Verkleinerung: ja – weniger Wahlkreise: nein!
Das hätten sich die Politiker bei der konstituierenden Sitzung des ersten Deutschen Bundestags am 7. September 1949 sicherlich nicht träumen lassen: dass der deutsche Regulierungseifer dazu führen könnte, dass einmal 1000 Abgeordnete den Bundestag bevölkern könnten. Ganz so weit ist es noch nicht, allerdings stehen die Zeichen auf Zuwachs. In der ersten Wahlperiode saßen 421 Abgeordnete im Parlament in Bonn. Heute sind es 709! Natürlich hat sich die Zahl nach der Wiedervereinigung fast zwangsläufig erhöht, aber der jetzige XXL-Bundestag muss wieder auf ein Normalmaß gebracht werden. Deutschland hat das zweitgrößte Parlament der Welt – nach dem Chinesischen Volkskongress! Damit liegen wir unter den demokratischen Parlamenten auf dem ersten Rang – dies entspricht nun wirklich nicht unserer Bevölkerungszahl. Und leider hat auch die Qualität der Arbeit nicht zugenommen. Blickt man ins Plenum: häufig gähnende Leere! Anstöße für eine Wahlreform gab es immer wieder, doch da jeder sein lukratives Plätzchen verteidigt, steigt die Zahl der Abgeordneten immer weiter an, was für 2021 schon schlimmes befürchten lässt.
Auf dem Rechenweg erzielte Sitze
Prinzipiell halte ich unser Verhältniswahlrecht für ‚gerechter‘ als eine Mehrheitswahl, bei der nur direkt gewählte Abgeordnete ins Parlament einziehen. Musterbeispiel ist das Vereinigte Königreich, wo kleinere Parteien wie die Liberalen oder die Grünen ein Schattendasein führen, da sie bisher nur einige wenige Sitze direkt gewinnen konnten und ihr landesweiter Stimmenanteil keine Rolle spielt. Hätten die Briten das Verhältniswahlrecht, dann wären uns vermutlich Boris Johnson und der Brexit erspart geblieben. Nun, das ist die glänzende Seite der Medaille, doch das Verhältniswahlrecht führt in unserem Land zu einer außerordentlichen Aufblähung des Bundestags. Und genau diese Kehrseite eines überperfekten Verhältniswahlrechts bedarf der Überarbeitung.
Bisher ist klar, dass alle in einem Wahlkreis gewählten Abgeordneten in den Bundestag einziehen: 299. Warum schreibe ich ‚bisher‘? Es gibt von Parteien, die keine oder kaum Direktmandate erringen, auch Konzepte, die hier Einschnitte vornehmen wollen. Dazu weiter unten mehr. Die gleiche Zahl an Parlamentariern schafft den Sprung nach Berlin über die von den Parteien ausgetüftelten Listen. So weit so gut, dann wären wir bei 598 Abgeordneten, die im Berliner Reichstagsgebäude Platz nehmen dürfen. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen würden, dann ziehen selbstverständlich alle Abgeordneten ins Parlament ein, denn sie sind ja direkt vom Volk gewählt. Bei den über den rein rechnerischen Anteil hinausgehenden Sitzen spricht man von Überhangmandaten. Nun kommt das Bundesverfassungsgericht ins Spiel, welches 2012 entschied, dass die Überhangmandate vollständig durch Ausgleichsmandate so austariert werden, bis die Sitzanteile der einzelnen Parteien wieder deren Zweitstimmenanteil entspricht. Eigentlich eine Änderung, die mehr Gerechtigkeit bringen sollte, doch der Urteilsspruch hatte weitreichende Folgen. Ein wenig blitzt hier auch die deutsche Detailverliebtheit durch, die leicht das große Ganze aus den Augen verliert.
