Kommt die Energie der Zukunft verstärkt aus dem Meer?
In früheren Jahrhunderten wurden an den europäischen Atlantikküsten zahlreiche Mühlen mit der Kraft der Gezeiten betrieben. In diesen Mühlen arbeiteten die Menschen nicht – wie ansonsten in den landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften – vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang, sondern der Mond gab über Ebbe und Flut die Arbeitszeiten vor. Im Gegensatz zu den an Bächen ratternden Mühlrädern gerieten die Mühlen an der Küste, die ihre Energie aus den unterschiedlichen Wasserständen des Meeres zogen, meist in Vergessenheit. Diese Gezeitenmühlen könnten jedoch ein indirektes Vorbild für die Nutzung von Ebbe und Flut als Beitrag zur Energiewende sein. Unterseeische Strömungen, Ebbe und Flut oder auch die Wellen werden bisher kaum für die Stromerzeugung genutzt, obwohl es umweltschonende und nachhaltige Pilotprojekte gibt. Eine besonders gut erhaltene Gezeitenmühle ist die Tidal Mill beim Carew Castle in Wales.

400 Jahre Mühlengeschichte
Die Gezeitenmühle in Carew verdankt ihren guten Erhaltungszustand der Tatsache, dass sich hier bis 1937 die Mühlsteine drehten. Damit ist sie die einzige derartige Mühle in Wales, die baulich überliefert ist. Bereits 1542 finden sich in Dokumenten Hinweise auf eine Mühle an dieser Stelle. Damals versorgte sie die Bewohner des Carew Castles und die dort stationierten Soldaten, aber sicherlich auch weitere Anwohner mit Mehl. Das jetzige Gebäude geht auf das frühe 19. Jahrhundert zurück. Die vierstöckige Mühle aus Kalkstein mit einem Schieferdach und das daneben liegende frühere Wohnhaus des Müllers sind Belege dafür, dass eine solche Gezeitenmühle ein einträgliches Geschäft war. Da Ebbe und Flut mit steter Regelmäßigkeit aufeinander folgen, war die Antriebskraft besser gesichert als an einem kleineren Fluss, denn dort konnten sich regenarme Zeiten schnell negativ auswirken. Auch Windmühlen hängen von unterschiedlichen Wetterlagen und Windstärken ab. Von Flauten kann so mancher Betreiber moderner ‚Windmühlen‘ in seinem Windpark ein trauriges Lied singen. Und wenn der Wind gerade im Meer kräftig bläst, dann fehlt es in Deutschland an den notwendigen Leitungen, um den Strom vom Norden in den Süden zu übertragen. Nun aber zurück zur Gezeitenmühle im walisischen Carew. Weil sich Ebbe und Flut regelmäßig verschieben, war Nachtarbeit für den Müller kein Fremdwort. Der Müller und seine Gesellen waren frühe Schichtarbeiter, da sich die Gezeiten am Mond orientieren und keine Rücksicht auf den Tag-Nacht-Rhythmus nehmen, den die Sonne vorgibt. In einer Gezeitenmühle konnten sich innerhalb eines 24-stündigen Zyklus rd. 6 bis 10 Stunden mit der Kraft des Wassers, das über die Mühlräder zurück ins Meer floss, die Mühlsteine drehen.

