Feigenblätter zur Ruhigstellung der Bürgerschaft
Manchmal weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll, wenn sich Politiker in unserem Land neue Gremien einfallen lassen, um sich nicht zu eng und direkt mit den Meinungen und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger befassen zu müssen. Besonders auffällig ist dies bei Bündnis 90/Die Grünen, die sich in ihrer frühen Sturm- und Drangphase noch für Bürgerentscheide und Volksabstimmungen stark machten. Doch mit dem Verschwinden der selbstgestrickten Pullis scheint der richtige Ansatzpunkt, die Bürger intensiver in die politische Willensbildung einzubeziehen, im Abfalleimer der Parteigeschichte gelandet zu sein. Stattdessen gibt’s in Baden-Württemberg unter dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann Bürgerforen als sogenannte ‚dialogische Bürgerbeteiligung‘, bei der sich rd. 50 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger z. B. Gedanken über die milliardenschwere Opernsanierung machen dürfen, und schon können die schwarz-grüne Landesregierung und die Stadt Stuttgart hinter diesem Feigenblatt ihre Blößen in Sachen Bürgerbeteiligung verstecken. Nun setzt die Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP in Berlin – gemeinsam mit der Linken – noch eins drauf, und möchte pro Jahr drei Bürgerräte tagen lassen, beginnend mit der Frage unserer Ernährung. Ob dieses armselige Feigenblättchen allerdings gleich für vier Parteien reicht, die augenscheinlich beim direkten Kontakt zu uns Bürgern Nachholbedarf haben, das wage ich zu bezweifeln.
Kaffeekränzchen gegen Politikverdrossenheit?
Eine verstärkte Beteiligung der Bürgerschaft an den politischen Diskussionen und Entscheidungen ist für mich zwingend, wenn wir der Unzufriedenheit mit der Politik in weiten Kreisen entgegenwirken wollen. Ganz bewusst habe ich Diskussionen und Entscheidungen in einen direkten begrifflichen Zusammenhang gesetzt, denn darum geht es! Noch ein freundliches Kaffeekränzchen mit gepflegtem und natürlich angeleitetem Austausch wird dabei nicht wirklich helfen. Bei den lokalen Entscheidungsprozessen müssen Bürgerinnen und Bürger umfassender als bisher einbezogen werden, was für Fragen auf regionaler, Landes- oder Bundesebene in gleicher Weise gilt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, denn die Mitspracherechte werden bei Planungen eher beschränkt, um vorgeblich zügiger entscheiden zu können. Wenn sich der am Ort ansässige Bürger z.B. bei Windkraftanlagen oder der Ansiedlung eines Großunternehmens – wie Tesla in Brandenburg – weniger einbringen kann, dann hilft ein Bürgerrat im Grund auch nicht weiter. Politikverdrossenheit breitet sich in Deutschland aus, und dies ist eine Folge der Politik der Ampelregierung und der oppositionellen CDU/CSU, die die unzufriedenen Mitbürger nicht auffangen können, und so driften sie in Richtung AfD ab. Ob hier ein Bürgerrat mit dem vielversprechenden Titel: ‚Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben‘ Abhilfe schaffen kann, das können nur Politiker glauben, die sich in ihr Wolkenkuckucksheim zurückgezogen haben.
Wer – wie die Ampelregierung – eine Wahlrechtsreform verabschiedet hat, die manchem direkt gewählten Abgeordneten den Einzug in den Bundestag verwehren wird, der mag so viele Bürgerräte einberufen, wie er möchte, der Unmut wird zunehmen! Wenn alle über Parteilisten gewählten Abgeordneten ihr warmes Plätzchen im Bundestag einnehmen können, der direkt im Wahlkreis gewählte Kandidat dagegen draußen bleiben muss, weil auf seine Partei mehr Direktmandate entfallen als ihr nach dem Prozentsatz der Wählerstimmen zustehen, dann ist es ein schlechter Scherz, mit Bürgerräten die Menschen einbeziehen zu wollen. Auf diese demokratiegefährdende Attacke bin ich bereits in meinem Blog-Beitrag eingegangen: ‚Wahlrechtsreform: Trotz Direktmandat nicht im Bundestag? Der Vorschlag der Ampelregierung gefährdet die Demokratie‘. Mit Willy Brandts Satz aus dem Jahr 1969 „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ hat eine solche Wahlrechtsreform ganz gewiss nichts zu tun. Und mit Bürgerräten als Feigenblatt auch nicht!