XXL-Bundestag streitet über Reformen
Nach der Wahl am 24. September 2017 wurden aus 598 vorgesehenen Abgeordneten durch 46 Überhang- und 65 Ausgleichsmandate 709 Parlamentarier. Da mussten eifrig neue Sitze montiert und Büros bereitgestellt werden. Auch die Kosten explodierten: Der Bundestag kostet den Steuerzahler jährlich über eine Milliarde Euro. Dass wir uns nicht falsch verstehen: in einer Demokratie darf man nicht an den Parlamentskosten knausern. Aber irgendwo ist doch eine Grenze! Klasse statt Masse, so müsste der Grundsatz lauten, der jedoch längst vergessen scheint. Die im Wahlkreis mit der Erststimme direkt gewählten 299 Abgeordneten sind gegenüber 410 Parlamentariern, die über Listen nach Berlin kommen, längst in der Minderheit!
Ich bin mir bewusst, dass Kritik am XXL-Bundestag natürlich einfacher ist, als die Umsetzung notwendiger Reformen, aber ein Parlament, das aus allen Nähten platzt, ist gewiss nicht zukunftsorientiert. Die Materie ist kompliziert, doch seit Jahren drehen sich die Reformansätze im Kreis, denn keine Partei möchte ihre Sitze und die daraus resultierenden Vorteile missen. Wer als Partei wie die CSU viele Direktmandate erringt, der könnte natürlich getrost auf Ausgleichsmandate verzichten, da sie ohnehin keine bekommt. Die Grünen, die Linken oder die FDP sehen dies erwartungsgemäß anders, denn sie wollen natürlich die über Listen errungenen Prozente auch in Parlamentssitze umgesetzt wissen. Inzwischen gehört selbst die SPD zu den Parteien, die auf Listen-Prozente setzen muss, da es mit Direktmandaten zunehmend hapert. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der das Reformbemühen von seinem Vorgänger, Norbert Lammert, geerbt hat, setzt auf eine Reduktion der Zahl an Wahlkreisen. Grüne, Linke und FDP wären diesem Vorschlag gefolgt: kein Wunder, wenn man nur wenige Wahlkreise direkt gewinnen kann. Bei einer Reduzierung der Wahlkreise möchte ich nicht folgen, denn der Bezug zu den Bürgern ist dann besonders groß, wenn der direkt gewählte Abgeordnete auch Präsenz vor Ort zeigen kann. Je größer die Wahlkreise, desto weniger persönlichen Kontakt gibt es zu den Abgeordneten.
Direkt gewählte Abgeordnete ohne Sitz?
Die CSU würde die Beibehaltung der jetzigen Zahl an Wahlkreisen verbunden mit einer Deckelung der Gesamtzahl an Abgeordneten bevorzugen. Dies zumindest so lange, wie sie in Bayern die meisten Wahlkreise hält. Die Positionen der Parteien liegen weit auseinander, doch die Reform wird immer dringender. Mehr Parteien haben die Situation verschärft, und dies gilt ganz besonders, wenn Direktmandate mit einem immer geringeren Stimmanteil errungen werden. So hatte der damalige Bundestagspräsident Lammert bei der konstituierenden Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am 22. Oktober 2013 ausgeführt: “Es gibt Anlass, noch einmal in Ruhe und gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen, auch wenn das Wahlergebnis vom 22. September nur zu einer maßvollen Ausweitung der Anzahl der Mandate geführt hat. Ganze vier Überhangmandate ‑ viel weniger als in den allermeisten früheren Legislaturperioden ‑ haben durch die neuen Berechnungsmechanismen des fortgeschriebenen Wahlrechts, die für die meisten Wahlberechtigten übrigens ziemlich undurchsichtig sind, zu 29 Ausgleichsmandaten geführt. Dies lässt die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten.“ Leider sind auf seine vorausschauenden Worte bisher keine Taten gefolgt.
