Per Warnstreik die Gesellschaft als Geisel nehmen

Ein schon leicht verrosteter Prellboch aus Metall mit Holzteilen steht am Gleisende. Gras und andere Pflanzen sind zu sehen.

Die Deutsche Bahn (DB) und ihre Gewerkschaften

Wenn Warnstreiks den Schienenverkehr in ganz Deutschland lahmlegen oder dies beabsichtigen, dann frage ich mich schon, ob sich bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) alle Vorstände ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst sind. Ich habe mein Arbeitsleben überwiegend in der Metall- und Elektroindustrie zugebracht. Dort ist ein relativ hoher Organisationsgrad zu verzeichnen und die IG Metall zeigte sich immer kampfstark. Auf der Internetseite der IG Metall heißt es: „Warnstreiks sind befristete Arbeitsniederlegungen von einigen Stunden.“ Das sollte auch die EVG-Spitze mal lesen! Warnstreiks sind ein wichtiges Mittel der Gewerkschaften, um die Arbeitgeber zu einem besseren Angebot zu bewegen, doch darf per Warnstreik der Bahnverkehr in ganz Deutschland lahmgelegt werden? Im Regelfall laufen im gleichen Zeitraum die Tarifverhandlungen auf Hochtouren. Ganz anders bei der EVG, die sich gerne Zeit lässt bis zur nächsten Verhandlungsrunde mit den Bahnvertretern. Und ein richtiger ‚Warnstreik‘ geht bei der EVG nicht Stunden, sondern Tage. Es ist ein Armutszeugnis, dass die EGV den geplanten 50stündigen ‚Warnstreik‘ erst nach Gesprächen mit einer Arbeitsrichterin – zumindest für die Deutsche Bahn – abgesagt hat. Tarifautonomie ist ein hohes Gut – wie das Streikrecht -, und daher sollten die Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber in der Lage sein, sich ohne zu großen Flurschaden zu einigen. Die EVG-Führung erinnert mich an Gewerkschaftler, die im Vereinigten Königreich in den 1970er und 1980er Jahren versuchten, Politik und Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen – bis sie die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher in die Schranken verwies.

Eine schwarze Lok umgeben von Dampfschwaden. Der untere Teil der Lok mit Gestänge ist rot bemalt.
Das Dampfzeitalter ist selbst bei der Deutschen Bahn vorbei, doch noch immer sind rd. 13000 km des Schienennetzes nicht elektrifiziert. Projekte mit Zügen, die über Brennstoffzellen mit Wasserstoff betrieben werden, kamen viel zu langsam in Gang. Wer vielleicht einmal ganz nostalgisch mit einer Dampflok unterwegs sein möchte, dem sei die historische ‚Sauschwänzlebahn‘ im Schwarzwald empfohlen: Nicht zuletzt die imposante Streckenführung und die Brücken zeigen, dass Deutschland bei der Entwicklung des Schienennetzes führend war – allerdings im 19. Jahrhundert. (Bild: Ulsamer)

Im Chaos vereint: EVG und DB

Mit der Deutschen Bahn und der EVG scheinen zwei Kontrahenten bei Tarifverhandlungen aufeinander zu treffen, die sich zwar eifrig beharken, aber dennoch recht gut zusammenpassen: Fehlleistungen auf Kosten der Bahnfahrer statt Erfolgsgeschichten! Wer in Deutschland mit der Bahn unterwegs ist, der kann was erleben – mit und ohne Streiks. Das möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen und verweise gerne auf meinen Blog-Beitrag ‚DB: Inkompetenz auf Schienen. Ein Tag mit der Chaos-Bahn‘. Erwähnen möchte ich jedoch noch zwei Fahrten meiner Enkeltöchter ins gleiche Schullandheim auf Amrum. Bei der ersten Klassenfahrt wurde nicht gestreikt, doch der Zubringerzug zum ICE in Stuttgart kam zu spät an und die Reiseplanung wurde über den Haufen gefahren: Viel zu spät wurde deshalb natürlich die Fähre in Dagebüll erreicht, die die Schülerinnen und Schüler zwar noch auf die Insel schipperte, doch in der Juhe gab es wegen der späten Stunde nicht einmal mehr ein Abendessen. Dieses Jahr – noch ohne Streikankündigung – fuhr die nächste Enkeltochter los, nein, die Klasse wollte starten – aber der Zug nach Stuttgart fiel ganz aus! Sehr vorausschauend hatten die Lehrer bereits ein üppiges Zeitpolster vorgesehen, und der ICE gen Norden wurde in Stuttgart gerade noch erreicht. Dann kam die Streikankündigung der EVG für den Tag der Rückfahrt sowie den nachfolgenden Tag, und die Schule zog die Rückkehr um zwei Tage vor. Nachts um 1 Uhr 30 erreichte die Klasse endlich nach allerlei holprigen Verbindungen wieder Stuttgart, und dort holten die Eltern ihre Kinder ab, denn um diese Zeit fuhr kein Zug mehr in die nahegelegene Universitätsstadt. Ob man mit einer solchen Gesamtleistung vom Unternehmen Bahn und der Gewerkschaft EVG die Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer der Zukunft gewinnen kann, das wage ich zu bezweifeln!

Zwei Betonbrücken direkt nebeneinander überspannen das Filstal. Auf der Brücke fährt gerade ein ICE. Die Hänge des Tals sind bewaldet.
Die Deutsche Bahn (DB) ist seit Jahren ein Problemfall, denn es fehlt an ausreichenden Finanzmitteln für die Sanierung des vorhandenen Schienennetzes und des Fahrzeugparks. Neubaustrecken kommen zu langsam voran, wenn die Ausbaupläne überhaupt konsequent vorangetrieben werden. Blick auf die Filstalbrücke, die Teil der Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm ist. Dieses Projekt macht aus meiner Sicht Sinn, doch bis heute ist der neue Tiefbahnhof in Stuttgart nicht fertiggestellt. Bei neuen Trassen, aber auch bei der Ertüchtigung vorhandener Gleise muss mehr Rücksicht auf die Natur genommen werden. Hierzu ein trauriges Beispiel in meinem Blog-Beitrag ‚Hat die Deutsche Bahn kein Herz für Frösche und Molche? Arbeiten an der Dreiseenbahn als Todesfalle für Amphibien‘. (Bild: Ulsamer)

Bahnfahren ist sicherlich ökologisch richtig, darum habe ich die DB auch oft geschäftlich genutzt, doch es ist bitter, dass seit Jahr und Tag keine Besserung bei der Pünktlichkeit erzielt wird. Einzelfälle soll man sicherlich nicht verallgemeinern, die DB gehört in Europa allerdings zu den unpünktlichsten Bahnen, was alle Statistiken belegen – leider! An zahlreichen Mängeln im deutschen Schienennetz tragen weder die DB-Vorstände noch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder die Gewerkschaften eine Schuld, denn es flossen zu wenige Investitionen in die Bahn. Nicht leugnen lässt sich auch, dass viele Politiker und Interessenvertreter das hohe Lied der Schiene singen, doch wenn neue Gleise gelegt werden sollen, dann machen sich die Fürsprecher rar: Der Unmut mancher Zeitgenossen, die ‚Not in my Backyard‘ brüllen, scheint oft mehr zu zählen als der dringend notwendige Ausbau des Schienennetzes. Ein Musterbeispiel ist die sogenannte ‚Rheinschiene‘. Von Rotterdam nach Genua sollen die Bahnverbindungen ertüchtigt werden, und die Beteiligten werkeln eifrig, nur in Deutschland regiert das Schneckentempo. Dies ist aber gerade das eigentliche ‚Deutschland-Tempo‘, das Bundeskanzler Olaf Scholz damit schönreden möchte, dass einige Terminals für Flüssiggas zügig gebaut werden, wobei ein Teil vermutlich nie gebraucht wird.

Ein silberner ICE der DB (roter Schriftzug) fährt durch einen Bahnhof. Auf dem anderen Gleis ist ein weiß-gelber Zug mit dem Schriftzug bwegt von 'Go Ahead' zu sehen.
Selbst ohne Streikaktionen gehört die DB zu den unpünktlichsten Bahnbetreibern in Europa. (Bild: Ulsamer)

Politisierung von Tarifverhandlungen führt ins Abseits

Nicht nur die Streikfreude der EVG erinnert an das Großbritannien der 1970er Jahre, sondern auch die Aufsplitterung der Gewerkschaftsszene bei der DB. Mal streiken die Lokführer, die sich als Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) im Deutschen Beamtenbund organisiert haben, dann legt sich die EVG ins Zeug und bringt in unserem ganzen Land den Schienenverkehr zum Stillstand. Und natürlich geistert auch noch ver.di durch Bahnhöfe und über Gleisanlagen. Wenn sich solche Konstellationen durchsetzen sollten, wird es wie in englischen Zeitungsdruckereien früherer Jahre zugehen: mal streikten die Setzer, dann die Elektriker oder andere Berufsgruppen – und Zeitungen konnten nicht erscheinen. Da ist man bei aller Härte der Tarifauseinandersetzungen in der Metall- und Elektroindustrie besser dran. Gleichzeitig ist es völlig abwegig, wenn die EVG und Ver.di sich bei Streiks mit Fridays for Future verbünden und dies alles noch mit der Ökologie begründen. „Wir sind dabei, denn ihr Streik für mehr Gehalt ist auch ein Streik für Klimagerechtigkeit“, betont der deutsche Ableger von Fridays for Future auf seiner Internetseite. Ob alle Veranstaltungsteilnehmer am 27. März bei einem ganztägigen und bundesweiten ‚Warnstreik‘ der EVG zu Fuß oder mit dem Fahrrad anreisten? Oder – bei Fridays for Future – vielleicht doch im SUV von Mama und Papa kutschiert wurden? Ganz übersehen haben diese beiden Gewerkschaften, dass politische Streiks in Deutschland verboten sind. So mancher Aktivist scheint eh nach dem alten Spontimotto ‚Legal, illegal, scheißegal‘ zu leben. Die Aufladung von Tarifauseinandersetzungen mit anderen politischen Themen erleichtert es nicht, einen für beide Seiten tragbaren Kompromiss zu erreichen – und darum sollte es ja gehen!

Ein großer gläserner Bau mit einem gewölbten Dach und dem Schriftzug Berlin Hauptbahnhof.
Ein moderner, gläserner Bahnhof – wie in Berlin – ist noch lange kein Signal für eine kundenfreundliche Orientierung, wenn nicht einmal die Gleisangaben stimmen. Hierzu mehr in meinem Blog-Beitrag ‚DB: Inkompetenz auf Schienen. Ein Tag mit der Chaos-Bahn‘. (Bild: Ulsamer)

Selbstverständlich muss gute Arbeit auch gut bezahlt werden, und dies gilt für den Zugbegleiter oder Mechaniker in der Instandhaltung ebenso wie für Führungskräfte, doch daraus muss sich gleichfalls eine Gesamtleistung für Kundschaft und Gesellschaft ergeben. Hier zweifle ich nach meinen eigenen Erfahrungen allerdings auf allen Ebenen. Mehr Hinwendung zum Kunden und zur Gesellschaft, die letztendlich gemeinsam die Löhne und Investitionen bezahlen, könnte nicht schaden! Wer wie die EVG Warnstreiks zum Kampfinstrument umdeutet, die ohne Rücksicht auf Verluste eingesetzt werden, der gefährdet nicht nur die eigene Gewerkschaft, sondern auch das Unternehmen Deutsche Bahn und weitere Bahnbetreiber. Bei EVG und GDL zeigt sich eine alte Wahrheit: Je kleiner die Gewerkschaft, desto rabiater die Vorgehensweise. Die EVG bringt es auf 185 000 Mitglieder, die GDL gerade mal auf 37 000. Im Vergleich dazu zählt die IG Metall – trotz Verlusten in den vergangenen Jahren – ca. 2,15 Mio. Mitglieder, ver.di fühlen sich 1,86 Mio. Menschen zugehörig. Darf sich eine Gesellschaft auf Dauer von zwei gewerkschaftlichen Zwergen auf der Nase herumtanzen lassen? Wer sich – wie ich – für das Streikrecht einsetzt, der muss auch die Frage stellen, wie wieder mehr gesellschaftliche Verantwortung bei EVG und GDL einziehen können?

Im Vordergrund eine im Bau befindliche Brücke aus Beton. Rechts fährt ein roter Zug über die alte Brücke. Beide überqueren den Neckar.
Die Infrastruktur der Deutschen Bahn (DB) ist in die Jahre gekommen. Ertüchtigung und Neubau kommen zu langsam voran. Im Vordergrund eine neue Brücke über den Neckar in Stuttgart. (Bild: Ulsamer)

Ich möchte diesen Beitrag nicht ohne den Aufruf beenden, jetzt endlich konsequent die Bahninfrastruktur auszubauen. 2022 überreichte die Beschleunigungskommission Schiene ihren Bericht Bundesverkehrsminister Volker Wissing, doch es droht die Gefahr, dass die Dynamik in Politik und Bahn nicht für die Umsetzung der Vorschläge ausreicht. Seit Jahren fehlt es an Finanzmitteln für die Sanierung des Bestands und den Neubau von Strecken. Und die Digitalisierung hinkt – wie in weiten Bereichen Deutschlands – hinterher. Bauprojekte – wie Stuttgart 21 mit dem Tiefbahnhof in Stuttgart und der Neubaustrecke nach Ulm – die ich sehr begrüße – ziehen sich wie Kaugummi und werden nicht zuletzt aus diesem Grund immer teurer. Die Situation der DB zeigt auch deutlich, dass es nicht nur an Geld, sondern gleichermaßen an einer Neuorientierung des Denkens fehlt. Ich vermisse bei der Bahn – einschließlich der Gewerkschaften – auch einen zukunftsorientierten Spirit, eine Geisteshaltung, die danach drängt, das Unternehmen wirklich voranzubringen. Mit Vergleichen ist das immer so eine Sache, aber die Deutsche Bahn ähnelt in den Abläufen dem Beschaffungsamt der Bundeswehr: Verkrustete Strukturen müssen aufgebrochen werden, ansonsten verschwinden zusätzliche Milliarden Euro nur in einem schwarzen Loch. Als Bürger und Bahnfahrer kann ich lediglich hoffen, dass Politik und Bahn gemeinsam mit der Gesellschaft das Ruder herumwerfen können, denn ohne eine leistungsfähigere Bahn ist die propagierte Verkehrswende nur eine Worthülse.

 

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Ein schon leicht verrosteter Prellboch aus Metall mit Holzteilen steht am Gleisende. Gras und andere Pflanzen sind zu sehen.Der Prellbock scheint mir ein treffendes Symbolbild für die Deutschen Bahn und die Gewerkschaften EVG bzw. GDL zu sein. Eigentlich schade! Die Verkehrswende bietet viele Chancen für Bahnbetreiber und deren Mitarbeiter, doch die Fahrt in die Zukunft wird eher behindert. (Bild: Ulsamer)

 

Die Senec-Banane reift beim Kunden – hoffentlich

Ein grau-weißes Gerät mit Lüftungsöffnungen steht in einem Keller. Größe eines Kühlschranks.

EnBW: Energiespeicher als Gefahrenquelle?