‚Bürgerrätlein‘ als Ersatz für breite Einbeziehung
Als Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg versuchte Gisela Erler von 2011 bis 2021, den Begriff Bürgerbeteiligung umzudeuten, und – wie konnte es anders sein – sie wurde ebenfalls bei der Vorbereitung der Bürgerräte im Bund gehört: Die Einbeziehung aller interessierten Bürgerinnen und Bürger im Sinne echter Bürgerbeteiligung degenerierte in Baden-Württemberg zu einem 50-köpfigen Gremium von Mitbürgern, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden. Sie sprachen über die Sanierung des Opernhauses in Stuttgart, die eine Milliarde Euro oder mehr verschlingen dürfte. Eifrig warben die Landesregierung und die Landeshauptstadt für das umstrittene Vorhaben, und die kleine Gesprächsrunde sah die Milliardenausgabe positiv und hatte nichts gegen gravierende Veränderungen am denkmalgeschützten Gebäude einzuwenden. So richtig passt dies nicht zu den Ergebnissen einer vom Bund der Steuerzahler im gleichen Zeitraum in Auftrag gegebenen repräsentativen Civey-Umfrage „Sollte die Sanierung der Staatsoper in Stuttgart Ihrer Meinung nach neu geplant werden, weil sie mit Steuergeldern in einer Höhe von über einer Milliarde Euro zu teuer ist?“ Auf diese Frage antworteten 77, 1 Prozent der Befragten aus Baden-Württemberg mit ja und sprachen sich für eine Neuplanung der Sanierung aus. In Stuttgart fiel das Ergebnis ähnlich aus: 74,2 Prozent der Befragten stimmten für eine Überprüfung der Planung. Das Votum ist mehr als eindeutig, doch Landesregierung und Gemeinderat störte das nicht im Mindesten. Wäre hier statt eines Bürgerforums nicht eine Volksabstimmung auf der Tagesordnung, wenn man es mit der Bürgerbeteiligung ernst meint? Eine Volksabstimmung fürchten die Grünen in Baden-Württemberg allerdings wie der Teufel das Weihwasser, denn sie propagierten die direkte Einbeziehung der Bürgerschaft in die Entscheidungsfindung nur bis zu ihrer Niederlage beim Ringen um Stuttgart 21 – einem Tiefbahnhof mit Schnellbahntrasse zwischen Stuttgart und Ulm.