Für reichlich abstrus halte ich die Idee, über die die ‚Welt‘ berichtete: „Ein Plan, der in Berlin vor allem in den kleineren Parteien kursiert, sieht in der Tat vor, dass gewählte Wahlkreisabgeordnete ihr Mandat nicht antreten sollen, falls das Zweitstimmenergebnis nicht hoch genug ausfällt.“ Würde man diesem Gedanken folgen, dann wäre das der Todesstoß des demokratischen Grundsatzes, dass ein direkt gewählter Abgeordneter auch ins Parlament einzieht. Es würde längerfristig dazu führen, dass nur noch Wahllisten von Bedeutung wären, was wiederum die Parteibürokraten stärken würde. Genau das sollte aber auf Ablehnung treffen! Die Hinterzimmer-Politik, wo alles ausgeklüngelt wird, ist das letzte, was wir in Deutschland brauchen. Der Europäische Rat – unter Führung von Emanuel Macron – hat allerdings bei der Benennung von Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission genau dies getan: Die gewählten Spitzenkandidaten der Parteien wurden bei der Besetzungsentscheidung übergangen! Hinterzimmer par excellence!
Eine Deckelung ist zwingend
Nach meiner Meinung muss der Deutsche Bundestag wieder auf das ursprünglich angedachte Normalmaß zurückgeführt werden, denn ansonsten wird es bald 1000 Abgeordnete statt 598 geben. Schon 709 sind deutlich zu viel, wenn man dies mit anderen Staaten vergleicht. Im US-Repräsentantenhaus versammeln sich 435 Mitglieder, in der französischen Nationalversammlung 577 Abgeordnete und im britischen Unterhaus 650 Abgeordnete. Eine geradezu zwanghafte Ausweitung der Abgeordnetenzahl gibt es nur in Deutschland, und – wie könnte es anders sein – es explodieren bei uns auch die Raumansprüche. Im Londoner Unterhaus hat nicht einmal jedes Mitglied einen eigenen Sitzplatz. So fällt es gar nicht auf, wenn nur die Hälfte der Abgeordneten anwesend ist.
Die Begrenzung der Abgeordnetenzahl fällt schwer, wenn man mit deutscher ‚Gründlichkeit‘ auch das letzte Überhangmandat noch ausgleicht. Für völlig abwegig halte ich alle Reformvorschläge, die ausgerechnet die Zahl der direkt im Wahlkreis gewählten Abgeordneten verkleinern möchte, wie dies Wolfgang Schäuble vorschlug. Eher müsste man damit leben, dass eben nicht alle Überhangmandate ausgeglichen werden. Hier scheint das Bundesverfassungsgericht einen gewissen Spielraum zugelassen zu haben. Ausgelotet werden sollte auch eine Lösung, die 598 Abgeordnete festschreibt: Die eine Hälfte direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete, die andere Hälfte über Parteilisten nach Stimmanteilen im Bund oder nach Ländern. Es kann und darf nicht sein, dass das Parlament immer mehr anwächst. Auch die Zahl der Minister und Staatssekretäre sowie der Beamten und Angestellten in den Ministerien schwillt immer weiter an. So ist der Reichstag zunehmend umgeben von Betonklötzen, die ständig erweitert werden, ohne dass ich dadurch eine Verbesserung oder gar Beschleunigung der politischen Entscheidungsprozesse erkennen könnte. Eine Deckelung wäre nicht nur bei der Zahl der Abgeordneten, sondern beim ministeriellen Tross gleichfalls dringend geboten.
Mit den Ausgleichsmandaten nimmt die anteilige Gewichtung der Direktmandate ebenfalls ab. Da ist es besser, einem der Direktbewerber, den eine große Mehrheit in seinem oder ihrem Wahlkreis nicht haben wollte, kein Mandat zu geben, als die Positioin von gewählten Abgeordneten mit breitem Rückhalt in ihrer Region zu beeinträchtigen.
Wo Direktbewerber schwach abschneiden, ist der Wahlkreis meistens auch durch (Listen-) Abgeordnete anderer Parteien gut vertreten.