Im Grunde ist es eine Schande, wie langsam die Energiewende umgesetzt wird. Die Bundesregierung, die Länder, aber auch die EU stolpern mehr in die Zukunft, als dass sie konsequent und innovativ voranschreiten. Ein Musterbeispiel ist der Neubau von Windkraftanlagen, dies gilt zumindest für einige Bundesländer – wie Baden-Württemberg. Da drehen sich die Rotoren nicht im Takt, denn Genehmigungen und Zubau kommen kaum voran. Nun gut, müssen wir eben selbst was tun: eine PV-Anlage mit einem Stromspeicher muss her. Zu unserer Verwunderung hat ein internationales Team flugs die Module montiert, denn ein Koch aus Litauen und ein High-School-Lehrer aus Togo haben angepackt. Dann noch zügig einen Senec-Speicher in den Keller, wobei Kollegen aus dem Iran und Georgien hilfreich waren. Damit wird auch klar, dass wir ohne die heiß diskutierte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt nicht einmal PV-Anlagen installieren können. Selbst der benötigte neue Stromzähler wurde von Netze BW, einem Zweig des drittgrößten deutschen Energieerzeugers, der EnBW Energie Baden-Württemberg AG, zügig in Auftrag gegeben. Doch nun machte sich Ernüchterung breit. Am zweiten Tag des offiziellen Betriebs unserer Anlage reduzierte Senec – eine in Leipzig ansässige Tochter der EnBW – die Leistung des Speichers auf 70 %, am vierten Tag wurde der Speicher gänzlich entleert und eine im Internet abrufbare Information betonte, man könne aus Kulanzgründen mit 7,50 Euro pro Woche rechnen, da der Speicher nicht einsetzbar sei. Jetzt soll es 25 Euro geben, aber mal ganz ehrlich: So haben wir uns die Energiewende wahrlich nicht vorgestellt! Wir wollten einen Stromspeicher und keine ‚milden Gaben!‘

Screenshot 'Standby-Modus'.
Kaum im Haus – schon aus: Das war das Schicksal eines Senec-Speichers in unserem Keller. Aus der Ferne ausgeschaltet, da andernorts ein ähnlicher Speicher Feuer fing. Wir waren davon ausgegangen, dass die Speicher inzwischen technisch so weiter entwickelt wurden, dass keine Gefahr mehr droht. Liegt es an den eigentlichen Speichermodulen oder am Leistungsmanagement? Für Kunden ist es höchst unbefriedigend, wenn ein       10 000 Euro-teures Gerät am zweiten offiziellen Einsatztag in der Leistung reduziert wird und danach die Zwangsentleerung des Speichers erfolgt. (Bild: Screenshot, Ulsamer)

Senec-Speicher: Kaum im Haus – schon aus

Der neue Hausbewohner, unser Senec-Speicher, streikte zwar nicht wie Ver.di für mehr Geld, doch Leistung erbrachte er auch nicht. Hat sich da ein Energieunternehmen übernommen? Stellen Installateure einen Speicher in den Keller, der nicht einwandfrei funktioniert? Bereits bei der Montage wollte ein Einschub mit 2,5 kW-Stunden nicht so richtig und wurde nach einigen Tagen ausgetauscht, aber gar keine Leistung, das ist schon starker Tobak, wo immerhin 10 kW versprochen wurden. Nicht nur die Technik scheint zweifelhaft, sondern auch die Wortwahl. Was hat es denn mit „Kulanz“ und einem „freiwilligen Angebot“ zu tun, wenn für ein rd. 10 000 Euro teures Gerät pro Woche einige Euro gutgeschrieben werden sollen? Man stelle sich vor, der Vorstandsvorsitzende des Energieunternehmens EnBW, Andreas Schell, bekäme einen neuen Dienstwagen – egal mit Verbrenner, Hybrid oder batterieelektrisch betrieben – und am ersten Tag nach der Zulassung – sprich Einbau des neuen Zählers – wird die Leistung des Fahrzeugs auf 70 % reduziert, am vierten Tag ist die Leistung Null. Und dies wäre kein zufälliges Montagsauto, sondern die Leistungsminderung erfolgt von Seiten des Unternehmens, um Schlimmeres – nämlich einen Brand – zu verhindern! PV-Magazine berichtete:  „Es ist fast genau ein Jahr her: Nach drei Verpuffungen und Bränden versetzte Senec fast alle seine verbauten Heimspeicher in Stand-by. In den Folgemonaten entwickelte es die Software ‚Smart Guard‘ mit den Experten von Accure und implementierte sie bei mehr als 135.000 Kunden, um solche Zwischenfälle in Zukunft zu vermeiden.“ Doch nun brannte wieder ein Senec-Speicher trotz der neuen Software in Burladingen auf der Schwäbischen Alb. Zurück zu unserem Beispiel: Was würde der Fahrzeugnutzer wohl sagen, wenn ihm ganz „kulant“ einige Euro zum Ausgleich für die nicht erbrachte Leistung angeboten würden? Ein Auto ist zum Fahren da, und: Ein Stromspeicher zum Speichern, wie es der Name sagt. Ich frage mich auch, ob sich ein wirtschaftlich interessantes und nachhaltiges Geschäftsfeld für die EnBW entwickelt, wenn ständig beim bereits verkauften Produkt nachgebessert werden muss.

Zwei Personen bei der Montage von Solarmodulen auf einem Gebäude.
Wie wenig fruchtbar Diskussionen über die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt sind, das erlebten wir bei der Montage unserer PV-Module und des Stromspeichers. Mitarbeiter aus verschiedensten Ländern legten Hand an – wie ich dies bereits aus der Automobilindustrie kannte. Ohne langjährige Zuwanderung in den Arbeitsmarkt würden schon heute Fabriken stillstehen. (Bild: Ulsamer)

Neue Techniken machen immer wieder Probleme, das ist keine Frage. Doch darf man einem Kunden einen Speicher ins Haus stellen, der wohl technisch nicht ausgereift ist? Schon 2022 brannten mehrere Senec-Speicher ab, und wer möchte schon für die Energiewende sein Häuschen opfern? Ist ein Verkauf solcher Geräte nicht sittenwidrig? Ganz gönnerhaft wird von Senec mitgeteilt, man könne den Sonnenstrom vom Dach auch weiterhin direkt nutzen oder ins Netz einspeisen. Ist das nicht fabelhaft? Zumindest für den Energieversorger: Acht Cent bekommt man fürs Einspeisen und rd. 40 Cent bezahlt der Kunde für den bezogenen Strom pro kW-Stunde und „freiwilliges Kulanzangebot“ ist in diesem Fall ein schräges Wort, es ist im Grunde eine Unverschämtheit, denn wir haben als Kunden unsere Rechnung bezahlt und bekamen ein nicht wirklich funktionsfähiges Gerät. Bedenklich ist es auch, dass wir hier nicht einem Zockerverein aufgesessen sind, sondern einem Tochterunternehmen der EnBW, die sich mehrheitlich im Besitz des Landes Baden-Württemberg und des Zweckverbands Oberschwäbischer Elektrizitätswerke befindet. So wird das nichts mit der Hinwendung zur regenerativen Energieerzeugung auf dem eigenen Dach und der Speicherung des Stroms zur Entlastung der schwächelnden Netze!

Screenshot mit dem Text 'Vorübergehende Einschränkung im Betrieb.
Leistungsreduzierung aus Sicherheitsgründen, das ist besser als ein abgebranntes Haus, doch als Senec-Kunde hätten wir ein ausgereiftes Produkt erwartet. (Bild: Screenshot, Ulsamer)

Innovationskraft ist gefragt

Vielleicht sollte Robert Habeck, der Kinderbuchautor, der jetzt den Wirtschafts- und Klimaminister im Bund gibt, nicht das abrupte Ende neuer Gas- und Ölheizungen ab 2024 propagieren, sondern mal in unserem Land dafür Sorge tragen, dass die Bürgerinnen und Bürger ein entsprechendes Angebot an verlässlicher Technik für die Energiewende vorfinden. Mehr Verlässlichkeit wäre nicht nur bei den beteiligten Unternehmen, sondern auch in der Politik angebracht. Die Speicherprobleme im Haus sind die Batteriedramen im E-Auto! Ganz nebenbei: Die Module für unsere PV-Anlage wurden vom deutschen Unternehmen Bauer entwickelt, die Produktion dagegen findet in Taiwan statt, der Wechselrichter der israelischen Firma ‚SolarEdge‘ kommt aus der Volksrepublik China. Was im Detail im Senec-Speicher steckt, weiß ich nicht, doch vermutlich kommt von den Komponenten wenig aus deutscher Fertigung. Leider ist das so in Deutschland und der EU: Viel heiße Luft, die zentralen Bauteile allerdings stammen nicht nur im Photovoltaikbereich aus Asien. Da lassen sich Parallelen ziehen zum ganzen Brimborium, das die EU gerne bei der Digitalisierung und dem Datenschutz veranstaltet: Die Software kommt von Microsoft aus den USA, die Dienstleister für soziale Medien wie Facebook, Twitter, Instagram oder YouTube ebenfalls, oder wie bei TikTok aus China, doch die EU hat dafür gesorgt, dass wir bei jeder Internet-Seite bestätigen dürfen, ob wir mit den ‚Cookies‘ einverstanden sind. Fällt eigentlich niemandem in Brüssel oder Berlin auf, wie lächerlich das ist? ‚Cookies‘ sind wie Süßkram für quengelnde Kinder an der Ladenkasse, eine echte Entscheidungsmöglichkeit wäre mir lieber.

Hohe Strommasten aus Metall mit Überlandleitungen. Darunter einige Bäume.
Die von Bundesregierung und EU-Kommission geforderte Elektrifizierung aller Lebensbereiche, sei es Heizen, Mobilität oder industrielle Produktion, erfordert gewaltige Strommengen. Es fehlt nicht nur am notwendigen Ausbau der regenerativen Energiegewinnung, sondern auch an der Ertüchtigung der Stromnetze. Wenn alle ihren Strombedarf decken, dann droht gerade ohne die notwendigen großen und kleinen Speicher der Blackout. (Bild: Ulsamer)

PV-Module, Lithium-Ionen-Batterien oder Wasserstofftechnologie, so richtig gut ist es um den Industriestandort bei diesen Themen nicht bestellt. Und in der Anfangsphase der Coronapandemie konnten nicht einmal ausreichend Schutzmasken in unserem Land hergestellt werden. Medikamentenengpässe gehören zum deutschen Alltag, weil die Produktion nach Asien verlagert wurde. Deutschland und Europa fallen immer weiter zurück, dies merken manche Zeitgenossen nur noch nicht so richtig, da wir alle von den Technologien unserer Vorfahren leben. Ja, wie dieses Beispiel zeigt, wird aus einem unwilligen Senec-Speicher im Keller eine industriepolitische Frage höchsten Ranges. Tatsächlich hoffen wir, dass die Senec-Banane beim Kunden, sprich in unserem Keller reift, doch so richtig überzeugend ist dieser Start nicht. Dabei hatten wir einer unserer Töchter und unseren Nachbarn von unserer PV-Anlage berichtet, die nun aufs gleiche Pferd setzen – hoffentlich nicht zu Unrecht. Was ist nur aus der Innovationskraft eines Carl Benz, Gottlieb Daimlers, Robert Boschs oder Werner von Siemens geworden? Politik und Bürokratie setzen auf Gängelei statt Zukunftsorientierung und Technologieoffenheit. Und so manches Unternehmen scheint sich besser mit Kohle und Gas als mit der Speicherung von Strom auszukennen. Heinrich Heine kann mir hoffentlich verzeihen, wenn ich mir einen Absatz aus seinen ‚Nachtgedanken‘ entlehne: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht, / Ich kann nicht mehr die Augen schließen, / Und meine heißen Tränen fließen.“

 

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Ein grau-weißes Gerät mit Lüftungsöffnungen steht in einem Keller. Größe eines Kühlschranks.Ganz neu ist die Abschaltung von Senec-Speichern nicht, denn dies durften viele Kunden bereits im Jahr 2022 erleben, nachdem es zu Bränden gekommen war. Nachdem ich mein Berufsleben in technikaffinen Unternehmen zugebracht habe, dachte ich, wir könnten es jetzt wagen, denn Anfangsfehler bei Energiespeichern seien sicherlich behoben worden. War das ein Irrtum? Nachdenklich stimmt mich Johann Wolfgang von Goethe, der im ‚Faust‘ schreibt:  Da steh’ ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie zuvor! / Heiße Magister, heiße Doktor gar, / Und ziehe schon an die zehen Jahr’ / Herauf, herab und quer und krumm/ Meine Schüler an der Nase herum –/ Und sehe, daß wir nichts wissen können! (Bild: Ulsamer)

 

 

Der Choreograph und sein Hundekot

Rund um einen Holzmasten liegen zahlreiche Hundekotbeutel mit Inhalt. Schwarz, gelb, rot, grün sind die Farben.

Marco Goeckes Attacke auf eine Ballettkritikerin ist entwürdigend

So manche Kritik zu meinen Büchern oder Beiträgen in Zeitungen haben mich nicht erfreut, nicht selten fühlte ich mich auch ungerecht behandelt. Aber so ist das Leben, wenn man sich mit einem Werk in die Öffentlichkeit begibt. Dies scheint der Choreograph Marco Goecke allerdings anders zu sehen, der sich nicht verbal oder publizistisch wehrte, sondern der FAZ-Ballettkritikerin Wiebke Hüster den Kot seines Dackels ins Gesicht schmierte. Zwischen Künstler und Kritikerin mag sich über die Jahre ein Spannungsfeld aufgebaut haben, doch wer wie Marco Goecke handelt, begibt sich selbst ins gesellschaftliche Abseits. Die mühsamen Versuche mancher Zeitgenossen, ‚feinsinnig‘ zwischen Goeckes üblem Angriff auf eine Journalistin und seinem künstlerischen Schaffen zu unterscheiden, führen in die Irre. Wer Hundekot für ein Argument hält, der verlässt den Diskurs in einer freiheitlichen Gesellschaft und diskreditiert sein choreographisches Wirken. Es kann und darf nicht sein, dass Goecke weiter in Institutionen arbeitet, die mit Steuergeldern bezuschusst werden. Hundekot ins Gesicht einer Kritikerin oder jedes anderen Menschen zu schmieren – das geht gar nicht und die Reaktion muss über die Entlassung als Ballettdirektor der Staatsoper Hannover hinausgehen.

Grüner Behälter für Hundekotbeutel mit einem schwarzen Hundegesicht auf gelbem Untergrund. Aufschrift "belloo".
Wer bringt eigentlich den Kot seines Hundes mit ins Theater, wenn, ja wenn er nicht bestimmte Absichten verfolgt? In Hannover dürfte es auch entsprechende Abfalleimer geben. (Bild: Ulsamer)

Ungeliebte Kulturkritik

“Wir hätten Dir Hausverbot erteilen lassen sollen, weil Du immer so schlimme, persönliche Dinge über mich schreibst“, schleuderte Marco Goecke wohl der FAZ-Kulturkritikerin Wiebke Hüster entgegen, ehe er einen Beutel mit dem Kot seines Dackels aus der Tasche zog, um diesen mit der offenen Seite der Journalistin ins Gesicht zu drücken und den Inhalt zu verschmieren. Wer so handelt, kann nicht mit Nachsicht rechnen, und eine laue Entschuldigung schafft die indiskutable Aktion auch nicht aus der Welt. Im Grunde hat Goecke nur das handgreiflich vollzogen, was die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses über die Kulturkritik sagte, die sie für überflüssig hält. Für Karin Baier ist die Kulturkritik „Scheiße am Ärmel der Kunst“ – wie sie im Deutschlandradio betonte. Ein Teil der sogenannten Kulturschaffenden scheint sich als Herrscherinnen und Herrscher in einer Feudalgesellschaft zu fühlen, in der sie tun und lassen können, was ihnen vorschwebt, und wer Kritik äußert, der bekommt seine Portion Hundekot ab oder wird schon mal von einem Bierglas getroffen. Letzteres berichtete Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung über ihre Erlebnisse als Theaterkritikerin. „Zwar bin ich, wie es einem Kollegen schon passiert ist, noch nie geschlagen worden. Aber als sich bei einer öffentlichen Premierenfeier im Schmuckhof des Münchner Residenztheaters der Intendant Martin Kušej schrankbreit vor mir aufpflanzte, um mich als ‚nicht erwünscht‘ des Ortes zu verweisen, da fühlte es sich fast so an. Jahre zuvor, noch unter Dieter Dorn, war am gleichen Ort ein Weißbierglas von der Terrasse auf mich heruntergefallen, verletzte mich gottlob aber nur am Arm. Als ich später erfuhr, dass ein Schauspieler das Glas mit Absicht auf mich geschmissen hatte, habe ich kurz mal geweint.“

Schwarzer zugeknoteter Hundekotbeutel am Scheibenwischer des rückwärtigen Fenster eines weißen Pkw.
Hundekotbeutel am Scheibenwischer: Der üble Scherz eines unfreundlichen Zeitgenossen oder ein Wurfgeschoss für die nächste Attacke? (Bild: Ulsamer)

Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit haben sich bei einigen Kulturschaffenden wohl zu einer unguten Melange verbunden. Ganz zu vergessen scheinen manche Damen und Herren oder eines anderen Geschlechts der Kulturschickeria, dass sie in subventionierten Häusern arbeiten. Der Steuerzahler als Geldgeber sollte sich nicht ins künstlerische Schaffen einmischen, und die Kunstfreiheit ist grundgesetzlich geschützt, aber zivilisatorische Mindestmaßstäbe müssen gerade auch in den Theatern unseres Landes gelten. Wenig hilfreich waren Goeckes Versuche, seine nicht zu tolerierende Hundekot-Attacke zu rechtfertigen, denn Hüster habe „schlimme, persönliche“ Kritiken geschrieben. „Ich habe das noch einmal im Archiv recherchiert: In einem Zeitraum von 17 Jahren habe ich neun Mal in der ‚FAZ‘ über Stücke von Marco Goecke geschrieben“, so Wiebke Hüster. „Von diesen neun Kritiken waren zwei überschwänglich positiv. Da kann man nicht sagen, dass ich ihn in einem Zeitraum von 17 Jahren mit negativen Berichterstattungen verfolgen würde. Das ist eine Legende.“ Gewiss hat Hüsters jüngster Artikel über Goeckes Arbeit mit dem Nederlands Dans Theater dem Choreographen nicht gefallen, doch Kritik gehört zu einer freien Gesellschaft: „Bloß wirkt das Stück so, als wären dem hinter der Scheibe sitzenden Meeresbeobachter die Trolle durch seine Aufzeichnungen geritten und hätten Goecke die zerfetzten Fragmente hinterlassen mit der Drohung, sie ja nicht sinnvoll in eine Reihenfolge zu bringen. Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht.“ Doch Hüster fand auch positive Ansätze: „Zugegeben, Marco Goeckes Bewegungssprache hat sich in den vergangenen Jahren erweitert, das krass getaktete, wie abgeklemmte Tanzen, die Gänge, bei denen die Arme an den Körper geklebt sind wie eingezogene Hundeschwänze, die sprechenden, fuchtelnden, aberwitzigen oder tragischen Soli, die zusammenklatschenden Bäuche der Duettierenden, all das ist toll.“ Und da taucht das Wort „Hundeschwänze“ auf: Hatte sich Goecke schon vorbeugend mal mit dem Hundekot bewaffnet? Denn wer nimmt schon Hundekot mit ins Theater? Kritik mag auch scharf sein, doch der Griff zum Hundekotbeutel geht allemal nicht. Oder fühlte er sich von Goethe angeregt, der 1774 in seinem Gedicht ‚Rezensent‘ schrieb: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ Nun gut, Johann Wolfgang von Goethe hätte sicherlich nicht zugeschlagen und gewiss keinen Hundekot ins Theater mitgebracht. Marcel Reich-Ranicki schreibt dazu: „Der Dramatiker Heinrich Leopold Wagner, den vor allem die Tragödie ‚Die Kindermörderin‘ bekannt gemacht hat, publizierte ein Gegengedicht, das mit den Worten endet: ‚Schmeißt ihn todt, den Hund.‘“