Eine befriedende Wirkung hatte das Bürgerforum zur Opernsanierung in Baden-Württemberg wohl kaum, doch kam es der Landesregierung zu pass, um den Kritikern vorhalten zu können, sie würden den Bürgerwillen nicht akzeptieren. Nun mal ganz ehrlich, wenn 50 Personen als verkleinertes Abbild der Gesellschaft herhalten müssen, dann frage ich mich wirklich, in welchem Land wir leben. Im Bund sollen dann 160 letztendlich auch per Los berufene Mitbürger unsere Gesellschaft abbilden, die aus einem Kreis von knapp 20 000 Einwohnern von ca. 80 Kommunen ausgewählt wurden. „Mit Bürgerräten wollen wir unsere parlamentarische Demokratie stärken und mehr Teilhabe ermöglichen“, betonte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas von der SPD. „Die Menschen wünschen sich mehr Dialog. Bürgerräte bieten hier eine starke Chance zur besseren Mitsprache. Für die Erfolgsgeschichte von Bürgerräten ist entscheidend, dass sie die Gesellschaft möglichst breit abbilden – und konkrete Themen behandeln, die die Menschen in ihrem Alltag betreffen.“ Wenn die Menschen mehr Dialog wünschen, wie Bundestagspräsidentin Bas unterstrich, dann dürfte es nicht reichen 160 Personen einzubeziehen! Oder gibt es jetzt schon einen politischen ‚Stellvertreterdialog‘? Mehr Dialog ist aus meiner Sicht ebenfalls äußerst wichtig, doch sollte dieser sich vor Ort bzw. auf Landes- und Bundesebene entfalten, ohne ein neues bürokratisches Monster zu kreieren. Gleich vier Dienstleister erhielten den Zuschlag, um das ‚Bürgerrätlein‘ zu organisieren: Mehr Demokratie e.V., nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung GmbH, ifok GmbH und Institut für Partizipatives Gestalten GmbH. Bei der Bundestagsverwaltung werkelt eine Stabsstelle Bürgerräte auch an diesem Projekt, doch damit nicht genug: „Der Wissenschaftliche Beirat soll aus zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anerkannter Hochschulen und Forschungseinrichtungen bestehen, die von den Fraktionen über die Berichterstattergruppe Bürgerrat möglichst im Konsens benannt werden. Der Beirat soll den Dienstleister bei der Zusammensetzung des Experten-Pools sowie bei der Gestaltung des Prozessdesigns beraten.“ Wer geglaubt hat, dass in Deutschland noch irgendetwas einfach geht, der hat sich geirrt. Die ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerrats werden so an die Hand genommen, dass sie am Schluss das gewünschte Ergebnis liefern. Zumindest aufmüpfig sollen die Bürgerräte nicht werden, denn als SPD-Politikerin dürften Bas durchaus gemischte Gefühle bewegen, wenn es um ‚Räte‘ geht. „Alle Macht den Räten“ intonierte die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) 1919, und der Vorsitzende der SPD und spätere Reichspräsident Friedrich Ebert hatte seine liebe Not, die Geburt der Weimarer Republik nicht an linksextremistischen Arbeiter- und Soldatenräten scheitern zu lassen.
Echte Bürgerbeteiligung und keine Palaverrunden
Die aktive Teilhabe von uns Bürgerinnen und Bürgern am politischen Willensbildungsprozess habe ich mir anders vorgestellt als per Losentscheid in Bürgerräten oder Bürgerforen. Wünschen würde ich mir eine direkte und sachorientierte Beteiligung bei einzelnen Themen, die sich uns gerade im Alltag stellen. Für wenig sinnvoll halte ich es, wenn in einem ausgetüftelten Prozess mit Zuhilfenahme von allerlei Dienstleistern und Wissenschaftlern gewissermaßen ein Sandkasten zusammengebastelt wird, in dem dann die ausgelosten Zeitgenossen mit Eimerchen und Schäufelchen Politik spielen dürfen! Politikverdrossenheit im allgemeinen, Unzufriedenheit mit der Bundesregierung oder gar demokratisches Bewusstsein lässt sich so nicht stärken. Und selbstredend gibt es pro Sitzungstag noch 100 Euro! Als Soziologe habe ich große Zweifel nicht nur an den Bürgerräten insgesamt, sondern ganz besonders am Glauben, diese seien wirklich repräsentativ. Wenn in einem Bundesland wie Baden-Württemberg bei über 11 Mio. Einwohnern lediglich 50 Personen als verkleinertes Abbild dienen, im Bund bei mehr als 83 Mio. Menschen 160 Teilnehmer genügen, dann frage ich mich, warum bei Meinungsumfragen in Deutschland 1 000 bis 3 000 Beteiligte eher als Mindestmaß gelten.
