Weiterhin unruhige Zeiten auf beiden Seiten des Kanals
Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist zwar Realität geworden, die britische Fahne am Europaparlament eingeholt, doch so richtig spürbar wird dieser Schritt erst am 1. Januar 2021. Die jetzt laufende Übergangszeit sollte daher für das Aushandeln eines Freihandelsabkommens zwischen der Rest-EU und dem von Bord gegangenen Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland genutzt werden. Prinzipiell müssten beide Seiten ein hohes Interesse an einer gemeinsamen handelspolitischen Zukunft haben, aber wer weiß schon, was die nächsten Monate bringen werden? Bei Boris Johnson muss man davon ausgehen, dass er eine Verlängerung der Übergangszeit verhindern wird und lieber ohne Abkommen – hard brexit! – in die Zukunft segelt. Seine deutliche Mehrheit im Unterhaus verschafft ihm einen großen politischen Spielraum. Im Vereinigten Königreich dürften sich die Verwerfungen zwischen Schottland und der Zentralregierung in London weiter vertiefen, wenn die Scottish National Party (SNP) erwartungsgemäß auf ein zweites Referendum über die schottische Unabhängigkeit drängt. In Nordirland hat sich nach über zwei Jahren zwar eine neue – alte – Regionalregierung gebildet, aber eine möglicherweise drohende harte Grenze zur Republik Irland wird weiter für Zündstoff sorgen. Und in der Republik Irland irrlichtert die Regierung von Leo Varadkar einer Parlamentswahl entgegen.
Boris und Leo – die ungleichen Kontrahenten
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich den Austritt des Vereinigten Königreichs weiterhin für einen Fehler halte und sehr stark bedauere, doch die geringe Begeisterung für die europäische Vereinigung, die viele Briten von der ersten Stunde der EU-Mitgliedschaft an auszeichnete, schlug durch die Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel und die häufig kleinkarierten EU-Vorgaben auf allen möglichen Feldern in Frust und offene Ablehnung um. Nach meiner Meinung hätte sich der Brexit trotz des von Premierminister David Cameron angezettelten Referendums über die EU-Mitgliedschaft noch verhindern lassen, wenn der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, sowie die deutsche und die französische Regierung mehr Flexibilität gezeigt hätten. Nun kommt es darauf an, ein umfassendes Vertragswerk zu schaffen, das den Schaden für alle Beteiligten minimiert. Der Rest des Jahres 2020 sollte dafür ausreichen, wenn sich die EU nicht ins übliche Klein-Klein verliert und Boris Johnson insgeheim nicht mit einem Abgang mit Krawall liebäugelt. Der Erfolg bei den letzten Parlamentswahlen hat gezeigt, dass man Boris Johnson nicht unterschätzen darf: Er hat voll auf Risiko gespielt und gewonnen.
Die Republik Irland ist vom Brexit in besonderer Weise betroffen, obwohl die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Nachbarn Großbritannien durch die EU-Mitgliedschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten stark zurückgegangen ist. Aber die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie haben enge Verbindungen zu den britischen Konsumenten, die nicht weiter gefährdet werden sollten. Es gibt aber auch bei der Stromversorgung keine direkte Verbindung zum Beispiel nach Frankreich, sondern das irische Netz ist über den britischen Nachbarn angebunden. So tut sich die irische Regierung von Leo Varadkar seit Jahren schwer, die letzten drei Kraftwerke abzustellen, die Torf zur Elektrizitätsgewinnung nutzen. Weiterhin werden Moore zerstört, damit das Licht in irischen Haushalten nicht ausgeht. Kritische Äußerungen Varadkars zu den Brandrodungen in Brasilien verlieren so an Durchschlagskraft, da es der Premierminister im eigenen Land nicht geschafft hat, die Moore als CO2-Specher zu schützen. Premierminister Varadkar konnte noch nicht einmal die Einführung von Wassergebühren durchsetzen und taumelte von einem Desaster im nationalen Gesundheitsdienst zum anderen. Gespannt sein dürfen wir auf das Ergebnis der Parlamentswahlen am 8. Februar. Hoffentlich ergibt sich eine echte Mehrheit für Fine Gael, die jetzt die Regierung stellt, oder Fianna Fáil – jeweils mit entsprechenden Partnern. Es ist an der Zeit für einen Neustart in Dublin! Leo Varadkar bringt sein Land nicht wirklich voran.