Lila Beutel mit Hundekot am Sandstrand. Eine Neblkrähe steht daneben.
Hundekotbeutel am Strand! Da rümpft diese Krähe dann doch die Nase. Aber die volle Tüte auch noch ins Theater mitnehmen? (Bild: Ulsamer)

Angriff auf Pressefreiheit

Diese bedrückende und bewusst entwürdigende Attacke mit Hundekot auf Wiebke Hüster ist auch ein Angriff auf die Pressefreiheit. Die Intendantin Laura Berman versuchte in Hannover eher, sich in den Täter einzufühlen, als klare Worte zur Bedeutung der Tat zu finden. „Wer wie Laura Berman nicht fähig ist, in dem Angriff auf die FAZ-Kritikerin eine Attacke auf die Pressefreiheit zu sehen, hat offenbar nicht verstanden, was am Samstag in der Staatsoper passiert ist. Journalist*innen leben wie Künstler*innen von der Meinungsfreiheit, wer darauf mit Gewalt reagiert verlässt den demokratischen Konsens“, betont Dr. Frank Rieger, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands in Niedersachsen. Selbst die American Theatre Critics Association (ATCA) befasste sich mit dem Vorfall: „A critic should be able to do her job without the fear of physical altercation, and artists working at the highest levels of their profession should understand and respect the role of the critic within the ecosystem of the performing arts.“ Ja, jede Kritikerin und jeder Kritiker sollte seinen Beruf ohne Angst vor körperlichen Angriffen ausüben können. Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen, wären da nicht die Versuche, abzuwiegeln.

Wegen Corona mit einem rot-weißen Band abgesperrter Sportplatz. Vorne im Bild ein roter Hundekotbeutel.
Hoffentlich macht Marco Goeckes Attacke nicht auch in anderen Lebensbereichen Schule! (Bild: Ulsamer)

Marco Goecke hat intensive Verbindungen nach Stuttgart, wo er lange Jahre für das Ballett am Staatstheater arbeitete. „Hier war er von 2005 bis 2017 Hauschoreograf. Seit 2018 arbeitet Goecke regelmäßig mit der Stuttgarter Tanzcompagnie von Eric Gauthier zusammen.“ Laut SWR betonte Gauthier Dance zum Angriff auf die Kulturkritikerin: „Die Tat steht allerdings aus jetziger Sicht nicht im Zusammenhang mit Marco Goeckes Arbeit als ‘artist in residence’ im Theaterhaus Stuttgart.” Da mag ich nun wirklich nicht folgen, schon gar nicht, wenn diese Balletttruppe jährlich vier Millionen Euro an öffentlichen Geldern von Stadt und Land vereinnahmt. Wo Goecke die FAZ-Ballettkritikerin attackierte, das ist ja wohl gleichgültig: Selbstverständlich muss die Zusammenarbeit beendet werden! Später wurde nachgeschoben, der Vertrag ende ohnehin in diesem Sommer. Es wäre Gauthier Dance gut angestanden, die Kooperation sofort zu beenden! Auch im Stuttgarter Kunstministerium drückte man sich um klare Aussagen: „Wir befürworten ausdrücklich, dass diese (Gauthier Dance, Anm. d. Red.) das Gespräch mit Marco Goecke suchen werden. Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass das bereits bestehende choreographische Werk von Marco Goecke aufgrund seiner Tat nicht zur Disposition gestellt werden sollte.“ Welche Art Gespräch soll mit Goecke wohl geführt werden? Solche Floskeln tun dem freien Diskurs in unserer Gesellschaft nicht gut. Wie wäre wohl die Antwort des baden-württembergischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst ausgefallen, wenn Goecke den Hundekot nicht im Gesicht von Wiebke Hüster, sondern im Gesicht der grünen Ministerin Petra Olschowski platziert hätte?

Zwei gelbe Hundekotbeutel liegen auf einer Düne zwischen grünen Gräsern.
Nach eigenen Angaben kamen Marco Goecke Inspirationen für seine Choreographie ‚In the Dutch Mountains‘ beim Blick aufs Meer. Ich schaue auch gerne aufs Meer, die auflaufenden Wellen, die Weite des Ozeans, doch mir kommen da durchaus andere Gedanken. Vielleicht hat der Choreograph auch zu viele Hundekotbeutel am Strand gesehen? Ein Interview mit Goecke und Tanzszenen aus ‚In the Dutch Mountains‘ finden Sie hier. (Bild: Ulsamer)

Selbstredend dürfen die an den einzelnen Produktionen beteiligten Tänzerinnen und Tänzer nicht durch eine Absetzung seiner Choreographien in Sippenhaftung genommen werden, wenn der Choreograph eine Kulturkritikerin mit Hundekot angreift. Doch die Zusammenarbeit mit Marco Goecke muss zumindest von allen Theatern oder anderen Institutionen beendet werden, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Eine entwürdigende Attacke mit Hundekot auf eine Kulturkritikerin ist ein Angriff auf die Pressefreiheit und auf die Umgangsregeln in unserer Gesellschaft.

 

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Rund um einen Holzmasten liegen zahlreiche Hundekotbeutel mit Inhalt. Schwarz, gelb, rot, grün sind die Farben.Nur gut, dass Marco Goecke nicht an diesem Depot von Hundekotbeuteln vorbeikam. Wer weiß, was dann passiert wäre! Der Choreograph hätte jeden ‚bedienen‘ können, der nicht artig Beifall klatscht. Diese merkwürdige Art der Entsorgung habe ich im Nationalpark Harz aufgenommen. (Bild: Ulsamer)

Frankfurt-Hahn – ein Flughafen im Tiefflug

Weitgehend menschenleerer Terminal, nur ganz hinten sind Fluggäste zu sehen.

Die rheinland-pfälzische Landesregierung hat versagt

Wenn man die Flüge eines Tages an zwei Händen und die Fluggesellschaften, die Passagiere befördern, an einer Hand abzählen kann, dann ist man am Flughafen Hahn im Hunsrück angelangt. Dieser nennt sich gerne Frankfurt-Hahn, doch mit dem großen ‚Bruder‘ hat er nun wirklich nichts gemein. Zuerst verscherbelte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer den ‚Hahn‘ an eine chinesische Briefkastenfirma ohne Geschäftsbetrieb, danach an HNA – gleichfalls aus China -, und schon landete der Airport in der Insolvenz. Und der Konkursverwalter Jan Markus Plathner verhökert ihn an die eigens gegründete Swift Conjoy GmbH, die allerdings zum vereinbarten Termin den Kaufpreis nicht überweisen konnte oder wollte. Ein Desaster reiht sich an das andere, und das spürten wir kürzlich wieder bei unserem Abflug vom Flughafen Hahn: wenige Passagiere, kaum Flüge, leerstehende Läden – und ein Flugzeug ohne Turbinen vor der Tür! Wir hatten aber Glück und stiegen bei Ryanair ein, wo es nicht am Antrieb fehlte, sondern nur am Mineralwasser. Nun gut, man kann nicht alles haben, wenn man im Hunsrück ins irische Kerry startet. 30 Jahre zivile Luftfahrt auf der ehemaligen US-Luftwaffenbasis sind keine Erfolgsgeschichte, die Turbulenzen haben sogar noch zugenommen!

Bildschirm im Terminal mit der Schrift "frankfurt hahn airport - WIR KÖNNEN FLUGHAFEN".
„Wir können Flughafen“, heißt es auf den Bildschirmen des Flughafens Hahn. Das mag sein, doch die rheinland-pfälzische Landesregierung unter Malu Dreyer hat die Chancen nicht aufgegriffen, sondern den Airport im Hunsrück gleich zweimal an chinesische Unternehmen verscherbelt, die leider nur als Flop bezeichnet werden können. Die chinesische HNA ließ nach dem Kauf in den Terminals schon mal chinesische Tanzgruppen und Schriftzeichen über die Bildschirme huschen, doch dies dürfte kaum für mehr Andrang bei den Fluggästen gesorgt haben. (Bild: Ulsamer)

Zwei Fehltritte mit chinesischen ‚Investoren‘

Wo der Staat im Wirtschaftsleben mitmischt, klappt meist wenig. Das sieht man nicht nur bei der traurigen Entwicklung des Flughafens Hahn, sondern beispielsweise auch bei der Deutschen Bahn und so manchem anderen Unternehmen. Im Hunsrück wird die Tragik politischer Unvernunft gepaart mit wirtschaftlicher Unkenntnis hautnah erlebbar, vor allem dann, wenn man den Flughafen fast von der ersten zivilen Stunde an kennt. Es ist natürlich kein Zuckerschlecken, aus einem reichlich vergammelten Konglomerat von Gebäuden und einer Landebahn für Düsenjets im wirtschaftlichen Nirgendwo einen Flughafen zu entwickeln, der die ganze Region beflügeln soll. An dieser Stelle möchte ich nicht nochmals das Versagen der Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und Hessen im Detail schildern, da ich das bereits in zwei Blog-Beiträgen getan habe, zuletzt in: ‚Flughafen Frankfurt-Main: Malu Dreyer und die Freier aus China‘. Mit grenzenloser Naivität verscherbelten Malu Dreyer & Co. den ‚Hahn‘ gleich zweimal nach China und läutete den Niedergang damit ein: Zuerst wurde eine Briefkastenfirma auserkoren, die über keinerlei Geschäftsbetrieb verfügte – SYT aus Shanghai -, aber dort immerhin einen Briefkasten aufgehängt hatte.

Ein weiß-blaues Frachtflugzeug vor einem Terminal. Ds Triebwerk fehlt.
Wir Passagiere durften wieder – im Sinne des Songtextes von Frank Ramond „Zum Flieger ging’s zu Fuß“ – einen Marsch durch den Schnee absolvieren, erspart blieb uns „den letzten Rest geschwommen“.  Dafür parkte direkt vor dem Terminal dieses leicht lädierte Flugzeug. Und daneben eine verschneite Frachtmaschine. Wer kommt eigentlich auf eine solche Platzverteilung? (Bild: Ulsamer)

Aus Fehlern kann man lernen, allerdings ist das wohl nicht die Stärke der rheinland-pfälzischen Landesregierung. Auf den ersten Fehlgriff folgte der Verkauf an den Mischkonzern HNA, der zügig in die Pleite schlitterte. In China, dem Reich kommunistischer Funktionäre und kapitalistischer Milliardäre, wurden sogar HNA-Vorstandsmitglieder inhaftiert. Deutsche Steuergelder flossen in dreistelliger Höhe in den Flughafen mit Potenzial, doch nicht nur diese Finanzmittel sind verloren, sondern auch hunderte von Arbeitsplätzen stehen seit Jahren auf der Kippe. Soll das eine zukunftsorientierte und innovative Regionalpolitik sein? Was ist bloß mit der rheinladpfälzischen Landesregierung los: Malu Dreyer lächelt und gewinnt Landtagswahlen, im realen politischen Handeln allerdings zeigen sich die Defizite mit aller Härte. Das bekamen auch die Menschen im Ahrtal zu spüren, die starben oder ihr Hab und Gut verloren, weil die Landesregierung und nachgeordnete Behörden bei einer gewaltigen Flutwelle nicht rechtzeitig Alarm schlugen und gefährdete Anwohner evakuierten. So ist das in Rheinland-Pfalz mit dem Führungspersonal: Was nutzen dramatische Videos von der Mannschaft eines Polizeihubschraubers aus der Flutnacht, wenn sie nicht sofort ausgewertet werden? Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) blieb noch im Oktober 2022 im Angesicht dieser Aufnahmen bei seiner Aussage, er habe am 14. Juli 2021 keine Katastrophenlage erkennen können. Da war der Rücktritt unausweichlich. Damit folgte er seiner früheren Kabinettskollegin Anne Spiegel (Bündnis90/Die Grünen), die nach der Flutwelle erst mal in Urlaub fuhr. Sie hatte sich zwar aus dem Umweltressort in Mainz nach Berlin abgesetzt, doch kaum zur Bundesfamilienministerin ernannt, musste sie gehen. Im Grunde hätte längst auch Malu Dreyer als Ministerpräsidentin ihren Hut nehmen müssen, bisher allerdings gelingt es ihr meisterhaft, zwar nicht ihr Land zu regieren, aber sich selbst ihr Pöstchen zu sichern!

Leere Schalter, wo früher Mietwagenfirmen saßen. Die Farben rot und grau.
Hier gab’s mal Mietwagen am Flughafen Hahn, der überwiegend auf der Gemarkung der Hunsrück-Gemeinde Lautzenhausen liegt. (Bild: Ulsamer)

Politische Verantwortung übernehmen

Ob ein Regionalflugplatz mit relativ wenigen Starts und Landungen überhaupt wieder durchstarten kann, weiß ich nicht, doch es wurden in drei Jahrzehnten viele Chancen von der Politik verspielt, den ‚Hahn‘ auf Erfolgskurs zu bringen. Vielleicht hätten die Landesregierungen in Rheinland-Pfalz und Hessen, das noch immer mit 17,5 % am Flughafen Hahn beteiligt ist, das Ruder herumwerfen und aus dem Areal einen Industrie- oder Gewerbepark entwickeln müssen. So soll nach Presseberichten unter den Interessenten weiterhin die Triwo AG sein, die sich mit der Projektentwicklung auskennt. Ihr Augenmerk könnte allerdings – wie beim früheren saarländischen Flughafen Zweibrücken – eher auf den Gewerbeflächen liegen. Ich selbst habe bei einem Projekt in Baden-Württemberg erlebt, wie schwer es ist, eine 100 Hektar große Fläche für ein Technologie- und Prüfzentrum zu finden. Dies ist zu guter Letzt gelungen, und wir landeten bei 500 Hektar, doch weiterhin gibt es Interessenten für Ansiedlungen im größeren Stil. Der ‚Hahn‘ verfügt über eine Genehmigung für Abflüge und Landungen rund um die Uhr, davon können andere Flughäfen nur träumen. Hätten die Landesregierungen in Hesen und Rheinland-Pfalz anders agiert, wäre u. U. der Großaktionär Fraport, der den Airport in Frankfurt betreibt, nicht von Bord gegangen. In den Jahren 2007 und 2008 brachte es der Flughafen Hahn jeweils auf fast 4 Mio. Passagiere, doch anschließend ging die Zahl der Fluggäste – lange vor der Coronapandemie – dramatisch zurück. Im Vor-Corona-Jahr 2019 verbuchte man am ‚Hahn‘ gerade noch 1,4 Mio. ankommende bzw. abfliegende Gäste.

Zwei Personen mit Handgepäck steigen die Treppe zum Flugzeug hoch. Auf der Seite der weißen Gangway steht 'Frankfurt Hahn Airport'.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Flughafen Hahn und allen Unternehmen, die sich im Umfeld angesiedelt haben, ist zu wünschen, dass wieder mehr Passagiere im Hunsrück abheben oder landen. (Bild: Ulsamer)

Wenn die Landesregierung schon auf die Karte ‚Flugplatz‘ gesetzt hat, dann hätte aus dem Hahn kein Wanderpokal werden dürfen. Nach zwei chinesischen ‚Käufern‘ soll jetzt sogar der russische Oligarch Wiktor Charitonin in den Startlöchern stehen, der sich den Nürburgring einverleibt hat. Ja, ja, der Nürburgring: Für Rennsportfans hat er einen guten Klang, doch unter dem damaligen SPD-Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD) hatte sich auch dieser zu einem Fass ohne Boden für über 300 Mio. Euro an Steuergeldern entwickelt. Seine Parteifreundin und Nachfolgerin, Malu Dreyer, hatte beim ‚Hahn‘ ebenfalls kein glückliches Händchen. Vielleicht sollte sie es ihrem Amtsvorgänger gleichtun und den Sessel der Ministerpräsidentin freimachen. Der ‚Hahn‘ wird seit Jahren heftig durchgeschüttelt, und der wahre Grund für diese Turbulenzen sind politische Fehler, die sich die Landesregierung unter Malu Dreyer seit 2013 zuschreiben lassen muss. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Flughafen Hahn, aber auch den Unternehmern, die sich im Umfeld engagiert haben, kann ich nur wünschen, dass der Airport im Hunsrück trotz der abgelegenen Lage noch eine Chance bekommt.

