Vorbereitung auf Seuchen in Deutschland unzureichend
Kaum jemand macht sich gerne in guten Zeiten Gedanken über Katastrophen aller Art. So mancher denkt, dass Seuchen – wie Ebola – doch eher in Afrika grassieren. Und dann bricht eine Pandemie wie jetzt mit Covid-19 über Deutschland und andere Staaten herein. Zuerst reagieren die politischen Entscheidungsträger zögerlich, und während in Italien bereits die Alarmglocken wegen des Coronavirus läuteten, trafen sich die Menschen im österreichischen Ischgl noch zum Après-Ski, wobei sie nach der Heimreise ganz ungewollt die hochgefährliche Lungenkrankheit in verschiedenen europäischen Staaten weiterverbreiteten. Die ersten Aussagen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn oder auch dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Professor Lothar H. Wieler, klangen eher nach einem Zwischending von Schnupfen und grippalem Infekt. Doch dann kippte die Stimmung und Wieler betonte bei seinem Pressebriefing am 20. März: „Wir alle sind in einer Krise, die ein Ausmaß erreicht hat, das ich mir selber nie hätte vorstellen können.“ Nun bin ich allerdings irritiert, denn ich dachte, gerade im Robert-Koch-Institut (RKI) würde man sich vorausschauend um den Schutz gegen Seuchen aller Art kümmern! Sollte man in Berlin ganz vergessen haben, sich auch mit dem anscheinend Undenkbaren zu beschäftigen?
Auf Analysen folgten keine politischen Handlungen
Die oben gestellte Frage kann ich mit einem klaren Nein beantworten: Die 1100 MitarbeiterInnen des Robert-Koch-Instituts, darunter rd. 450 Wissenschaftler, haben nicht gepennt. Sie haben sich sehr wohl intensiv mit ihren Aufgaben beschäftigt – und dies sehr früh: „Die wichtigsten Arbeitsbereiche des Robert Koch-Instituts sind die Bekämpfung von Infektionskrankheiten und die Analyse langfristiger gesundheitlicher Trends in der Bevölkerung. Im Hinblick auf das Erkennen neuer gesundheitlicher Risiken nimmt das RKI eine ‚Antennenfunktion‘ im Sinne eines Frühwarnsystems wahr.“ Das vorausschauende Analysieren lässt sich leicht mit einer Bundestagsdrucksache – 17/12051 – aus dem Jahr 2013 belegen, die den auf den ersten Blick wenig dramatischen Titel „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ trägt. Dieses Dokument umfasst aber nicht nur eine Untersuchung zur Überschwemmungsgefahr durch „Extremes Schmelzhochwasser aus den Mittelgebirgen“, sondern enthält ebenfalls eine ausführliche Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“. Als ich in den jetzigen Corona-Tagen diese überaus sachkundige Untersuchung gelesen habe, lief es mir kalt über den Rücken: In diesem Papier wird vorausschauend die jetzige Pandemie des Coronavirus geschildert, wobei ich hoffe, dass die Folgen nicht so drastisch sein werden wie in diesem Worst-Case-Szenario. Den Beitrag zur Pandemie lieferte für diese Bundestagsdrucksache das Robert-Koch-Institut, das für Deutschland mit bis zu 7,5 Millionen Toten rechnete. In unser aller Interesse hoffe ich, dass wir die Pandemie schneller und mit deutlich geringeren Verlusten an Menschenleben eindämmen können. Und darauf deutet auch viel hin.
