reicht nicht aus. Je weniger in den engen Gassen geböllert werden darf, desto mehr Feuerwerksartikel werden in den Randgebieten oder in Parks gezündet. Aus den Rückständen gelangt Mikroplastik in die Böden und die größeren Überbleibsel muss der Landwirt von Hand aufklauben. So darf weder mit den Bauern noch der Umwelt umgegangen werden. “Feuerwerk bedeutet einen Lichtblick und markiert einen kurzen und besonderen Moment der Ausnahme vom Alltag“, meint Ingo Schubert, Vorsitzender des Bundesverband Pyrotechnik, im WDR. Für so manchen endet dieser ‚Lichtblick‘ im Krankenhaus, da er von einer Rakete oder einem Böller im Gesicht getroffen wurde. Wenn der einzige ‚Lichtblick‘ im Jahr ein Batteriefeuerwerk ist, das nicht nur Hunde, Katzen und Vögel, sondern auch viele Menschen erschreckt, sollten wir schleunigst über Veränderungen in unserer Gesellschaft nachdenken!

Bei Umfragen ergibt sich seit einigen Jahren jeweils eine Mehrheit für ein Böllerverbot an Silvester, doch die politischen Entscheider scheint dies nicht zu grämen. So bleibt den Befürwortern guter Luft nur, rechtzeitig alle Fenster zu schließen, und Tierfreunde können für ihre Haustiere einen Rückzugsraum schaffen und sich an Silvester besonders intensiv um ihre tierischen Mitbewohner kümmern. Wildtiere haben es in einer häufig ausgeräumten und intensiv genutzten Landschaft oder im urbanen Bereich ohnehin nicht leicht. Insekten haben um bis zu 70 % abgenommen und darauffolgend machen sich sogar frühere ‚Allerweltsvögel‘ rar. Das Letzte, was unsere gefiederten Freunde brauchen, ist daher im Winter eine zusätzliche Störung durch von Menschenhand gezündete Böller und Raketen. Wildgänse finden nur noch wenige Wiesen und Äcker, auf denen sie nach Nahrung suchen können, wenn sie vor der Kälte nach Deutschland migrieren. Die Nahrung reicht häufig gerade so fürs Überleben. „Es ist schockierend zu sehen, wie viel weiter die Vögel in der Silvesternacht flogen“, sagt Andrea Kölzsch, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und Erstautorin einer bemerkenswerten Studie. „Einige Tiere legten Hunderte von Kilometer in einer einzigen Winternacht zurück, Distanzen, die sie normalerweise nur während des Zuges absolvieren.“ Die Wildgänse versuchen dem Lärm auszuweichen, indem sie weniger von Menschen besiedelte Gebiete anfliegen, und vermutlich wollen sie auch der hohen Feinstaubbelastung entgehen, die sich laut der Studie durch das Feuerwerk an den Schlafplätzen um bis zu 650 % erhöhte. Feststellen ließ sich, dass die Vögel in den zwölf Tagen nach Silvester in der Tat zehn Prozent länger fraßen und sich tagsüber deutlich weniger bewegten. „Die Tiere versuchen wahrscheinlich, die Energie zu kompensieren, die sie in der Nacht des Feuerwerks ungeplant aufwenden mussten“, sagt Bart Nolet, Wissenschaftler am Niederländischen Institut für Ökologie und Mitautor der Studie. Die Studie ‚Wild goose chase: Geese flee high and far, and with aftereffects from New Year’s fireworks‘ erschien in ‚Conservation Letters‘. Mehr zu dieser interessanten Untersuchung finden Sie in meinem Beitrag ‚Silvester: Tierfreunde böllern nicht. Wildgänse fliehen vor Feuerwerk‘.

Mehrheit für Böllerverbot
Die einen lassen es krachen, und die anderen sammeln den Müll ein, so scheinen sich nicht wenige unserer Zeitgenossen Silvester vorzustellen. Dürfen wir den einschlägigen Statistiken glauben, dann konnten sich bereits 2023 bei einer YouGov-Befragung über 60 % der Teilnehmer für ein Verbot des privaten Silvesterfeuerwerks erwärmen. Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizisten, die ohnehin ganzjährig hoch belastet sind, könnten an Silvester mit weniger Zusatzarbeit leben, wenn die Politik endlich privates Feuerwerk verbieten würde. Dabei könnte ich mir durchaus eine Erlaubnis für kleine und ungefährliche Objekte vorstellen. Tiere in den Wohnungen und in der freien Wildbahn könnten in Ruhe die Silvesternacht verbringen. Wer Böller und Raketen in Privathand verbietet, der leistet auch noch einen Beitrag zur Reduzierung unserer Abhängigkeit von China, denn „Die chinesischen Importe nach Deutschland machten in den vergangenen 20 Jahren durchgängig mehr als 90 % der insgesamt eingeführten Menge an Feuerwerkskörpern aus“, so das Statistische Bundesamt. 2023 wurden knapp 40 000 Tonnen Feuerwerksartikel nach Deutschland eingeführt.

Die Natur, unsere Atemluft, Wild- und Haustiere sowie die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wären danken, wenn die Politik in Deutschland endlich ein Verbot des privaten Feuerwerks an Silvester durchsetzen würde. Verhindert würde durch ein Verbot menschliches Leid, denn Böller, Raketen und Kugelbomben töten und verletzen Mitmenschen. Trotz der Forderungen der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und 30 weiterer Organisationen für ein Böllerverbot kann sich die Noch-Innenministerin Nancy Faeser (SPD) nicht für ein generelles Böllerverbot erwärmen, sondern schiebt den Kommunen den Schwarzen Peter zu: “Die richtige Antwort sind nicht bundesweite Feuerwerksverbote, sondern mehr gezielte Handlungsmöglichkeiten vor Ort”. Der gescheiterte SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz betonte gegenüber dem Magazin “Stern”: “Ich bin dafür, dass wir ordentliche Regeln haben für das Zeug, das da hergestellt wird. Aber ein Böllerverbot finde ich irgendwie komisch.” Was daran komisch ist, wenn Menschen durch Böller sterben oder schwer verletzt werden, das weiß ich nicht. Die von ihm angesprochenen ‚ordentlichen Regeln‘ hätte Scholz ja erarbeiten lassen und umsetzen können, doch außer heißer Luft entwich nichts aus dem Kanzleramt. Von der nächsten Bundesregierung dürfte ebenfalls kaum ein Böllerverbot ausgehen. Bedauernde Worte und Beileidsbekundungen aus Politikermund sind leider zumeist die einzige Reaktion auf Böllerattacken. Und so dürfte es Ende des Jahres wieder das gleiche Ritual geben: Kurze Diskussion mit medialem Interesse über brandgefährliches Feuerwerk, dann werden erneut Tote, Verletzte und abgetrennte Finger durch Böller und Raketen zu beklagen sein, gefolgt vom Ruf nach einem Verbot. Sind einige Tage ins Land gegangen, scheint der Spuk vergessen.