 

Weiß-blaues Flugzeug von Ryanair steht mit Gangway auf dem nassen Vorfeld.
Ohne die irische Fluggesellschaft Ryanair wäre in Frankfurt-Hahn längst das Licht ausgegangen. (Bild: Ulsamer)

 

Verschlossene Ladengeschäfte.
Der Leerstand in den Terminals am Flughafen Hahn lässt sich längst nicht mehr kaschieren. Es war ein gravierender wirtschaftspolitischer Fehler, dass die Fraport AG, die den Airport in Frankfurt betreibt und nach eigenen Angaben „an insgesamt 29 Flughäfen rund um den Globus beteiligt“ ist, ihre Anteile am ‚Hahn‘ abgegeben hat. Bei Fracht- und Passagierflügen hätte sich bei etwas gutem Willen eine interessante Kombination aus beiden Standorten ergeben können. Das Land Hessen und die Stadtwerke Frankfurt am Main halten eine Mehrheit am Flughafen Frankfurt und hätten zu dessen Entlastung – und der Anwohner – auf eine Kooperation setzen müssen. (Bild: Ulsamer)

 

Duty-Free-Bereich. Mehrere Regale in roter und grauer Lackierung sind mit kleinen Mineralwasserflaschen gefüllt.
Der Duty-Free am Flughafen Hahn läuft seit neuestem im Eigenbetrieb, und ganze Regale sind jetzt mit Mineralwasserflaschen gefüllt. Da habe ich noch gelacht, doch im Ryanair-Flugzeug gab es in der Tat keines zu kaufen! Hätten wir besser ein Fläschchen mitgenommen! (Bild: Ulsamer)

 

 

Windkraft: Aufgeblasene Backen, aber wenig Windenergie

Windkraftanlagen verteilt über verschiedene Felder und Grünland. Im Hintergrund ein Fernmeldeturm.

Baden-Württemberg hinkt hinter Regierungsverlautbarungen her

Verwunderlich ist es schon, dass in Baden-Württemberg kaum neue Windkraftanlagen errichtet werden, wo doch die Regierung aus Bündnis90/Die Grünen und CDU in ihrem Koalitionsvertrag verkündeten, man wolle in der Legislaturperiode von 2021 bis 2026 „die Voraussetzungen für den Bau von bis zu 1000 neuen Windkraftanlagen schaffen“. Bald bemerkte der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, dass sich das politische Lüftchen trotz kräftig aufgeblasener Backen nicht recht zum Antrieb weiterer Windrotoren nutzen ließ. So sollten es statt 200 nur noch 100 pro Amtsjahr werden. Doch selbst das auf die Hälfte reduzierte Ziel scheint im Moment in weite Ferne gerückt zu sein. Folgen wir den Zahlen der Bundesnetzagentur, dann wurden in Baden-Württemberg im Jahr 2022 gerade mal 13 Windkraftanlagen neu in Betrieb genommen. Und ganz nebenbei bemerkt: Vier Anlagen wurden rückgebaut. So sind im Grunde nur neun Windenergieanlagen im ganzen Bundesland hinzugekommen. Die Entwicklung der regenerativen Energiegewinnung hinkt somit in Baden-Württemberg weiter hinter den Erwartungen einer zunehmend umweltbewussten Bürgerschaft und den vollmundigen Erklärungen der Regierungsvertreter her. Kein Wunder, dass im eigenen Ländle – „The Länd“ laut Landesregierung – an selbst produziertem Strom deutlicher Mangel besteht und Transnet als Betreiber der Übertragungsnetze im Ausland Strom zukaufen muss, obwohl sich im Norden Deutschlands die modernen Windmühlen fleißig drehen: zusätzlich fehlt die Leitungskapazität!

Windkraftanlagen erheben sich aus einer grünen Waldfläche in den blauen Himmel.
Die von der grün-schwarzen Landesregierung propagierte Errichtung von Windenergieanlagen im Staatswald halte ich für einen Irrweg. Den Wäldern geht es ohnehin schlecht. (Bild: Ulsamer)

Die Flucht in den Wald ist ein Irrweg

Zweifellos ist Baden-Württemberg nicht das windreichste Bundesland, doch das ist nicht der Hauptgrund für den schleppenden Ausbau der Windenergie. Anfänglich konnten die Grünen die Schuld für die wenigen sich im Wind drehenden Rotoren den zögerlichen CDU-Vorgänger-Regierungen zuschieben, doch nun hält Bündnis90/Die Grünen bereits seit 2011 das Zepter in der Hand, und da sollte sich eigentlich längst der Wind gedreht haben. Fehlanzeige! Noch immer dauert die Genehmigungsphase rd. sieben Jahre, und so wurden 2022 lediglich 35 Windkraftanlagen genehmigt. Keiner weiß, ob sie alle realisiert werden, aber selbst im günstigsten Fall ist die Lücke zu den im Mai 2021 lauthals verkündeten 1000 Anlagen innerhalb der Legislaturperiode von fünf Jahren riesengroß. Ob sich die Konzentration auf landeseigene Waldflächen als Schlüssel zum Palast des Windes entpuppen wird, das wage ich zu bezweifeln. Im Grunde gehören Windkraftanlagen nicht in die ohnehin geschädigten Wälder, wobei ich vor allem an die breiten Zufahrtswege und die gewaltigen Fundamente aus Beton und Stahl denke. Weniger Einfluss auf die Natur hätten die Windenergiesysteme auf Ackerflächen, wo sich ohnehin als Folge intensiver Bearbeitung und dem Einsatz von Herbiziden, Pestiziden und Fungiziden oder der Gülleflut kaum noch ein fliegendes Insekt oder ein singender Vogel finden lässt. Hier könnte sich auch ein langfristiges Geschäftsfeld für die Landwirte eröffnen, wobei ich nicht nur an die Einnahmen aus der Pacht oder Gewerbesteueranteilen denke, sondern eher an EU-Agrarsubventionen für dauerhafte Biotope rund um die Türme bzw. Masten. Statt weitgehend nutzloser saisonaler Blühstreifen könnten hier langjährige Biotope entstehen, die auch als Trittsteine bei der Wanderung von Tieren dienen könnten.

Aufnahme aus einem Flugzeug. Die weißen Windkraftanlagen heben sich vor dem tiefblauen Meer ab.
Windparks im Meer machen nur Sinn, wenn endlich auch die Nord-Süd-Stromtrassen in Deutschland mit Nachdruck ausgebaut werden. Ohne ein innovatives und konsequent ausgebautes Stromnetz droht der Blackout! Beim Bau und Betrieb von Windparks auf See muss mehr Rücksicht als bisher auf die Tierwelt genommen werden – Stichwort: Schweinswale oder Delfine! (Bild: Ulsamer)

Wer Windparks vor der Küste oder in abgelegenen ländlichen Gebieten errichtet, der muss dafür Sorge tragen, dass der Strom zum Kunden in den urbanen und industriellen Ballungszentren fließt. Leistungsfähige Verbindungen zwischen Nord- und Süddeutschland lassen noch immer auf sich warten. Stromtransporte lassen sich vermeiden, wenn möglichst nah beim Verbraucher Solardächer und Windräder für den Strom sorgen. Doch hier treibt die Bürokratie üppige Blüten – wie nahezu überall in unserem Land. Auf dem Dach unserer Doppelhaushälfte wurden zügig PV-Module installiert, allerdings warten wir noch auf das Okay des Energieversorgers (EnBW), und mal sehen, wann der entsprechende Stromzähler kommt. Es fehlt nicht nur an Windkraftanlagen, sondern auch an Stromtrassen und Speichermöglichkeiten, woran die Bundesregierungen eine Mitschuld tragen: Da mag der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Einweihung eines Flüssiggasterminals eine „Deutschland-Geschwindigkeit“ erkannt haben, doch Eigenlob stinkt in diesem Fall besonders stark. Leider setzt sich in unserem Land die Behäbigkeit von 16 Jahren Angela Merkel (CDU) fort, was im Grunde kein Wunder ist, denn 12 Jahre war die SPD mit dabei und vier Jahre die FDP.

Mehrere Windkraftanlagen nut weißen Türmen und Rotoren. An den Spitzen der Rotoren rote Flächen- Vor den Anlagen grast eine Herde Schafe. Dazwischen einige weiße Silberreiher.
In Baden-Württemberg drehen sich zwar nicht sonderlich viele Windräder, doch eines der höchsten der Welt steht in Gaildorf, eine Stunde nordöstlich von Stuttgart. Der Turm bringt es auf 178 m, mit den Rotorblättern sind es knapp 250 m. Windkraft muss sich auch in der gesellschaftlichen Diskussion vermitteln lassen, da sollte die Höhe nicht immer ausgereizt werden. Dieses Windrad überragt somit den Stuttgarter Fernsehturm! Ohne einen sachgerechten Kompromiss zwischen dem technisch Machbaren und dem, was die Gesellschaft mehrheitlich mitträgt, wird der Windkraftausbau nicht dauerhaft vorankommen. Die im Bild gezeigten Windenergieanlagen stehen auf der Höhe über Eisenach, und sie passen ins Landschaftsbild – nicht nur wegen der Schafe und der Silberreiher. (Bild: Ulsamer)

Nicht nur reden – handeln!

In einem überbürokratisierten Land, wo sich der Bürger als Lakai des Staates mit dem Zusammentragen von Daten für die Grundsteuer beschäftigen muss, die in unterschiedlichen staatlichen Dateien längst vorhanden sind, da geht es folgerichtig auch bei regenerativen Energien mehr als zäh voran. Genehmigungshürden ließen sich schneller überwinden, wenn die Landesregierung oder Regierungspräsidien schlagkräftige Teams zusammenstellen würden, die kleinere Kommunen, teilweise nicht sehr leistungsfähige Landratsämter oder Vereine, die Bürgerwindräder bauen wollen, mit Sachwissen und Arbeitskraft unterstützen würden. Eine ‚Task Force Erneuerbare Energien‘  – wie in Baden-Württemberg – reicht nicht. Bei so manchem industriellen Projekt, das ich durch politische Kontakte vorangebracht habe, musste ich feststellen, dass teilweise die Ressourcen in der öffentlichen Verwaltung sehr begrenzt sind. Dies ist auch eine Folge falscher politischer Rahmensetzungen, die Behörden zwangsläufig aufblähen, doch schlagkräftiger werden sie dadurch nicht. Die Regulierungswut nimmt ihre Anfänge nicht in lokalen Amtsstuben, sondern im Bundestag, in Länderparlamenten und den jeweiligen Regierungen und gerade auch bei der EU. So beklagten sich die kommunalen und unternehmerischen Spitzenverbände in einem offenen Brief in deutlichen Worten beim baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann: „Die Zeit eines ungebremsten Draufsattelns bei Standards, Rechtsansprüchen und staatlichen Leistungszusagen ist vorbei. Wir brauchen einen Wandel hin zu einem modernen Zukunftsstaat mit verlässlichen und umsetzbaren Zusagen.“ Zurecht wenden sie sich gegen die Regulierungsflut, die letztendlich unser Land einzwängt, ja stranguliert, und die Bürger daran hindert, ihre wahren Kräfte zu entfalten. „Die Folge sind lähmende Behäbigkeit und ein empfundener Stillstand.“ Und dies zeigt sich auch bei der Windkraft, wobei andere Bundesländer die Sache bei gleichen Vorgaben des Bundes deutlich besser machen.

Das Schloss Baldern mit heller Fassade und rotem Ziegeldach umgeben von Windkraftanlagen.
In Baden-Württemberg drehen sich nur wenige Windräder, und selbst diese tragen häufig nicht gerade zur Verschönerung der Landschaft bei. Dies belegt ein Blick vom Ipf in Baden-Württemberg auf das Schloss Baldern bei Bopfingen. Ich frage mich schon, ob bei Planung und Genehmigung nicht bessere Standorte zu finden sind, die auch die Bereitschaft fördern, weitere Windkraftanlagen zu installieren. (Bild: Ulsamer)

In unserem Land – und das gilt für ganz Deutschland – gibt es zu viele Regulierer und zu wenige Kümmerer, die sich der Realisierung von Projekten konsequent annehmen. Dabei denke ich an Windkraftanlagen, aber auch an die Rheinschiene, wo die Ausbaupläne der Bahn noch nicht einmal im Schneckentempo vorankommen. Der Erweiterung der Schieneninfrastruktur fehlt in Deutschland jede Dynamik, so dass wir die deutschen Zulaufstrecken für den Gotthardtunnel der Schweiz, der bereits 2016 eröffnet wurde, bis heute nicht fertigstellen konnten. Und der Netzausbau für die Durchleitung des Windstroms von der Nordsee nach Süddeutschland hat ebenfalls einen Wackelkontakt. Ich bin mir der Probleme durchaus bewusst, die sich bei der Realisierung von Verkehrswegen oder industriellen Ansiedlungen stellen, doch ergeben sich nach meinen persönlichen Erfahrungen zumeist Lösungswege, wenn man mit großer Offenheit auf die Anwohner bzw. Betroffenen zugeht und gemeinsam das Projekt vorantreibt. Bürgerbeteiligung darf kein leeres Wort sein und sich auch nicht auf wenige Bürgerinnen und Bürger beschränken, wie es die baden-württembergische Landesregierung seit einiger Zeit propagiert. Bei der geplanten milliardenteuren Sanierung des Opernhauses in Stuttgart praktizierte die Landesregierung eine „dialogische Bürgerbeteiligung“, die auf noch nicht einmal 50 zufällig im ganzen Bundesland ausgewählte Teilnehmer begrenzt wurde. So wird echte Bürgerbeteiligung ausgehebelt und letztlich kein Frieden gestiftet, kein gesellschaftlicher Konsens erzielt, sondern Unfrieden und Politikverdruss geschaffen.

Windrotoren über einem abgeernteten Getreideacker, der gold-braun leuchtet.
Windkraftanlagen schaden der Natur am wenigsten, wenn sie auf landwirtschaftlichen Flächen errichtet werden, denn dort ist als Folge von Insektiziden und Pestiziden, Kunstdünger und Gülleflut die Artenvielfalt ohnehin schon geschwunden. Hier könnten dauerhafte Biotope rund um die Masten und Türme für Windrotoren sogar noch einen positiven Beitrag leisten. (Bild: Ulsamer)

Ohne den Ausbau der Windenergie in Baden-Württemberg ist die Energiewende nicht zu schaffen, es sei denn, man verlässt sich auf den Zukauf von regenerativ erzeugtem Strom. Dafür reichen jedoch die Stromnetze bei weitem nicht aus, wenn z. B. der Autoverkehr nahezu vollständig elektrifiziert werden soll. Die grün-schwarze Landesregierung muss ihre Anstrengungen vervielfachen, angesichts der selbst gestellten Ziele, die es zu erreichen gilt. Es ist nicht genug, wenn die Mitglieder der Landesregierung nur die Backen aufblasen, es muss jetzt innovativ und zukunftsorientiert gehandelt werden. Mit Johann Wolfgang von Goethe möchte ich ausrufen: „Der Worte sind genug gewechselt, Laßt mich auch endlich Taten sehn. Indes ihr Komplimente drechselt, Kann etwas Nützliches geschehn.“ Verschont uns mit Sonntagsreden – handelt jetzt!

 

Im Vordergrund gewaltige Bagger, die in dunkler Braunkohle graben. Im Hintergrund obethalb des Tagebaus Windrotoren.
Wir müssen die Erderwärmung aufhalten, und dies geht nur mit regenerativen Energien. Das Kohlezeitalter geht zu Ende, und ich hätte mir gewünscht, dass RWE nicht nur beim aufgelassenen Weiler Lützerath mehr auf Dialog und weniger auf die Kraft der Riesenbagger gesetzt hätte. (Bild: Ulsamer)

DB: Inkompetenz auf Schienen

Ein ICE - silberne Grundfarbe mit mehrfarbigen Streifen - fährt im Bahnhof Esslingen an einem gelb-weißen Nahverkehrszug vorbei.