Für mich bleibt jedoch die Frage offen, warum aus dieser Analyse zu den Risiken einer Pandemie für Deutschland keine entsprechenden Schlüsse gezogen wurden? Und ich würde auch dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts dringend raten, die Veröffentlichungen des eigenen Hauses zu lesen – sogar rückwirkend. Es macht natürlich keinerlei Sinn, menschliche und finanzielle Ressourcen für eine Risikoanalyse einzusetzen, wenn dann nach der politischen Bewertung nicht entsprechendes Handeln folgt. Da weder wirksame Medikamente für die Behandlung der Infizierten noch ein Impfstoff zur Verfügung stehen, bleiben in diesem Szenario nur folgende Maßnahmen: „Neben Einhaltung von Hygienemaßnahmen können Schutzmaßnahmen in dem Sinne also ausschließlich durch Absonderung Erkrankter bzw. Ansteckungsverdächtiger, sowie den Einsatz von Schutzausrüstung wie Schutzmasken, Schutzbrillen und Handschuhen getroffen werden.“ Hier fallen bereits Begriffe, die die politischen Entscheidungsträger in Bundesregierung und Bundestag hätten aufgreifen müssen: Wie können denn nach wenigen Tagen der intensiven Nutzung „Schutzausrüstung wie Schutzmasken, Schutzbrillen und Handschuhen“ knapp werden? Hat denn niemand diese Bundestagsdrucksache – 17/12051 – gelesen und die notwendigen Schutzartikel bevorratet? Wohl kaum! Niemand scheint in den Jahren nach dieser Analyse Kontakt mit deutschen Unternehmen aufgenommen zu haben, die in einer kritischen Lage solche Erzeugnisse herstellen können. In den entscheidenden Gremien konnte sich wohl auch niemand vorstellen, dass besagte Schutzmasken oder -anzüge nicht pünktlich aus chinesischer Produktion eintreffen würden, wenn dort die Bänder wegen der Corona-Epidemie stillstehen. Aber nicht nur diese simplen Schutzartikel fehlen, sondern auch Medikamente bzw. deren Grundstoffe für ganz andere Erkrankungen werden knapp, weil in China und Indien die Hersteller ausfallen. So sieht eine vorausschauende Politik nicht aus!
2012: Bildhaftes Szenario der Corona-Pandemie
‚Das Undenkbare denken‘ habe ich in Vorlesungen zur Unternehmenskommunikation vor Jahren an der Universität Hohenheim immer wieder gefordert und mit den Studentinnen und Studenten die notwendigen Schlussfolgerungen für Firmen in verschiedenen Branchen erarbeitet. Wer Krisen früh erkennen und möglichst verhindern oder zumindest eindämmen möchte, der muss das Undenkbare denken. Dies ist die Basis für vorausschauendes Handeln. Dabei es geht nicht nur darum, negative Auswirkungen auf Mensch und Natur zu verhindern, sondern auch die Glaubwürdigkeit des gesellschaftlichen und politischen Systems zu erhalten. Dies gilt in besonderer Weise für das Coronavirus, das uns nicht nur die Gesundheit rauben kann, sondern unser Gesellschaftsmodell ernsthaft und bedrohlich in Frage stellt. Das Robert-Koch-Institut scheint seine selbst propagierte „Antennenfunktion“ wahrgenommen zu haben, doch die notwendigen politischen Schlussfolgerungen unterblieben – und dieses Unterlassen dürfen wir nun alle ‚ausbaden‘.
Ausgehend von der Analyse, die 2012 entstand und vom Bundesministerium des Innern dem Deutschen Bundestag zugeleitet und im Januar 2013 veröffentlicht wurde, hätten Detailpläne erstellt werden müssen, die die um sich greifende Kleinstaaterei in Deutschland und der EU verhindert hätten. „Mittel zur Eindämmung sind beispielsweise Schulschließungen und Absagen von Großveranstaltungen“, oder eine geringere Nutzung des ÖPNV, so heißt es in der Bundestagsdrucksache. „Neben diesen Maßnahmen, die nach dem Infektionsschutzgesetz angeordnet werden können, gibt es weitere Empfehlungen, die zum persönlichen Schutz, z. B. bei beruflich exponierten Personen, beitragen wie die Einhaltung von Hygieneempfehlungen.“ Die Entscheidungsträger hätten immerhin sieben Jahre unter Bundeskanzlerin Angela Merkel Zeit gehabt, sich besser auf eine Pandemie vorzubereiten, die gewissermaßen dem ‚Drehbuch‘ des Robert-Koch-Instituts folgt. Da Viren nicht lesen können, hat das Berliner Institut ein in beängstigender Weise zutreffendes Szenario entwickelt! Selbst der Ursprung der Pandemie wurde klar vorhergesagt: „Der Erreger stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde.“