Voraussetzung für den Bau einer Gezeitenmühle ist eine geschützte Flussmündung, eine ruhige Bucht, die durch einen Damm abgesperrt werden kann. Der Eingriff in die Natur ist überschaubar, ganz im Gegensatz zu modernen Gezeitenkraftwerken wie an der Rance in der Bretagne. Mehr Informationen zu der nach meiner Meinung deutlich ausbaubaren Energiegewinnung im Meer finden Sie in meinem Blog-Beitrag ‚Ebbe und Flut als Energieträger. Die Kraft des Meeres naturverträglich nutzen‘. Eine Gezeitenmühle sollte nicht zu exponiert an der Küste liegen, da sie ansonsten bei Sturmereignissen in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Die Carew Tidal Mill erreichen Ebbe und Flut ausgehend von der Bucht Milford Haven nach rd. zehn Kilometern über den Cleddau und den Carew River. Schon aus dieser Distanz lässt sich die Kraft des Meeres erkennen. Die Schleusentore im Damm konnten bei Flut von Hand geöffnet werden, um das steigende Wasser in den Mühlteich hinter dem Damm einströmen zu lassen. Vielfach drückte die ansteigende Flut die Tore selbst auf, und wenn die Flut ihren Höchststand überschritten hatte und das gespeicherte Wasser ins Meer zurückzufließen begann, dann schloss diese Strömung die Tore wie von Geisterhand. Das Wasser aus dem Mühlteich, der bei der Carew Tidal Mill knapp acht Hektar groß ist, wurde über Öffnungen auf die beiden Mühlräder geleitet, wenn das Meerwasser außerhalb des Damms entsprechend gefallen war. Jedes Wasserrad hatte rd. 20 PS. Voraussetzung für den technischen und wirtschaftlichen Erfolg war die Tidenhöhe im Bereich von Milford Haven, die bei fast acht Metern liegt. Der Carew River, der neben dem Schloss, dessen Ruinen von 1100 stammen, in den Mühlteich mündet, hätte die Energie nicht liefern können, die das Meer über den Unterschied von Ebbe und Flut regelmäßig bereitstellte.

Kraft des Meeres stärker nutzen
Gemahlen wurden in der Gezeitenmühle insbesondere Weizen, Hafer und Gerste aus der Region sowie in den letzten Jahren Knochen für Tierfutter und Dünger, wobei deren Verarbeitung das gesamte Gebäude stark beanspruchte. Abtransportiert wurde das Mehl per Pferdefuhrwerk bzw. Segelschiff. Bei Flut machten Schiffe direkt am Damm fest. Dies war ein logistischer Vorteil der Gezeitenmühle. Neben der Gezeitenmühle in Carew gab es in der Grafschaft Pembrokeshire rd. 200 mit Wasserkraft betriebene Mühlen, darunter 10 Anlagen, die Ebbe und Flut nutzten. Hinzu kamen 39 Windmühlen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Mehl aus Pembrokeshire bis nach London Abnehmer fand. Das zu mahlende Getreide wurde in den oberen Stockwerken eingelagert, um es – der Schwerkraft sei Dank – schnell und mit möglichst wenig Personaleinsatz den Reinigungseinrichtungen und den Mühlsteinen zuführen zu können. Einer der Flaschenzüge, mit denen sich die Getreidesäcke auf die oberen Ebenen hochziehen ließen, konnte mit Wasserkraft betrieben werden.

Was würden wohl die letzten Müller der Carew Tidal Mill oder ihre Vorgänger, die fast 400 Jahre ihre Mühlsteine mit der Energie der Gezeiten betrieben, dazu sagen, wenn sie von der EU-Kommission zu hören bekämen: „Die Technologien zur Nutzbarmachung von Meeresenergie sind relativ neu“. Da sieht man mal wieder, wie es um das Geschichtsbewusstsein und die Innovationskraft der EU-Bürokratie steht! In Gezeitenmühlen wurde bereits seit dem 7. Jahrhundert Getreide gemahlen! Die restaurierte Gezeitenmühle Moulin à marée du Hénan in der Bretagne, die ihren Ursprung im Jahre 1465 hat, ist ein weiteres Beispiel der jahrhundertelangen Nutzung der Meeresenergie, über das ich in anderen Blogbeiträgen berichtet habe. Es ist längst überfällig, die Energie der Gezeiten, untermeerischer Strömungen oder der Wellen stärker zu nutzen. In vielen Fällen lassen sich kleine Kraftwerke in vorhandene Strukturen – wie Kaimauern – integrieren oder unauffällig am Meeresgrund befestigen. Technologieoffenheit könnte auch bei diesem Thema nicht schaden, denn zu einseitig wird im Meer auf immer gewaltigere Windparks gesetzt, die lange unterschätzte Auswirkungen auf die Tierwelt in unseren überfischten und verschmutzten Ozeanen haben. Die Gezeitenmühle im walisischen Carew ist nicht nur ein historisch interessantes Baudenkmal, sondern auch ein steter Aufruf, die Kraft des Meeres naturverträglich zu nutzen.


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Das Gebäude der Gezeitenmühle im walisischen Carew in der Grafschaft Pembrokeshire stammt zwar aus dem frühen 19. Jahrhundert, doch bereits 1542 wurde eine Mühle an dieser Stelle erwähnt. (Bild: Ulsamer)