Ein Tag mit der Chaos-Bahn

Trotz meiner jahrzehntelangen überwiegend negativen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn machten wir uns mit unseren Enkelkindern zu einem Ausflug auf, bei dem die DB nicht nur als Transportmittel eine Rolle spielen sollte. Wir wollten gemeinsam die kurz vor Weihnachten 2022 eingeweihte Schnellbahntrasse mit einem ICE befahren, die zwischen Wendlingen (nach Fertigstellung ab Stuttgart) und Ulm in Baden-Württemberg derzeit über 37 Brücken und durch 12 Tunnel führt. Doch um den Unterschied ‚erfahrbar‘ zu machen, benutzten wir zunächst die ‚alte‘ Trasse über die Geislinger Steige. Frohen Mutes machten wir uns vom wenig einladenden Bahnhof in Esslingen auf nach Ulm, vom Neckar an die Donau, um dort den historischen Spuren von der Steinzeit über das Mittelalter bis in die Neuzeit zu folgen. Da hätten wir noch nicht gedacht, welche Irrungen und Wirrungen die Bahn für uns auf einer gerade mal 63 Kilometer langen Strecke vorbereitet hatte!

Anzeigetafl am Bahnhof Esslingen mit blau-weißer Darstellung. Angezeigt werden zwei Züge nach Ulm, die am Bahnsteig 8 abfahren sollen. Diese Nummer wird auch auf einer gesonderten Tafel angezeigt.
Zwei falsche Angaben auf einer Informationstafel, das schafft die Deutsche Bahn problemlos. Die Fahrgäste wurden gleich zweimal zum falschen Gleis 8 gehetzt, doch die Züge der DB und von Go-Ahead fuhren am Bahnsteig 5 ab. (Bild: Ulsamer)

Die DB weiß nicht, wo ihre Züge abfahren

Kaum am Bahnhof in Esslingen angekommen, traf ich eine ältere, stark sehbehinderte Frau, die seit fast zwei Stunden auf ihren Zug wartete, der sie zur Augenklinik an der Universität Tübingen bringen sollte. Angesichts dieses Jammers wurde mir wie bei so vielen vorhergehenden Bahnreisen schon mal richtig mulmig, doch in unserem Fall war die DB nur ein Teil des Problems: Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) versuchte an diesem Morgen erneut, die Südwestdeutsche Landesverkehrsgesellschaft (SWEG) zu einem Tarifangebot zu zwingen. Claus Weselsky und seine Lokführer setzten wieder auf Guerillataktik: Ohne Vorankündigung wird gestreikt, gerne fahren Züge zwar los, enden aber an irgendeinem Bahnhof! Wenn sich eine solche Vorgehensweise durchsetzen sollte, dann gute Nacht Deutschland. Glücklicherweise waren unsere Tübinger Enkelkinder vorsichtshalber bereits am Vortag ‘angereist’.

E_Mail der #Deutschen Bahn Reisebegleitung' mit der veränderten Gleisangabe. Genannt wird Gleis 8, doch der Zug lief auf Gleis 5 ein - und entschwand ohne neue Passagiere.
Was soll man von der „DB-Reisebegleitung“ halten, wenn sie per Mail die Fahrgäste auffordert, zum Gleis 8 zu wechseln, wogegen der Zug dann doch am ursprünglich angegebenen Bahnsteig 5 anhält. Und die potenziellen Fahr-‚gäste‘ können ihn vor der Nase entschwinden sehen! Dazu noch die falsche Lautsprecherangabe! Nun gut, jeder macht mal Fehler, aber beim nächsten Zug das gleiche Schauspiel: Wieder quäkt der Lautsprecher und schickt die Möchte-Gern-Passagiere erneut in die Irre. (Bild: Ulsamer)

Doch jetzt zurück zur Deutschen Bahn: Brav hatten wir uns auf dem angegebenen Bahnsteig 5 eingefunden, wo wir nicht allein waren. So soll es ja auch sein. Plötzlich quäkte es aus dem Lautsprecher: Heute fahre der Regionalzug auf Gleis 8 ein. Nun gut, der Bahnhof in Esslingen ist recht übersichtlich, daher gings mit geschwinden oder langsameren Schritten auf den nächsten Bahnsteig. Für alle, die schlecht hören, aber gut lesen können, erreichte mich auch noch eine Mail mit dem „geänderten Abfahrtsgleis“. So warteten wir am Gleis 8, als ein Mitreisender am ursprünglich genannten Bahnsteig einen Regionalzug einfahren sah – mit dem Ziel Ulm. Schnell setzte sich die Erkenntnis in der wartenden Menge durch, dass die Bahn wohl nicht wisse, wo ihre Züge einfahren. Jung und Alt machten sich nun eilends auf – zurück zu Gleis 5. Um es kurz zu machen: selbst potenzielle Passagiere der jüngeren Altersgruppen schafften es nicht mehr rechtzeitig, und unser RE 5 entschwebte vor unser aller Augen. Eine Alternative ließ sich finden, ein Bummelzug von Go-Ahead, der an allen nachfolgenden Bahnhöfen stoppen würde, fand sich im Fahrplan. Da war sie wieder, die schnarrende Stimme, die über Lautsprecher verkündete, dieser Metropolexpress würde uns heute am Gleis 8 abholen. Zweifelnde Blicke allüberall, doch die Hoffnung stirbt zuletzt, also nochmals die zahlreichen Treppen runter und wieder rauf. Und nun: wir wollten es kaum glauben, der ‚MEX‘ fuhr ein, allerdings wieder auf Gleis 5. Einmal mehr legten alle – soweit möglich – wiederum an Tempo zu, und die Jüngeren blieben auf Bitten der nicht mehr so fußstarken Mitreisenden in der Tür des Zuges stehen, um auch älteren Menschen mit Stock noch eine Chance zur Mitfahrt zu eröffnen. Darauf erklang wieder eine Stimme, man solle die Türen freigeben. So ist das mit dem Kundenservice bei der Bahn: Fahrgäste in die Irre schicken und dann noch meckern!

Tafel am Bahnhof 'Gingen (Fils)'. Daneben ein recht vergammeltes Gebäude mit Graffiti.
Kostenlose Landeskunde: Statt mit einem Regionalzug ging’s dank falscher Informationen der Deutschen Bahn mit der Go-Ahead- ‚Bimmelbahn‘ von Esslingen nach Ulm. An jedem Bahnhof hielt der Zug und gewährte schöne Aussichten. (Bild: Ulsamer)

Kostenlose Geografiestunde in der Bimmelbahn

Endlich im Zug, begann für viele Mitreisende die Suche nach neuen Anschlussmöglichkeiten. Ein freundlicher Zugbegleiter half nach Kräften, doch im Grunde zeichneten sich für viele Fahrgäste lange Wartezeiten ab. Wer mit der Bahn unterwegs ist, der ist eben selbst schuld, dies scheint das Credo beim DB-Vorstand zu lauten. Wir hatten Glück und kamen lediglich eine halbe Stunde verspätet an. Für unsere Enkel begann eine unerwartete Lehrstunde in Geografie und Landeskunde, denn wer weiß schon, wo Salach, Urspring oder Beimerstetten liegen. Nur schade, dass in Süßen keine Schokolade gereicht wurde, und in Kuchen gingen wir auch leer aus. Aber Hauptsache, Ulm hatten wir trotz des Unvermögens der Deutschen Bahn nach einigen Trimm-Dich-Einheiten erreicht! Das Ulmer Münster, das Gotteshaus mit dem höchsten Kirchturm der Welt, entschädigte für die holprige Anreise. 1890 erreichte der Kirchturm seine endgültige Höhe von 161,53 Metern. Und gut, dass diese Kirche seit dem Mittelalter – von den Bürgern seinerzeit finanziert – von fähigen Baumeistern und Handwerkern errichtet wurde und bis heute erhalten wird. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wenn die Deutsche Bahn dafür zuständig gewesen wäre! Vermutlich würde dann immer noch am Fundament gewerkelt!

Eine bräunliche Skulptur, die einen Löwenkopf trägt, der Rest hat menschliche Formen.
Der Löwenmensch entstand vor rd. 40 000 Jahren in den Händen eines eiszeitlichen Künstlers oder einer Künstlerin. Beginnend 1939 wurden bis heute in der Stadel-Höhle 300 Teile bei archäologischen Grabungen gefunden und wieder zusammengesetzt. In der Steinzeit hatte der Löwenmensch als Mischwesen sicherlich kultische oder religiöse Bedeutung. Gefertigt wurde die 30 Zentimeter hohe Skulptur aus dem Stoßzahn eines Mammuts. Ein Besuch im Museum Ulm, wo die Skulptur zu sehen ist, lohnt sich auf jeden Fall. (Bild: Ulsamer)

Schon vor 40 000 Jahren waren Menschen auf der Schwäbischen Alb künstlerisch tätig: Ein Musterbeispiel für ihr Schaffen ist der Löwenmensch, der im Museum Ulm einem breiten Publikum präsentiert wird. Die 30 cm hohe Skulptur aus Mammutelfenbein hat mit dazu beigetragen, dass sechs Fundhöhlen von Eiszeitkunst zusammen zum UNESCO-Welterbe gehören: die Vogelherdhöhle, die Hohlenstein-Stadel-Höhle und die Bocksteinhöhle im Lonetal sowie Geißenklösterle, Hohle Fels und Sirgensteinhöhle im Achtal. Mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie in meinem Blog-Beitrag ‚Eiszeitkunst: Geschichts- und konzeptionslose Landesregierung. Baden-Württemberg ohne Gesamtstrategie für UNESCO-Welterbestätten‘. Nach einem Abstecher zum 2020 errichteten Berblinger Turm, der sich kühn mit einer Neigung von 10 Grad an der Donau erhebt und an den fehlgeschlagenen Flugversuch des „Schneiders von Ulm“ erinnert, sowie einer Stärkung ging’s zurück zum Bahnhof. Wir bestiegen den ICE 914 und erwarteten voller Spannung die Fahrt über die neue Schnellbahntrasse zurück nach Stuttgart. Geschichte und Gegenwart wollten wir bahntechnisch bei unserem Ausflug verbinden, denn die Geislinger Steige, über welche wir bei der Fahrt nach Ulm auf knapp sechs Kilometern 112 Höhenmeter überwanden, wurde bereits 1850 fertiggestellt. Nun sollte uns der ICE deutlich zügiger über die mit 85 Metern Höhe dritthöchste Eisenbahnbrücke Deutschlands nach Stuttgart bringen – leider Fehlanzeige! Zurück ging es wieder über die alte Strecke! Die Zugfahrt dauerte somit erheblich länger und die Anschlussverbindung nach Esslingen war weg. Aber die Bahn verschickt natürlich eine Mail, weil wieder nichts funktionierte: „Anschluss nicht erreichbar“! Na, ganz toll: erst eine andere Strecke fahren und dadurch natürlich zu spät ankommen. Und schon die nächste Mail: „Reparatur am Zug“. Das ist allerdings keine Erklärung dafür, warum der ICE die falsche Route nahm. Misstrauisch hatte mich am Morgen bereits die Nachricht gemacht, dass die Staatsanwaltschaft einem Betrugsverdacht nachgehe gegen am Bau der Filstalbrücke beteiligte Firmen. Diese sollen zu viel Geld für Material und Personal abgerechnet haben. Puuh – zumindest haben sie wohl nicht an Beton und Stahl gespart! Hoffentlich! Aber warum sind wir dann nicht über die neue Talbrücke gefahren?

Eine Brücke für die Schnellbahntrasse ist bereits über dem Filstal errichtet worden. Die zweite ist im Bau. Zahlreiche bunte Kranen.
Die Filstalbrücke (hier noch im Bau) ist mit 85 Metern über dem Talgrund die dritthöchste Eisenbahnbrücke in Deutschland. Kaum eingeweiht, kamen Polizei und Staatsanwälte bei am Bau beteiligten Firmen zu Besuch: Verdacht auf Fälschung der Bautagebücher! Da kann ich nur hoffen, so skurril dies klingt, dass nur zu viel Material abgerechnet und nicht zu wenig Beton und Stahl verbaut wurden. (Bild: Ulsamer)

Überkommene Strukturen aufbrechen

Glücklich ist, wer mit einem verspäteten ICE in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart überhaupt eintrifft und nur noch wenige Kilometer bis nach Esslingen zurücklegen muss. Dort findet sich fast immer eine  S- oder Regionalbahn, selbst wenn der geplante Zug längst abgedampft ist. Und so war es auch bei uns, nachdem wir durch den im Umbau befindlichen Stuttgarter Hauptbahnhof geeilt waren, der sich als Tiefbahnhof Stuttgart 21 seiner Fertigstellung nähert. Die Bauarbeiten hatten 2010 begonnen und umfassen den neuen Tiefbahnhof und die Schnellbahntrasse, die im Gegensatz zum Bahnhof inzwischen fertiggestellt ist und von Wendlingen bis Ulm befahren wird. Allerdings leider ohne uns. „Projekte wie die Strecke zwischen Wendlingen und Ulm sind entscheidend, weil sie zeigen, dass die Eisenbahn mehr als konkurrenzfähig ist und dadurch Menschen überzeugen können, dauerhaft auf die Schiene umzusteigen“, so der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Richard Lutz. Dann sollte die Bahn ihre Kunden aber auch über diese Strecke fahren lassen! Ob bei unseren Enkeln zwischen 9 und 15 Jahren unser kleiner Ausflug eine nachdrückliche Werbung pro Bahn für die nächste Urlaubsreise war, bezweifle ich. Trotz allem: Ich bin ein Befürworter des Ausbaus der Bahninfrastruktur, und darin schließe ich auch Stuttgart 21 mit ein. Bereits vor Baubeginn hätte bei Architektur und Planung darauf geachtet werden müssen, dass die Realisierung nicht 15 Jahre oder mehr benötigt. Nach der Volksabstimmung von 2011, die im ganzen Land, sogar in Stuttgart selbst, zugunsten des Bahnprojekts ausging, engagierte sich der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann durchaus für Stuttgart 21, doch einige Ewiggestrige besetzen noch heute ihr Protestzelt und fordern eine Umwidmung der Tunnel und des Tiefbahnhofs. Bei den Gegnern des Projekts und den Verantwortlichen der Deutschen Bahn gibt es wohl durchaus ähnliche Einstellungen: Die Realität und das Machbare geraten aus dem Blick.

Ein langer Güterzug mit hellen Waggons fährt die Geislinger Steige hoch.
Am 29. Juni 1850 dampfte nach dreijähriger Bauzeit der erste Zug über die steile Strecke zwischen Geislingen und Amstetten auf der Schwäbischen Alb. Die Schnellbahntrasse zwischen Stuttgart und Ulm bringt beim ICE eine deutliche Verkürzung der Fahrzeit, allerdings erst nach der Fertigstellung des neuen unterirdischen Durchgangsbahnhofs in Stuttgart. (Bild: Ulsamer)

Ein Tag mit der Deutschen Bahn eröffnet den Blick ins Chaos! Ich möchte mir wirklich nicht vorstellen, was in der Automobilindustrie passieren würde – wo ich lange tätig war -, wenn dort genauso wie bei der Bahn gearbeitet würde. Komplette Fahrzeuge würden wohl nur selten zum richtigen Zeitpunkt vom Band laufen. Vermutlich hätten Carl Benz und Gottlieb Daimler das Auto noch nicht einmal erfunden, wenn sie im Auftrag der DB tätig gewesen wären. Ich bin mir bewusst, was es heißt, ein bundesweites Netz am Laufen zu halten. Aber leider hat sich die Lage in den letzten Jahrzehnten nicht verbessert. Dies liegt am zögerlichen Ausbau der Bahninfrastruktur, und dafür tragen gerade auch die Bundesregierungen eine maßgebliche Schuld. Es werden jedoch nicht einmal relativ einfache Verkehre gemeistert, was unser überschaubares Vorhaben gezeigt hat. 2021 kamen nur 75,2 % der Fernzüge der Deutschen Bahn pünktlich ins Ziel. Im November 2022 waren es nach Angaben der DB nur noch 61,1 %.

Anzeigetafel im ICE. ICE 914 und 70 km/h werden angezeigt.
Gebucht hatten wir einen ICE, der nach den Zeiten des Fahrplans eindeutig die neue Trasse nehmen musste, doch zurück fuhren wir wieder über die Geislinger Steige von 1850. Da hätten wir für den halben Preis auch den Regionalzug nehmen können. (Bild: Ulsamer)

Es ist mir rätselhaft, wie es mit der jetzigen Organisations- und Infrastruktur gelingen soll, deutlich mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, sowohl beim Personen- wie beim Güterverkehr. Wettbewerb belebt das Geschäft, so heißt es, aber dies trifft nur zu, wenn technologisch und wirtschaftlich leistungsfähige Unternehmen einsteigen. So mancher auch von der Politik gepuschte Konkurrent hat schnell wieder aufgegeben. Daher bleibt im Grunde nur ein Wandel der Kultur und Organisation bei der Deutschen Bahn. Ob der jetzige Vorstand und der Aufsichtsrat richtig besetzt sind, das wage ich nach der kürzlichen Performance zu bezweifeln. Die politischen Mandatsträger und Gewerkschaftsvertreter (einschließlich der Betriebsräte) dominieren den Aufsichtsrat, dem es nicht gelungen ist, den Vorstand so zu besetzen, dass vollmundige Strategien auch in praktisches Handeln umgesetzt werden. Wenn es bei einem Unternehmen partout nicht gelingt, den Kunden planmäßig ans Ziel zu bringen, dann müssen Strukturen und Personal verändert werden! Die Deutsche Bahn – genauso wie die Bundeswehr – brauchen mehr Geld für die Infrastruktur, dies verbindet beide Organisationen, und was beiden fehlt, sind zukunftsfähige Entscheidungsstrukturen. Die Inkompetenz auf Schienen muss entschlossenem Handeln, der Bereitschaft zur Innovation und mehr Kundenfreundlichkeit weichen. Ansonsten enden die Chaos-Tage bei der Deutschen Bahn nie!