Unzureichende Vorbereitung auf eine Pandemie
Wir können nur hoffen, dass Deutschland nicht in italienische Zustände abgleitet, in denen das Leid der Kranken und ihrer Familien, des medizinischen Personals und der ganzen Bürgerschaft alle Vorstellungen sprengt. Die Studie des Robert-Koch-Instituts sah solche Überbeanspruchung des Medizinsystems bereits 2012 voraus: „Die enorme Anzahl Infizierter, deren Erkrankung so schwerwiegend ist, dass sie hospitalisiert sein sollten bzw. im Krankenhaus intensivmedizinische Betreuung benötigen würden, übersteigt die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches (siehe Abschnitt KRITIS, Sektor Gesundheit, medizinische Versorgung). Dies erfordert umfassende Sichtung (Triage) und Entscheidungen, wer noch in eine Klinik aufgenommen werden und dort behandelt werden kann und bei wem dies nicht mehr möglich ist. Als Konsequenz werden viele der Personen, die nicht behandelt werden können, versterben.“ Ich hoffe sehr, dass der Leidensweg der Menschen in Italien bald endet und Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Und möge uns diese Apokalypse erspart bleiben! Doch eines ist klar: Nicht nur Italien, sondern auch Deutschland und ganz Europa waren unzureichend vorbereitet für diese Pandemie. Und die EU, die sich schon mal am Katastrophenschutz versucht hat, und dabei fälschlicherweise auf zentrale Kapazitäten gesetzt hat, anstatt die Hilfsorganisationen vor Ort nachhaltig zu fördern, erlebte bei dieser Pandemie ein neues Debakel. So funktioniert Europa nicht. So zerfällt Europa!
Quarantänemaßnahmen sollen auch im Szenario des Robert-Koch-Instituts zu einem Zeitgewinn führen, der es eher erlaubt, die große Zahl der Patienten zu versorgen. „Dieser Zeitgewinn durch antiepidemische Maßnahmen kann sehr effizient genutzt werden, um z. B. persönliche Schutzausrüstung herzustellen, zu verteilen und über ihre korrekte Anwendung zu informieren.“ Wieder wird die „Schutzausrüstung“ angesprochen, die hergestellt werden soll: Nach dieser Analyse von 2013 hätten Gespräche mit potentiellen Partnern geführt werden müssen, um schnell die auftretenden Lücken auffüllen zu können. Aber wieder Fehlanzeige. So ist es ein schönes Zeichen, dass sich Unternehmen wie beispielsweise der T-Shirt-Hersteller Trigema aus Burladingen und der Unterwäscheproduzent Mey aus Albstadt – beide von der Schwäbischen Alb – bereitfanden, Atemschutzmasken herzustellen. Die Daimler AG stellte aus eigenen Beständen 110 000 Schutzmasken zur Verfügung. Mit etwas mehr Vorausplanung hätte sich ein Netz möglicher Lieferanten aufbauen lassen, um die Abhängigkeit von chinesischer Ware zu verkleinern.
„Darüber hinaus sind mit Blick auf vielfältige internationale Verflechtungen auch Versorgungsleistungen aus anderen Ländern für Deutschland von großer Bedeutung. Zahlreiche Güter und Dienste werden weltweit jeweils von nur wenigen Schlüsselproduzenten bereitgestellt. Somit könnten Ausfälle im Bereich importierter Güter und Rohstoffe auch in Deutschland zu spürbaren Engpässen und Kaskadeneffekten führen“, so wiederum die RKI-Untersuchung. Was hat die Politik daraus gelernt? Wenig bis nichts, denn ansonsten hätte man die Abhängigkeit von einzelnen asiatischen Lieferanten nicht als Dauerzustand hinnehmen dürfen. Und wie heißt es in dieser Analyse nochmals: „Arzneimittel, Medizinprodukte, persönliche Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel werden verstärkt nachgefragt. Da Krankenhäuser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachlieferung angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe.“ Genau dies hat sich jetzt ereignet, da es an politischen Reaktionen auf das aufrüttelnde Szenario von 2012 gemangelt hat. Es ist doch für ein Industrieland wie Deutschland völlig unerträglich, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Medizinbereich schlecht geschützt mit den Kranken in Kontakt treten müssen. Auch an den Schutz von Kassiererinnen in Supermärkten scheint niemand gedacht zu haben.