Bei der Planung, Genehmigung und Umsetzung eines Technologie- und Innovationszentrums für die Automobilindustrie auf 500 Hektar Fläche, an dem ich beteiligt war, haben wir ganz bewusst und so früh wie möglich alle interessierten Bürgerinnen und Bürger einbezogen. Dabei ging es nicht nur – wie mancher Politiker meint -, um das ‚Gehörtwerden‘, sondern um das Aufgreifen von Einwänden und daraus resultierende Planänderungen. Der kommunikative Prozess bezog natürlich nicht nur die gesetzlich vorgegebenen Verbände und Vereinigungen mit ein, sondern alle, die sich zu unserem Vorhaben meldeten. Letztendlich konnte die Realisierung in breitem Einvernehmen und ohne juristische Schritte von Kritikern erfolgen. Ich glaube nicht, dass wir den gleichen Erfolg hätten verzeichnen können, wenn wir ein kleines Grüppchen von Bürgern per Losentscheid einbezogen hätten.
Die Politik muss die Bürgerinnen und Bürger auf allen Ebenen in die Debatten einbeziehen und darf sie nicht mit einem ‚Bürgerrätlein‘ hier und da abspeisen. Ganz nebenbei: Bürgerrat klingt wie Gemeinde- und Stadtrat oder Aufsichtsrat, doch dort fallen Entscheidungen, im Bürgerrat wird unter umfassender Anleitung brav diskutiert. Echte Bürgerbeteiligung hat für mich nichts mit Losverfahren zu tun, denn jeder, der sich sachorientiert einbringen möchte, der muss dazu Gelegenheit bekommen. Bürgerräte sind ein Feigenblatt, das nicht der Demokratie dient, sondern nur den Unwillen vieler Politiker kaschieren soll, die Bürgerschaft in den Dialog und die Entscheidungen als Partner auf Augenhöhe einzubeziehen. Die politische Debatte gehört zu unserem täglichen Leben und darf nicht in immer neue Gremien und Palaverrunden ausgelagert werden!
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Die Ampelregierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat sich mal wieder – mit Unterstützung der Linken – ein neues Gremium ausgedacht, um sich bürgernah zu geben, ohne echte Bürgerbeteiligung pflegen zu müssen: Bürgerräte sollen – laut eines Bundestagsbeschlusses – „die Vielfalt des Meinungsspektrums besser abbilden und den Diskurs auf eine breitere Grundlage stellen“, so Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Wie das bei durch 160 per Losentscheid ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmern geschehen soll, erschließt sich mir nicht. Ganz neu ist die Idee jedenfalls nicht, denn der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte bereits 2019 als Schirmherr für einen Bürgerrat gewirkt, zu dem der Verein ‚Mehr Demokratie‘ eingeladen hatte. Thema: ‚Deutschlands Rolle in der Welt‘. Auch Schäuble schwelgte wie Bas: „Diese besondere Form der Beteiligung kann das Vertrauen in die Politik stärken und der repräsentativen Demokratie neue Impulse geben.“ Mich würde mal interessieren, wie viele Bürgerinnen und Bürger vom ersten Bürgerrat überhaupt Kenntnis genommen haben. (Bild: Ulsamer)
Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
vielen Dank für Ihre erhellende Darstellung, wie ein Bürgerrat gebildet wird, mit dem Ergebnis, dass er nichts zu entscheiden hat. Das Ergebnis überrascht nicht, da unser Staat und auch das Land, als repräsentative Demokratie organisiert sind.
Neben den vielen bei Gesetzgebungsverfahren immer beteiligten Gremien, ist kein ergänzender, unverbindlicher Sachverstand notwendig.
Vielleicht haben die Bürgerräte auch eine andere Aufgabe. Bei Asterix ist nachzulesen “Man bestimme einen Schuldigen”.
Dafür ist dann der Aufwand zu groß und der Umgang mit den Bürgerrätinnen und Räten zu respektlos.
Beteiligung im besten Fall als Alibi, macht keinen Sinn.
Das von Ihnen beschriebene Innovationszentrum stellt ein gutes Beispiel dafür dar, dass Kooperation ohne zuvor Regularien dafür zu finden, ein erfolgreiches Verfahren darstellen kann.
Mit freundlichen Grüßen aus Immendingen
Gerhard Walter