 

Anzeigetafel im Ulmer Hauptbahnhof mit 'geänderter Wagenreihung'.
Ob bei der Deutschen Bahn hin und wieder ein Zug vorfährt, bei dem alles wie geplant stimmt? Nun gut, eine geänderte Wagenreihung erleichtert das Einsteigen im richtigen Wagon nicht, doch es hat uns auch schon noch schlimmer erwischt: Die reservierten Sitzplätze waren überhaupt nicht zu finden, weil der Wagon schlicht fehlte! (Bild: Ulsamer)

 

Das Ulmer Münster erhebt sich über den Markt mit einem Blumenstand.
1377 wurde im römisch-katholischen Ulm an der Donau der Grundstein für das Münster gelegt. 1530 protestantisch geworden, erreichte der Kirchturm erst 1890 seine endgültige Höhe von 161,53 Metern. Bis heute hat das Ulmer Münster somit den höchsten Kirchturm der Welt. (Bild: Ulsamer)

 

Anzeigetafel mit schwarzer Schrift auf weißem Grund. Der Zug nach Tübingen fällt aus. Streik der GDL-Zugführer.
Mehr Mitspieler im Bahnverkehr erhöhen nicht immer den Komfort, sondern auch die Risiken für den Fahrgast. Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) bestreikte zum Zeitpunkt der Aufnahme (4. Januar 2023) die SWEG. Diese Südwestdeutsche Landesverkehrs-GmbH gehört zu 95 % dem Land Baden-Württemberg, die restlichen Anteile den Landkreisen Sigmaringen und Zollernalb. 1962 wurde das Unternehmen gegründet, um zehn Strecken vor der Stilllegung zu bewahren, die eine private Gesellschaft betrieben hatte. 2021 wurde die in Insolvenz befindliche Abellio Rail Baden-Württemberg übernommen. Die GDL will nun einen einheitlichen Tarifvertrag für die gesamte SWEG erzwingen. Viele kleinere Betreiber machen es für den Bahnkunden nicht unbedingt einfacher. (Bild: Ulsamer)

Stuttgart: Keine Mehrheit für milliardenteure Opernsanierung

Opernhaus in Stuttgart. Gebaut aus bräunlichem Gestein. Im Vordergrung ein kleiner See mit Fontäne.

Volksabstimmung sollte Klarheit bringen

Was passiert, wenn sich Politiker immer weiter von der Meinung der Bürgerschaft entfernen, das kann man derzeit in Stuttgart bei der Diskussion um die Sanierung und Erweiterung des Opernhauses deutlich erkennen: Die Vertreter der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg halten stur am Milliardenvorhaben fest, obwohl eine vom Bund der Steuerzahler in Auftrag gegebene Umfrage in Stadt und Land eine Dreiviertelmehrheit für eine Neuplanung ergeben hatte. Zur Besinnung und Neuorientierung scheint die Politik bisher aber nicht bereit zu sein. Verwunderlich ist das nicht, weil es die politischen Entscheider auch mit der Bürgerbeteiligung bisher nicht ernstgenommen haben: Eine breite Bürgerbeteiligung wurde durch Gesprächsrunden mit 50 zufällig ausgewählten Bürgern ersetzt! Wer so handelt, der vertritt eine Vorstellung von Demokratie, die nicht die meine ist. In einem industriellen Großprojekt habe ich selbst erlebt, wie wichtig und friedensstiftend es ist, alle interessierten Bürgerinnen und Bürger in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Miteinander zu reden statt übereinander, das hilft allemal! Das Opernhaus in Stuttgart muss saniert werden, dies ist für mich keine Frage, denn Politik und Verwaltung haben das denkmalgeschützte Gebäude über Jahre vergammeln lassen, doch in Krisenzeiten müssen ein Interimsgebäude, ein Erweiterungsbau oder eine Kreuzbühne, die in den historischen Bestand eingreift, auf den Prüfstand!

Seitenansicht der Stuttgarter Staatsoper, die 1912 fertiggestellt wurde.
Für fragwürdig halte ich es, das seit 1912 erhaltene Äußere des Gebäudes von Max Littmann für die Installation einer Kreuzbühne aufzubrechen. Die Fassade soll um rd. zwei Meter in Richtung Landtag verschoben werden. An anderen Stellen zeigt sich der Denkmalschutz widerspenstiger: In der früheren Villa des Künstlers Otto Herbert Hajek auf dem Hasenberg ruhen Umbauarbeiten seit 12 Jahren, da sich der Denkmalschutz und der Besitzer nicht über die Umgestaltung – z. B. der Böden – einigen können. Doch wenn Stadt und Land für die Kreuzbühne trommeln, dann verstummen die Denkmalschützer! (Bild: Ulsamer)

Dreiviertel der Bürger für Neuplanung

Politische Entscheidungsprozesse dauern in Deutschland viel zu lange, und die Umsetzung der Bau- oder Sanierungsvorhaben führen danach im Regelfall zu Kostenexplosionen. Beides trifft auch auf die Sanierung des Opernhauses zu, denn die Kosten werden – trotz eines Puffers – nicht bei der prognostizierten Milliarde verharren, sondern eher bei 1,5 Mrd. Euro oder mehr landen. Können solche Ausgaben einfach durchgewinkt werden, obwohl gleichzeitig der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann dazu rät, statt zu duschen lieber zum Waschlappen zu greifen? Sparsamkeit wird uns Bürgern gerne angeraten, nicht nur bei Energie und Wasser, doch nicht wenige Politiker greifen für sich selbst ins Volle. Als es um die eigene Alterssicherung in Zeiten der von der Europäischen Zentralbank durchgesetzten Nullzinspolitik ging, entschieden sich Bündnis90/Die Grünen, CDU und SPD im baden-württembergischen Landtag für ein einträglicheres Versorgungswerk und gegen die Mitgliedschaft in der staatlichen Rentenversicherung, die man für unsereins als ausreichend ansieht. Vom baden-württembergischen Landtag haben die Abgeordneten einen ausgezeichneten Blick auf das Gebäude von Max Littmann aus dem Jahre 1912, das Oper und Ballett beheimatet. Und wenn das Herz der Politiker für die Kultur schlägt, dann ist dies zu begrüßen, doch sollte die finanzpolitische Realität nicht aus den Augen verloren werden. Die grün-schwarze Landesregierung winkte die gewaltigen Kosten für das Opernprojekt durch, wobei die CDU-Landtagsfraktion nicht nur grummelte, sondern den angepeilten Finanzrahmen bis heute in Frage stellt. Da soll schon mal das Wort gefallen sein, dies sei eine Sanierung mit ‚Goldrand‘. Im Gemeinderat gab es eine breite Zustimmung zur Opernsanierung, sodass man mit kritischen Anmerkungen flugs in die AfD-Ecke gerückt wurde. Eine selbsternannte Kulturschickeria und ihre weniger kultivierten Gesinnungsgenossen versuchen so, kritische Einwände möglichst schnell verstummen zu lassen. Diese durfte auch ich erleben, nachdem ich mich im November 2019 der fragwürdigen Sanierungsplanung in meinem Blog-Beitrag ‚Stuttgart: Erst vergammeln lassen, dann teuer sanieren‘ angenommen hatte.

Dem Bund der Steuerzahler ist es in einer solchen politischen Gemengelage hoch anzurechnen, dass er bei Civey im September/Oktober 2022 eine Befragung in Auftrag gab, die rd. 2000 Bürgerinnen und Bürger über 18 Jahren einbezog. „Sollte die Sanierung der Staatsoper in Stuttgart Ihrer Meinung nach neu geplant werden, weil sie mit Steuergeldern in einer Höhe von über einer Milliarde Euro zu teuer ist?“ Auf diese Frage antworteten 77, 1 Prozent der Befragten aus Baden-Württemberg mit ja und sprachen sich für eine Neuplanung der Sanierung aus. In Stuttgart fiel das Ergebnis ähnlich aus: 74,2 Prozent der Befragten stimmten für eine Überprüfung der Planung. Das Votum ist mehr als eindeutig, doch Landesregierung und Gemeinderat scheint das nicht zu stören. Wäre hier nicht eine Volksabstimmung auf der Tagesordnung? Diese fürchten die Grünen allerdings wie der Teufel das Weihwasser, denn sie propagierten die direkte Einbeziehung der Bürgerschaft in die Entscheidungsfindung nur bis zu ihrer Niederlage beim Ringen um Stuttgart 21 – einem Tiefbahnhof mit Schnellbahntrasse zwischen Stuttgart und Ulm. Wenn immer mehr Mitbürger nicht wissen, ob sie heizen oder Nahrungsmittel einkaufen sollen, dann gehören alle staatlichen Ausgaben zwingend auf den Prüfstand!

Gebäude der Staatsoper in Stuttgart bei Nacht. Einzelne Lampen schaffen etwas Helligkeit. Davor funkeln sie im Eckensee.
„Die Staatsoper Stuttgart zählt zu den bedeutendsten europäischen Opernhäusern und ist Teil des größten Mehrspartenhauses Europas“, so heißt es in der Selbstdarstellung der ‚Staatstheater Stuttgart‘. Und selbstredend sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Oper und des Balletts in einem entsprechenden Rahmen proben und auftreten können. Ich hätte mir allerdings einen kritischeren Blick auf die einzelnen Maßnahmen gewünscht, denn der häufig benutzte Begriff Sanierung trifft das Vorhaben unzureichend. (Bild: Ulsamer)

Kein Wünsch Dir was

Der 110 Jahre alte Littmann-Bau wurde zwar im Laufe der Jahrzehnte immer mal wieder im Innern umgebaut, doch an der Fassade, sprich dem Gesamtensemble, hat sich bisher niemand vergriffen. Genau dieses aber ist jetzt Teil der sogenannten Sanierung der Oper: Für eine Kreuzbühne soll sogar eine Fassade verschoben werden. In meinem Berufsleben habe ich nicht selten mit Denkmalschützern um unscheinbare Mäuerchen aus der Nachkriegszeit gerungen, die man nur mühselig in der Landschaft finden konnte, daher verwundert es mich schon, dass beim Opernhaus plötzlich alles erlaubt zu sein scheint. So hat der Littmann-Bau zwar den Zweiten Weltkrieg überstanden, doch der Respekt der Kulturpolitiker vor diesem historischen Gebäude ist wohl dahingeschmolzen. Hände weg von der äußeren Gestaltung des Stuttgarter Opernhauses!

Nicht nur die grüne Gemeinderatsfraktion liebäugelt in Stuttgart mit einem zusätzlichen Konzerthaus in der Nähe der Liederhalle und scheint auch von einer Teilbebauung des Stadtgartens nicht zurückzuschrecken. Statt jedoch ein solches Konzerthaus mit einer Interimslösung für das Opernhaus zu verschmelzen, hallt es unverdrossen durch manche Kulturkreise, man könne doch keine Oper in einem Konzerthaus veranstalten. Und wer das nicht einsehen möchte, der ist natürlich ein ‚Kulturbanause‘. Selbstverständlich müssen Kulissen untergebracht werden, und schon hat man das nächste Thema: die jetzige Behausung – ein Betonmonster – reicht nicht aus, mehr Platz muss her. Manchmal erweckt dieses Thema den Eindruck, es gehe in der Politik nicht um die finanzielle Machbarkeit, sondern um ein Wünsch Dir was einiger Kulturschaffender bzw. deren bürokratischer Vertreter. Da knausern Politiker gerne mal bei der Förderung der Kleinkunst oder lassen im öffentlichen Raum präsente Werke wie die Kunstinstallation Villa Moser verfallen, doch ab einer Milliarde Euro scheint die Kritikfähigkeit ausgeschaltet zu sein. Wer in diesen Sphären Bedenken äußert, der wird wohl zur nächsten Premiere nicht mehr eingeladen.

Reste der Kunstinstalllation Villa Moser. Beton ist mit Graffiti verschmiert, unter einem Vorsprung hat ein Obdachloser sein Lager aufgeschlagen. Die Stege sind nicht mehr begehbar.
Kunst ist nicht nur in der Staatsoper Stuttgart zu erleben, sondern auch an vielen anderen Orten. Aus den Resten der Ruine der Villa Moser, die im späten 19. Jahrhundert einem Schokoladenfabrikanten gehörte, und den Überbleibseln des englischen Landschaftsgartens gestaltete der Architekt Hans-Dieter Schaal 1993 zur Internationalen Gartenbauausstellung eine Kunstinstallation, die über Stege und Treppen das Areal des Leibfriedschen Gartens zugänglich machte. Leider folgten auf den Kunstimpuls traurige Jahre des Zerfalls, da der Gemeinderat mit einem Budget für die Instandhaltung geizte. Einige neue Holzlatten am oberen Aussichtspunkt, die wohl durch die mediale Berichterstattung initiiert wurden, ändern an der desolaten Gesamtlage leider nichts. Mehr dazu in meinem Blog-Beitrag ‚Stuttgart: Villa Moser – Kunst- oder Endstation? Wer spät saniert, vergeudet Steuergelder – in Stuttgart genauso wie überall‘. (Bild: Ulsamer)

Echte Bürgerbeteiligung umgangen

Geld ist in unserer Welt nun mal endlich, gerade auch Steuergelder, die gerne durch Schulden, ‚Sondervermögen‘ (kreditfinanziert!) und Schattenhaushalte ausgeweitet werden. Den Haushalt zu genehmigen, dies zählt zu den höchsten Rechten im Landtag und im Gemeinderat, daher ist es an der Zeit, dass sich Abgeordnete auf allen Ebenen selbstkritisch mit den Budgets auseinandersetzen. Wer wie Olaf Scholz in Berlin eine Verdoppelung der Flächen für das Bundeskanzleramt für 777 Mio. Euro plant, in Esslingen nach nur 40 Jahren den ‚Altbau‘ des Landratsamts abreißen lässt oder eine Milliarde Euro (eher mehr) für eine ‚Opernsanierung‘ in die Hand nehmen möchte, der sollte sich mal bei Mitbürgerinnen und Mitbürgern einquartieren, die nicht mehr wissen, wie sie die Energiekosten aufbringen sollen oder mit ihnen am Tafelladen anstehen.

Eine ältere Villa. Fenster an der Garade sind zugenagelt. Bäume wachsen auf der Garage.
Reichlich sonderbar ist es, wenn der Denkmalschutz einerseits die Verschiebung einer Fassade am Opernhaus in Stuttgart aus dem Jahre 1912 mitträgt, andererseits aber die Innenrenovierung der Villa des Künstlers Otto Herbert Hajek gestoppt hat, da es u. a. Streit mit dem neuen Eigentümer um die Fußböden gab. Diese werden wir alle vermutlich – in welchem Zustand auch immer – nie zu Gesicht bekommen, den Littmann-Bau an prominenter Stelle im Stuttgarter Stadtbild sehen täglich tausende von Menschen. 12 Jahre gammelt die Hajek-Villa im Übrigen bereits vor sich hin! Nicht zu vergessen: die Villa Berg, 1853 fertiggestellt, einst vom damaligen Süddeutschen Rundfunk genutzt, wartet schon seit dessen Auszug sage und schreibe 23 Jahre umgeben von Bauzäunen auf eine neue städtische Nutzung. (Bild: Ulsamer)

Geradezu lächerlich ist es, wenn von der grüngeführten Landesregierung lautstark – wie jüngst von der grünen Kunstministerin Petra Olschowski – darauf verwiesen wird, man habe doch die Bürgerschaft in das Projekt einbezogen. Gerade mal 50 zufällig ausgewählte Einwohner des Bundeslandes durften über das Projekt diskutieren. Kritisiert wurde diese Vorgehensweise zurecht vom Verein ‚Haus & Grund‘, der Empörung bei den Grünen auslöste. Warum eigentlich? Früher legten die Grünen großen Wert darauf, dass sich direkt betroffene bzw. interessierte Bürgerinnen und Bürger umfassend in den Diskussions- und Entscheidungsprozess einbringen konnten.  Die damalige Staatsrätin Gisela Erler hatte ein „Bürgerforum“ als „Dialogische Bürgerbeteiligung“ aus dem Hut gezaubert, doch wer glaubt, mit einem kleinen Grüppchen Entscheidungen vorbereiten und durchboxen zu können, der irrt. Abstrus war ihre Aussage, ein solcher Kreis per Zufall ausgewählter Bürger könne eine echte Bürgerbeteiligung ersetzen. Sie verhob sich mit Vergleichen, denn sie betonte „in Irland wurde sogar ein komplexer Sachverhalt wie die Abtreibungsfrage in einem solchen Verfahren erörtert.“ Das ist richtig: einbezogen wurden 100 irische Bürger, aber sie diskutierten die Grundsatzfrage ‚Abtreibung zulassen‘ mit allen Schattierungen. Genau dieses erfolgt beim Opernhaus nicht, denn die politische Ebene hat bereits eine Vorentscheidung getroffen! Verschwiegen wurde von Erler, dass zur Abtreibungsfrage in Irland ein Referendum durchgeführt wurde. Dieser letzte Schritt kam dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann – bei allen Vergleichen von Staatsrätin Erler – dann doch nicht in den Sinn. Zu gut erinnerte er sich an die Niederlage bei Stuttgart 21.