Aber selbst Anfang des Jahres 2020 wurden – laut ‘Der Spiegel’ – Warnungen aus Herstellerkreisen negiert, Schutzbekleidung könnte knapp werden. Achim Theiler, Geschäftsführer des Buchloer Unternehmens Franz Mensch, das u.a. Mundschutz herstellt, hat – laut Spiegel-Informationen – Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mehrfach auf die drohende Knappheit bei Schutzausrüstungen für den aktuellen Pandemie-Fall hingewiesen. “Wir haben gemahnt, und keiner hat uns gehört”, sagte Theiler. Die zuständigen Behörden hätten nicht reagiert. “Das ist grob fahrlässig und verschärft die Krise unnötig“, so Thieler im ‚Spiegel, dem die entsprechenden Warn-Mails vorliegen.
Beratungsresistente Politiker?
Sicherlich bekomme ich auf diesen Blog-Beitrag Rückmeldungen über Facebook & Co., man solle doch jetzt keine Kritik an den staatlichen Maßnahmen gegen diese Corona-Pandemie üben. Darum geht es auch gar nicht: Jetzt muss alles getan werden, um die Ausbreitung dieser Seuche zu bremsen, und an dieser Aufgabe müssen wir uns alle aktiv beteiligen, in dem wir z. B. persönliche soziale Kontakte einschränken. Dennoch halte ich es für wichtig, auch zu diesem Zeitpunkt die Entstehung dieser Pandemie zu analysieren. Und dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um die Frage, was hätte besser gemacht werden können – und vor allem, was folgt daraus und was muss in der Zukunft besser gemacht werden. Dabei spielt gerade auch das Szenario des Robert-Koch-Instituts eine gewichtige Rolle, denn wäre es 2012/13 entsprechend aufgegriffen worden, dann wären nicht nach wenigen Tagen Schutzmasken und -anzüge, Desinfektionsmittel oder manche Arzneimittel zur Mangelware geworden.
Die Chance wurde vertan, aus dem Szenario des Robert-Koch-Instituts sachgerechte Schlüsse für Bund, Länder, Regierungspräsidien, Landkreise und Kommunen zu ziehen. „Eines aber lässt sich mit Gewissheit sagen: Die Bundesregierung blieb immer einen Schritt hinter der Entwicklung zurück“, schreibt der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer. „Gleichzeitig war sie in ihren Aussagen der öffentlichen Meinung nie weit voraus. Betrachtet man die Ankündigungen des Gesundheitsministeriums, begannen sie mit der zuversichtlichen Feststellung, die Lage unter Kontrolle zu haben.“ Es fehlte zu lange an einem abgesprochenen und konsequenten Handeln, denn die Bundesländer konnten sich tagelang noch nicht einmal auf die Gruppengröße einigen, ab welcher in der Öffentlichkeit nicht mehr aufgetreten werden darf. Daher ist die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vom 22. März sehr zu begrüßen. Und in Europa ließen die Einzelstaaten die Grenzschranken herunter, weil eine gemeinsame Politik in der EU nicht möglich schien.
Pandemien wird es immer wieder geben, doch ließen sich wohl manche Seuchen vermeiden, wenn in China nicht alles gegessen würde, was fliegt, krabbelt oder bellt. In Deutschland und der EU fehlte es aber an schnellen Reaktionen, die u. U. noch eine Eindämmung der Seuche ermöglicht hätten. Geradezu abstrus ist es, wenn in Deutschland von Fachleuten ein Szenario entwickelt wird, wie 2012 vom Robert-Koch-Institut zu einer Sars-Pandemie, diese Analyse sich 2013 in einer Bundestagsdrucksache niederschlägt, wir aber 2020 in eine solche weltweite Corona-Seuche stolpern. Ich habe den Eindruck, dass aus dem Szenario keine politischen Schlüsse und Handlungen erfolgt sind. Dies halte ich für ein schwerwiegendes ‚Organisationsversagen‘.
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