Der Verein Haus & Grund in Stuttgart hat das Bürgerforum zur Opernsanierung als „Volksverdummung“ bezeichnet. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich Staatsrätin Barbara Bosch, die Nachfolgerin der im Beitrag zitierten Gisela Erler echauffiert – „respektlos“ – und in der Stuttgarter Zeitung meint: „Die Bürgerforen sind darauf angelegt, die Vielfalt der Bevölkerung hinsichtlich Alter, Geschlecht, Stadt/Land zu spiegeln. Damit wird auch die Vielfalt von Meinungen integriert.“ Nun gut, Staatsrätin Bosch ist in der öffentlichen Verwaltung aufgestiegen und hat es bis zur Oberbürgermeisterin von Reutlingen gebracht, da tut sie sich wohl leichter mit solchen Aussagen. Als Soziologe habe ich dagegen Zweifel daran, mit 50 Zufallsbürgern ein verkleinertes Abbild des Bundeslandes Baden-Württemberg zu schaffen, das über 11 Mio. Einwohner zählt. Bürgerforen mit angeschriebenen und teilweise ausgelosten Teilnehmern können keine echte Bürgerbeteiligung ersetzen! Und die friedensstiftende Wirkung ist allemal bei solchen Miniforen kleiner.

Im Vordergrund ein Knäuel aus grün-braunen Kupferplatten auf einem Podest in einem See. Dahinter das Opernhaus aus dem Jahr 1912.
Das während eines Sturms im Juni 2021 teilweise abgerissene Dach des Opernhauses ließ der grüne Finanzminister Danyal Bayaz als Hausherr im Eckensee aufstellen. Und die SPD-Politiker Martin Rivoir und Martin Körner sahen im zerknäulten Operndach ein „Mahnmal“ für die Folgen des Klimawandels. Wir müssen mehr tun, um die Erderwärmung und somit den Klimawandel zu verlangsamen, dies ist für mich keine Frage, doch darf sicher nicht jeder Sturmschaden flugs dem Klimawandel zugeschrieben werden. „Das Dach stammt aus dem Jahr 1911 und galt bereits vor dem Sturm im vergangenen Juni als marode“, so war in T-Online zu lesen. Und Tilmann Häcker, der zuständige Abteilungsleiter im landeseigenen Betrieb Vermögen und Bau und zuständig auch für die Oper, betonte gegenüber dem SWR unter Bezugnahme auf den ‚Dachschaden‘: “Es ist bestimmt ein Motor, weil man sieht, das Haus hat einen Sanierungsbedarf.“ So ist es: Der Abflug des Operndachs war ein Symbol für die mangelhafte Instandhaltung des Gebäudes. (Bild: Ulsamer)

Planungen überdenken

Frappierend ist es für mich, wie schnell aus den bürokratiekritischen Grünen eine Partei geworden ist, die die staatlichen Ausgaben explodieren und die Verwaltung wuchern lässt. So schrieb Andreas Müller in der Stuttgarter Zeitung zum baden-württembergischen Landtag: „Ein Plus von 50 Prozent bei den Kosten und 44 % bei den Mitarbeitern: Seit die Grüne Muhterem Aras 2016 Präsidentin wurde, gönnte sich das Parlament immer mehr Geld und Stellen.“ Und zeitgleich ist zu erkennen, dass die Bundesländer immer mehr zum Kostgänger des Bundes werden und damit Entscheidungen im Bundestag fallen. Was hat dies nun mit der Opernsanierung zu tun, könnten Sie, liebe Leserinnen und Leser, fragen? Maßlosigkeit macht sich in der Politik weiter breit – trotz all der Krisen, in denen uns eifrig geraten wird, doch einen zweiten Pullover überzuziehen, wenn uns kalt sei. Die Sensibilität für das Ausgabenverhalten scheint immer häufiger zu fehlen, egal ob es um mehr Stellen im Landtag oder beim Bau bzw. der Sanierung von öffentlichen Gebäuden geht. Prunk und Protz wie beim Erweiterungsbau des Bundeskanzleramts oder die Umdeutung des Wortes ‚Sanierung‘ bei der Oper in Stuttgart passen nicht mehr in unsere Zeit.

Die Sanierung des Opernhauses in Stuttgart ist wichtig, aber es muss nochmals die grundsätzliche Frage aufgeworfen werden, was wirklich erforderlich ist und ob eine Interimsspielstätte etc. notwendig ist. Die politischen Entscheider bei der Stadt Stuttgart und im baden-württembergischen Landtag sollten nicht über das Votum der Bürgerschaft hinweggehen, ansonsten tragen sie zur Politikverdrossenheit bei. Eine Volksabstimmung nach einer entsprechenden Informations- und Diskussionsphase könnte Klarheit bringen und politische Verwerfungen vermeiden. Die Schuld an einem weiteren Zeitverlust tragen diejenigen Politiker, die abgehoben Entscheidungen treffen und sich dann auch noch hinter einem Häuflein Zufallsbürger verstecken, um einer konsequenten Bürgerbeteiligung aus dem Weg zu gehen!

 

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Opernhaus in Stuttgart. Gebaut aus bräunlichem Gestein. Im Vordergrung ein kleiner See mit Fontäne.Von außen sieht das 110 Jahre alte Gebäude des Münchner Architekten Max Littmann noch gut aus, doch im Innern hat der Zahn der Zeit genagt, und dies ist fehlender Instandhaltung geschuldet. Ob allerdings eine Milliarde Euro – nach bisherigen Planungen – für Sanierung, Erweiterung und Interimsspielstätte ausgegeben werden sollten, zweifelte die Mehrheit in einer Civey-Befragung an, die vom Bund der Steuerzahler in Auftrag gegeben worden war. (Bild: Ulsamer)

Ist Berlin ein ernstzunehmendes Bundesland?

Das Rote Rathaus in Berlin. Die Frontseite sowie links und rechts Bäume mit grünen Blättern. Das Rathaus wurde mit Backsteinen errichtet, daher die rote Farbe.

Ohrfeige des Verfassungsgerichtshofs für Senat und Behörden

Wo Menschen sind, da passieren Fehler. Wer von uns wüsste dies nicht aus eigener Erfahrung. Doch es gibt Fehlleistungen, die so in einer Demokratie nicht vorkommen dürfen. Und dazu gehört das Berliner Wahldebakel im Jahre 2021, das Senat und Verwaltung zu verantworten haben und das nun zu einer Wiederholung der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, zu den Bezirksversammlungen und in den entsprechenden Bundestagswahlkreisen führt. Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat mit seinem klaren Urteil vom 16. November 2022 unterstrichen, dass die Fehler bei der Ausrichtung der Wahlen so umfassend waren, dass letztendlich nur eine Wiederholung der Abstimmungen die „verfassungsrechtlichen Standards“ gewährleistet. Es handle sich um einen „einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland“. Das wirft nachdrücklich die Frage nach der politischen Verantwortung auf, denn der Fisch stinkt nun mal vom Kopf her. Von Verantwortung reden Politiker gerne in blumigen Sonntagsreden, doch sie überlassen es dann nachgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Hut zu nehmen. Der für die ordnungsgemäße Ausrichtung der Wahlen politisch verantwortliche Regierende Bürgermeister, Michael Müller, hatte sich rechtzeitig in den Deutschen Bundestag abgesetzt.

Blick auf Berlin vom Fernsehturm beim Alexanderplatz.
Was ist denn mit Berlin los? Wenn ein Bundesland – und auch noch die Hauptstadt – keine ordnungsgemäßen Wahlen organisieren kann, dann bleibt im Grunde nur der Zusammenschluss zu einer größeren Einheit, einem leistungsfähigeren Bundesland. (Bild: Ulsamer)

„Systemische Mängel“ bei der Wahlvorbereitung

Wenn am Wahltag in einem deutschen Bundesland Wahlzettel fehlen, sich endlose Schlangen bilden, nach dem eigentlichen Schluss des Wahlvorgangs noch abgestimmt werden darf, obwohl bereits Prognosen zum Ergebnis veröffentlicht worden waren, dann ist ein Tiefpunkt bei der Durchführung von Wahlen erreicht. Es fehlte nicht nur an Wahlzetteln oder Helfern, sondern an der Einsicht, dass sich nicht beliebig viele Kreuzchen in der Wahlkabine in Rekordzeit machen lassen. Und wenn zusätzlich durch den Berlin-Marathon die Straßen verstopft sind, bleibt geradezu zwangsläufig der Nachschub an Material aus, das allerdings bei richtiger Planung ohnehin in den jeweiligen Wahllokalen hätte liegen müssen. „Die Vorbereitung der Wahlen zum 19. Abgeordnetenhaus leidet an schweren systemischen Mängeln, die zu einer Vielzahl von weiteren Wahlfehlern bei der Durchführung der Wahlen geführt haben“, so der Verfassungsgerichtshof in Berlin. Für die Bearbeitung der fünf Stimmzettel wurde zu wenig Zeit vorgesehen, die Zahl der Wahlkabinen war zu gering, daher konnten im Grunde gar nicht alle Wahlwilligen ihre Stimme abgeben. Wer lange genug anstand, hatte nicht die Gewissheit, den richtigen Stimmzettel zu bekommen. „Obwohl im Vorfeld des 26. September 2021 bekannt geworden war, dass im Zuge des Druckprozesses Stimmzettel vertauscht worden waren, kam es nicht in allen Bezirken zu einer Überprüfung. Dies führte dazu, dass am Wahltag in mindestens fünf von zwölf Bezirken falsche Stimmzettel, d.h. für einen anderen Wahlkreisverband bzw. Wahlkreis vorgesehene Stimmzettel, ausgegeben wurden. Die auf falschen Stimmzetteln abgegebenen Stimmen sind ungültig. Faktisch sind die betroffenen Wählerinnen und Wähler damit von der Wahl ausgeschlossen worden.“ Erst stundenlang anstehen, und dann ist die Wahlstimme für den Papierkorb!

Innenhof des Humboldt Forums in Berlin. Die Fassaden sind zum Teil dem ehemaligen Stadtschloss nachgestaltet.
In Berlin dürfen nützliche oder fragwürdige Großbauten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stadt ein Kostgänger der leistungsfähigeren Bundesländer ist. So kommt der Löwenanteil des Humboldt Forums aus Bundeskassen. Zwar ist der Länderfinanzausgleich durch ein Modell ersetzt worden, das die Umsatzsteuer umverteilt, aber dies ändert nichts an der Situation: Berlin bekam 2021 durch den Finanzkraftausgleich rd. 3,6 Mrd. Euro. Ein Neuzuschnitt der Bundesländer ist zwingend, und dieser muss mit einer innovativen Regionalpolitik verbunden werden, um wirtschaftliche Ungleichgewichte zu beheben. (Bild: Ulsamer)

Nur in einer Bananenrepublik sollte es vorkommen, dass Wählerinnen und Wähler durch die Unfähigkeit der Behörden an einer gültigen Wahl gehindert werden. Nicht wenige Wähler hielten eisern durch und durften sogar nach der vorgegebenen Schließzeit der Wahllokale ihre Stimmen abgeben. „Der Umstand etwa, dass flächendeckend noch nach 18 Uhr gewählt wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon erste Prognosen auf Grundlage von Nachwahlbefragungen veröffentlicht worden waren und sich ein ‚Kopf-an-Kopf-Rennen‘ abzeichnete, verletzt die betroffenen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger in ihren verfassungsrechtlich garantierten Rechten zur Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess“, so das Urteil des Verfassungsgerichtshof. Zurecht verlangten die Berliner Verfassungsrichter eine Wiederholung der Wahl, denn die Missstände führten dazu, dass „nicht nur einzelne, sondern tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten.“

Ein Obdachloser ohne Schuhe in einem alten Parka durchsucht einen Mülleimer.
Die sozialen Probleme müssten in Berlin weit engagierter angegangen werden. Müll, Müll, Müll – und Menschen, die darin nach Brauchbarem stöbern. (Bild: Ulsamer)

Nachlässigkeit als Grundprinzip

Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs in Berlin macht mal wieder deutlich, dass manche politischen Entscheider und die ausführende Bürokratie nachlässig arbeiten. Viel zu häufig müssen Gerichte der Politik den verfassungsgemäßen Weg weisen, den sie bei etwas mehr Nachdenklichkeit und Sachkunde selbst finden könnten. Die Wiederholung einer Wahl ist ein Armutszeugnis für Berlin, aber auch für ganz Deutschland. Berlin gönnt sich eben lieber mal einen zusätzlichen Feiertag auf Kosten der wirtschaftlich stärkeren und besser organisierten Bundesländer. Die Berliner Regierungsspitze wird aus Schaden einfach nicht klüger, das bewies Michael Müller als Regierender Bürgermeister beim Mietendeckel. Als Master of Desaster setzte er auf den Mietendeckel, obwohl ihn genügend verfassungskundige Juristen vor diesem Alleingang gewarnt hatten. Das Bundesverfassungsgericht erklärte am 15. April 2021 nach einem einstimmigen Votum der Richter in den scharlachroten Roben den Mietendeckel für verfassungswidrig, das Land habe seine Kompetenzen überschritten, da der Bund bereits 2015 eine Mietpreisbremse eingeführt habe. Nun gut, wer sich beim Berliner Großflughafen absolut dilettantisch anstellt, der kann eben auch keine Wahlen vorbereiten. Michael Müller, in dem seine eigene SPD wohl kein Zugpferd für die Wahl zum Abgeordnetenhaus mehr gesehen hatte, wechselte in den XXL-Bundestag, wo Quantität längst vor Qualität zu gehen scheint. An seiner Stelle trat Franziska Giffey bei der Wahl an, kaum dass sie im Mai 2021 ihr Amt als Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wegen einer Plagiatsaffäre um ihre Dissertation aufgegeben hatte. Aber als Regierende Bürgermeisterin hielt sie die SPD für geradezu passend! Schade. Was würde wohl ein Willy Brandt dazu sagen, der in schweren Zeiten die Geschicke Berlins lenkte?

In einem Teich schwimmen leere Bierflaschen mit der Öffnung nach oben zwischen den Blättern und Blüten von Seerosen.
Berlin versteht sich gerne als Party-Hauptstadt – da landen Flaschen nicht nur im Teich. (Bild: Ulsamer)

Meine eigenen beruflichen Erfahrungen mit Berliner Behörden und anderen Institutionen liegen nun schon einige Jahre zurück, doch es hat sich wohl kaum etwas zum Besseren verändert. Obdachlose und Müll gehören mehr denn je zum Stadtbild. Wenn ein Mann einen Geldautomaten mit einem Pflasterstein attackiert, kommt – trotz umgehender Alarmierung – kein Streifenwagen eilig angefahren und selbst Fotos dieser Szene muss man den Behörden geradezu aufnötigen. Als grüne Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg wollte Monika Herrmann Drogendealer nicht aus dem Görlitzer Park verweisen, um dann gegenüber der ‚Welt‘ zu betonen: „Ich gehe in Berlin durch gar keine Parks“, denn „das ist mir als Frau zu gefährlich“. Wo der Rechtsstaat zurückweicht, machen sich Banden breit. Kriminelle Clans haben das Regiment in manchen Quartieren übernommen. Doch Berlin ‚feiert‘, ganz im Sinne des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit, der als bekennender Homosexueller Sekt aus Damenpumps trank. Sektempfänge scheinen in Berlin eben mehr zu zählen als die Lösung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Probleme.

Es wäre an der Zeit, mit Nachdruck über einen Neuzuschnitt der Bundesländer zu diskutieren, denn Berlin müsste zumindest mit Brandenburg zusammengeschlossen werden. Natürlich stellt sich auch beim Saarland oder anderen Bundesländern die Frage nach deren Existenzberechtigung: Größe muss nicht glücklich machen, darüber bin ich mir im Klaren, aber eine gewisse wirtschaftliche Präsenz verbunden mit einer entsprechenden Bevölkerungszahl sollte zu den Kriterien eines zukunftsorientierten Bundeslands zählen. Die vergeigten Wahlen in Berlin sind nur ein weiteres Symbol für eine Stadt, ein Bundesland, das nicht in der Lage ist, seine Aufgaben wirklich zu erfüllen. Braucht Deutschland ein Bundesland, das noch nicht einmal Wahlvorgänge ordnungsgemäß und transparent abwickeln kann? Wohl kaum. Bei der Behäbigkeit, die das politische Deutschland mehr und mehr auszeichnet, glaube ich nicht an eine schnelle Reform der Bundesländer, aber die Berliner hätten auf alle Fälle eine bessere Landesregierung und Behörden verdient, die Probleme abarbeiten und diese nicht erst schaffen. Die beispiellose Ohrfeige der Verfassungsrichter für Senat und Verwaltung darf nicht ohne politische Folgen bleiben.

 

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Das Rote Rathaus in Berlin. Die Frontseite sowie links und rechts Bäume mit grünen Blättern. Das Rathaus wurde mit Backsteinen errichtet, daher die rote Farbe.Das Rote Rathaus als Burg der Inkompetenz? Berlin ist weit unter seinen politischen Möglichkeiten unterwegs! Dazu haben die letzten Regierenden Bürgermeister oder die jetzige Regierende Bürgermeisterin im Roten Rathaus maßgeblich beigetragen. Der Berliner Senat, der dort auch seinen Sitz hat, scheint mit der Leitung und Entwicklung einer Millionenstadt überfordert. Wäre es nicht an der Zeit, die kleinteilige Struktur der Bundesländer aufzubrechen und z. B. Berlin und Brandenburg zusammenzuschließen? Ich weiß, dies ist eine alte Diskussion, dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf. (Bild: Ulsamer)

Landratsamt Esslingen: Abriss statt Sanierung

Zwei gelbe Bagger greifen in die Bausubstanz und brechen Teile heraus, Das mehrstockige Gebäude ist aufgerissen, die Decken und Böden der Etagen erkennbar.

Würden Sie Ihr Haus nach 44 Jahren abreißen?

Bis zuletzt wollte ich es nicht glauben, doch nun machen Bagger dem sogenannten ‚Altbau‘ des Landratsamts im baden-württembergischen Esslingen den Garaus. Nach gerade mal 44 Jahren erfolgt der Abriss. Bei solch einer Schnapszahl würde jede private Hausbesitzerin, jeder Hausbesitzer vielleicht ein Gläschen darauf trinken, dass die Kredite abbezahlt sind und das stets pfleglich behandelte und renovierte Domizil in guter Verfassung ist. Ganz anders im öffentlichen Bereich, wo mit anderer Leute Geld gerne mal ein Landratsamt nach nur vier Jahrzehnten Nutzung zerdeppert wird oder – wie in Berlin – Bundeskanzler Olaf Scholz einen Erweiterungsbau für 777 Mio. Euro in Auftrag geben will: eine glatte Verdopplung des ohnehin gigantomanisch anmutenden Bundeskanzleramts! In Stuttgart sollen Renovierung und Erweiterung des Opernhauses eine Milliarde Euro kosten, und zur Tarnung wurden knapp 50 Bürgerinnen und Bürger willkürlich ausgewählt und ihre Treffen als Bürgerbeteiligung tituliert – eine Farce.

Reste eines Gebäudes aus Beton. Ein Treppenhaus ragt noch gen Himmel. Mehrere gelbe Bagger sind im Einsatt. Im Hintergrund ein vor einigen Jahren erstellter Neubau.
„Muss das weg?“ Diese Frage habe ich in meinem Blogbeitrag „Öffentliche Gebäude als Wegwerfartikel“ bereits 2020 aufgeworfen. Ich bin der Überzeugung, dass beim öffentlichen Bauen mehr Nachhaltigkeit auch weniger Abrisse bedeuten würden. (Bild: Ulsamer)

Priorität für den Erhalt

„Bauen muss vermehrt ohne Neubau auskommen. Priorität kommt dem Erhalt und dem materiellen wie konstruktiven Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss. Die ‚graue Energie‘, die vom Material über den Transport bis zur Konstruktion in Bestandsgebäuden steckt, wird ein wichtiger Maßstab zur energetischen Bewertung sowohl im Planungsprozess als auch in den gesetzlichen Regularien.“ Dieses völlig richtige Zitat stammt im Übrigen nicht von bauunwilligen Kulturkritikern, die gerne in einer Höhle leben, sondern es findet sich in einem Positionspapier des Bunds Deutscher Architekten mit dem Titel ‚Das Haus der Erde – Positionen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land‘ aus dem Jahr 2019. Die Architektenvereinigung weist mehr als deutlich auf die Bedeutung der ‚grauen Energie‘ hin, die bereits für das Altgebäude verbraucht wurde und bei einem Abriss verloren geht. Die ‚graue Energie‘ sei bei den Planungen berücksichtigt worden, so das Landratsamt, und man habe auch an Themen wie ‚Recyclingbeton‘ gedacht. Das glaube ich gerne, doch in der Realität ist die Wiederverwertung von Beton und anderen Gebäudeteilen nicht ganz so einfach – wie ich bei einem industriellen Bauvorhaben lernen ‚durfte‘.

Ein Fußgängersteg spannt sich über den Neckar.
Mindestens 150 Mio. Euro für ein Ersatzgebäude des Landratsamts, doch Geld für den maroden Alicensteg über den Neckar gleich in der Nachbarschaft, der seit 2015 gesperrt ist, gibt’s nicht. Diese Fußgängerbrücke ist vom Landratsamt aus bestens zu sehen, liegt gewissermaßen vor der Haustüre. Bürokratien blähen sich auf und richten sich immer behaglicher ein, die Bürgerinnen und Bürger allerdings können einen direkten Weg über den Neckar seit Jahren wegen vorgeblicher Baufälligkeit nicht mehr nutzen. Wenn der Stadt Esslingen Finanzmittel für Sanierungen fehlen, dann liegt dies auch an der Kreisumlage. Vielleicht interessiert Sie, liebe Leserinnen und Leser der ergänzende Beitrag ‚Die Stadt am Fluss und ihre Possen um die Neckarbrücken‘. (Bild: Ulsamer)

Auf meine kritischen Einwände im November 2020 antwortete Landrat Heinz Eininger wie zu erwarten mit der Feststellung, das Gebäude „weist erhebliche bauliche, technische und funktionale Mängel auf und kann mit erheblichen Instandsetzungsarbeiten, die regelmäßig durchgeführt werden, nur noch ‚am Leben erhalten‘ werden.“ Als weiteren Abrissgrund werden „Brandschutzmaßnahmen“ genannt, und dann kommt der – vorgeschobene – eigentliche Grund: „Des Weiteren hat es nicht die baulichen Voraussetzungen für die räumliche Gestaltung einer modernen Verwaltung als starker Dienstleister für die Einwohner im Landkreis und entspricht nicht mehr den Anforderungen einer modernen Arbeitswelt.“ Nun kenne ich den sogenannten ‚Altbau‘ des Landratsamts direkt am Neckar auch von innen, nein, ich kannte ihn, und so im Zerfall begriffen erschien er mir nicht. Über den Dienstleistungscharakter des Landratsamts Esslingen – oder vergleichbarerer Ämter – möchte ich hier nicht streiten, doch mit Sicherheit hätten zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dieser Welt gerne im jetzt abgerissenen Gebäudeteil gearbeitet. Mängel sind dazu da, beseitigt zu werden, das kostet ebenfalls Geld, aber wenn einem nur die Abrissbirne einfällt, dann ist das in unserer krisengeplagten Zeit zu wenig.

Ein Bürogebäude aus Beton und viel Glas. Die Fassade ist in Grün gehalten.
So schnell wird ein Bürogebäude des Landratsamts in Esslingen zum ‚Altbau‘. In weiten Regionen der Welt – und sogar in deutschen Landen – wäre dieses Bauwerk nach vier Jahrzehnten gewiss nicht abgerissen worden. (Bild: Ulsamer)

Ausreden finden sich immer

„Moderne und zukunftsfähige Büroformen lassen sich aufgrund des vorhandenen Fassadenrasters im Altbau des Landratsamtes nur eingeschränkt realisieren. In einem Neubau dagegen ist die Grundrissgestaltung flexibel, was zu einer hohen Flächeneffizienz führt“, schreibt Landrat Eininger. Da liegt doch der Hund begraben: Man muss die Anforderungen eben so stellen, dass letztendlich die Planer und Beratungsfirmen nur für einen Abriss plädieren können! So arbeitet kein mittelständischer Unternehmer, sondern er sucht den Kompromiss zwischen dem vorhandenen Gebäude und den neuen Anforderungen – zumindest bei Büroflächen, die nur gut 40 Jahre genutzt wurden. „Die geplante Bürokonzeption für den Verwaltungsneubau berücksichtigt dabei die verschiedenen Anforderungen an die Arbeitsplätze der Zukunft wie mobiles Arbeiten und variabel nutzbare Arbeitsplätze.“ Klingt gut, doch „mobiles Arbeiten“ müsste zu weniger Arbeitsplätzen in den Gebäuden des Landratsamts führen, das außerdem gerade einen weiteren Neubau im nahegelegenen Plochingen beziehen konnte. Denn wer mobil arbeitet, der sitzt ja nicht gleichzeitig im Landratsamt, und wer im Homeoffice tätig ist, der kommt auch nur noch selten zur eigentlichen Arbeitsstätte. Das von Landrat Eininger angeführte „mobile Arbeiten“ hat nun herzlich wenig mit der Flächenstruktur in einem Bürotrakt zu tun. Wer selten anwesend ist, der sucht sich eben einen freien Arbeitsplatz im Betrieb oder Landratsamt, und dies geht auf alten und neuen Flächen gleichermaßen.

Gebäude des Landratsamts Esslingen mit über 10 Stockwerken.
Nach dem Abriss des sogenannten ‚Altbaus‘ aus dem Jahr 1978 ist das Bestandsgebäude der neue ‚Altbau‘! Mal sehen, wie lange du durchhältst. (Bild: Ulsamer)

„Ein Beratungsszenario im Drei-Zonen-Prinzip – öffentlicher Bereich für Mitarbeiter und Bürger, halböffentlicher Bereich für Mitarbeiter und Bürger mit Terminvereinbarung, interner Bereich nur für Mitarbeiter – bietet den Kunden des Landratsamtes einen modernen Verwaltungsbau mit kurzen Wegen und einer klaren Wegweisung“, betont Landrat Eininger. Spricht dies für einen Neubau in Esslingen und Plochingen? Nach meiner Meinung muss es darum gehen, dass im Zeitalter der Digitalisierung im Regelfall ein Besuch des Landratsamts nicht mehr notwendig ist, sondern immer mehr Fragen per Internet oder mobile Dienste beantwortet und abgearbeitet werden können. Da springt der Landrat dann doch zu kurz, wenn er schreibt „Die Digitalisierung wird nicht zwangsläufig zu Flächeneinsparungen führen.“ Das muss aber das Ziel sein: weniger Fläche und weniger Beschäftigte! „Viel wahrscheinlicher ist es, dass sich die Nutzung der Büroflächen verändert. Es gibt zukünftig einen steigenden Bedarf an Rückzugs-, Besprechungs- und Projekträumen.“ Nun gut, Hoffnung darauf, dass der Abriss aufzuhalten gewesen wäre, hatte ich bei dieser Erwiderung ohnehin keine! Manchmal habe ich den Eindruck, dass Verwaltungen „Rückzugsräume“ – nicht allein im Büro – wollen, damit sie dem Bürger weniger nahekommen. Fragwürdige Priorisierungen können nur zu falschen Entscheidungen führen.

Links Reste des Bürogebäudes, das abgerissen wird. In der Mitte eine Infotafel mit dem Neubau, rechts das jetzige Bestandsgebäude.
Links die Reste des sogenannten ‚Altbaus‘, rechts der Bestandsbau und dazwischen das demnächst zu errichtende Ersatzgebäude. (Bild: Ulsamer)

Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rücken

Nun ist der bauliche Mitvierziger den Baggern zum Opfer gefallen, und selbst die Grünen im Kreistag hatten zugestimmt – eigentlich unglaublich! Doch heute wundert mich das nicht mehr allzu sehr, denn die lassen ja auch im Rheinischen Braunkohlerevier die Bagger (!) rollen und den Weiler Lützerath in einem gewaltigen Loch verschwinden. Leicht verwunderlich ist es, wenn die Vertreter von Bündnis90/ Die Grünen die Kosten bzw. die Abschreibungen schönrechnen, indem sie zum jetzigen Neubau schreiben: „Das neue Gebäude wird größtenteils über Darlehen finanziert und über 50 Jahre abgeschrieben.“ Ein halbes Jahrhundert hat der Bau, der jetzt abgerissen wird, noch nicht einmal überdauert! Das lässt Schlimmes für die Zukunft erwarten. Gleichermaßen trifft dies auf die völlig unkritische Einstellung gegenüber einem Stellenzuwachs zu, der nach Meinung der Grünen bei Neubau oder Sanierung zusätzliche Flächen erforderlich gemacht hätte: „Notwendig ist in beiden Fällen auch eine Erweiterung, da die Mitarbeiterzahl des Landkreises stetig wächst.“ Was waren das noch für Zeiten, als die Urmütter und -väter der Grünen eine kritische Einstellung gegenüber der Bürokratisierung unserer Gesellschaft hegten! Aufgabenkritik scheint für zu viele Politikerinnen und Politiker ein Fremdwort zu sein, und so kann die Bürokratie weiter wachsen – an Gesetzen, Verordnungen und Mitarbeitern.

Antennnen auf einem Gebäude des Landratsamts Esslingen.
Technische Antennen auf dem Dach sind das eine, aber menschliche Antennen für das, was man in diesen Krisenzeiten tut und was nicht, das ist etwas anderes. Hat sich eine politische Klasse in unserem Land verselbständigt? (Bild: Ulsamer)

Wenn in Deutschland öffentliche Gebäude nach gut 40 Jahren abgerissen werden, Brücken – wie an der A 45, der Sauerlandlinie – nach 50 Jahren gesprengt werden, dann läuft etwas falsch in unserem Land. Wer dieser Taktung folgt, der kommt nie vor die Welle, sondern die Finanzmittel versickern im ständigen Ersatzbedarf. Der Bund Deutscher Architekten stellt klar heraus, was nachhaltiges Bauen bedeutet: „Erst ein Gebäude, das sich aufgrund seiner architektonischen Qualität über Jahrzehnte in der Nutzung bewährt und damit die derzeit wirtschaftlich kalkulierte Lebensdauer von 30 bis 50 Jahren bei weitem übersteigt, wird dem Nachhaltigkeitsgedanken gerecht und ist im Sinne der Gesellschaft werthaltig.“

Mit meiner kritischen Einschätzung des Abrisses des Landratsamts Esslingen möchte ich nicht behaupten, es wäre nicht lange genug über dieses Thema diskutiert worden, ganz im Gegenteil, aber im Grunde werden wir keine Veränderung erreichen, wenn mit Steuermitteln Abrisse und Neubauten finanziert werden, die sich hätten vermeiden lassen. Es kommt im öffentlichen Bereich auf eine Veränderung des Denkens an! Ich glaube, es ist nicht überzogen, wenn ich schreibe, politische Entscheider müssen denken (lernen) wie der private Häuslebauer oder der mittelständische Unternehmer. Dies gilt überall, in Städten und Landkreisen, in Ländern und nicht zuletzt beim Bund. 150 Mio. Euro für einen Ersatzbau des Landratsamts in Esslingen, 777 Mio. Euro für ein Erweiterungsgebäude des Bundeskanzleramts in Berlin oder eine Mrd. Euro für die Sanierung eines Opernhauses in Stuttgart, das passt nicht in eine Zeit, in der sich die Schlangen vor Tafelläden verlängern und die Politik täglich meint, wir müssten unseren Gürtel enger schnallen und eine Dusche sei doch Luxus, ein Waschlappen tue es auch. Nachhaltigkeit benötigt Priorität beim Bauen! Dies ist wichtig für die Umwelt und die Steuerzahler!

 

 

Noch ein kleiner Hinweis

Die Clifton Suspension Bridge - fast 150 Jahre im Dienst und kein bisschen müde.Instandhaltung, Sanierung und Renovierung vermeiden so manchen Abriss. Stege und Brücken halten dann eben nicht 50 Jahre, sondern 150! Isambard Kingdom Brunel hat mit der Clifton Suspension Bridge in Bristol (im Bild) ein Bauwerk errichtet, das 1864 für Pferdefuhrwerke und Fußgänger vorgesehen war, heute rollen täglich 11 000 Fahrzeuge über die Brücke. Das Konstruktionsprinzip und die konsequente Instandhaltung machen es möglich. Übrigens, die oft bewunderte Golden Gate Bridge in Kalifornien, die 1937 eröffnet wurde, erträgt pro Tag 120 000 Fahrzeuge. Wir brauchen wieder mehr Nachhaltigkeit beim Bauen und die Bereitschaft, auch laufende Instandhaltungsmaßnahmen durchzuführen. Mehr zu den Brücken von Brunel: ‚Wenn Brücken 150 Jahre auf dem Buckel haben. Isambard Kingdom Brunel setzte auf Nachhaltigkeit‘