Leo Varadkar ohne politisches Gespür
Leo Varadkar hatte im Brexit-Trubel selten ein politisches Händchen, sondern stolperte eher von einem Fettnäpfchen zum anderen. So ging der irische Premierminister im Dezember 2017 Theresa May, der damaligen Premierministerin, und dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, beim ‚Joint Paper‘ auf den Leim: Diese Mogelpackung hatte in den Augen der nordirischen Protestantenpartei DUP keine Chance, denn sie lehnten jede Sonderregelung für Nordirland ab. Varadkar sprach damals davon, die Vereinbarung sei „bullet proof“, doch sie implodierte kurz darauf. Und die Frage, wie sich eine harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland vermeiden ließ, blieb weiter offen. Die Gefahr einer harten Grenze ist noch nicht gebannt, denn das Vereinigte Königreich könnte weiterhin ohne ein umfassendes Abkommen mit der EU aussteigen. Dass Varadkar den Begriff ‚kugelsicher‘ gebrauchte, zeigte schon, wie geschichtsvergessen er ist: Kugeln und Bomben brachten Nordirland großes Leid. Die Spur des Blutes, der 3 500 Menschen seit den 1960er Jahren in Nordirland zum Opfer gefallen waren, wurde mit dem Karfreitagsabkommen am 10. April 1998 unterbrochen.
Wirklich kein Geniestreich war es, als Varadkar jüngst gegenüber der BBC den Briten vorhielt, sie müssten noch erkennen, dass sie jetzt ein kleines Land seien, das mit der weit größeren EU verhandle (“yet come to terms with the fact it’s now a small country”). Wenn Premierminister Varadkar der ehemaligen Kolonialmacht vorhält, sie seien mit über 66 Millionen Einwohner ein kleines Land, dann hat er ganz vergessen, dass die Republik Irland unter 5 Millionen Bürger zählt! Wer auch nur ein klein wenig über die generelle Einstellung und Gemütslage der Briten nachdenkt, der sollte solch alberne Vorhaltungen vermeiden. Für absolut nicht zielführend hielt ich die Entscheidung, ausgerechnet einen irischen Politiker – Phil Hogan – zum EU-Kommissar für Handelsfragen zu bestellen. Animositäten sollten politisches Handeln zwar nicht bestimmen, aber selbstredend spielen historische Gegensätze immer wieder eine Rolle.
Nicola Sturgeon fordert Unabhängigkeit
In Schottland artikuliert sich der Wunsch nach Selbständigkeit wieder stärker. Und dies wurde gerade auch durch den Brexit bewirkt. Die Scottish National Party (SNP) hofft im zweiten Anlauf bei einem Referendum eine Mehrheit für die nationale Eigenständigkeit gewinnen zu können, da die Schotten mehrheitlich für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten. So sollen der nationale und der europäische Gedanke beflügelnd wirken. Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin der schottischen Regionalregierung, braucht für eine legale Volksabstimmung allerdings die Zustimmung der Londoner Regierung, und Boris Johnson hat bereits erklärt, er werde ein Referendum über die schottische Unabhängigkeit nicht dulden. So könnte in Schottland ein zweites Katalonien drohen.
Ich habe großes Verständnis für den Wunsch vieler Schotten nach Unabhängigkeit, doch bleibt eine gewisse Skepsis, denn Schottland* wäre mit 5,4 Millionen Einwohnern durch England von der EU getrennt. Meine Frau und ich waren bereits in unserem Buch ‚Schottland – Das Nordseeöl und die britische Wirtschaft‘, das 1991 erschienen ist, eher skeptisch und betonten die Bedeutung eines föderalen Systems für das Vereinigte Königreich. Schottland bekam inzwischen nicht nur eine Regionalregierung, sondern auch mehr politischen Einfluss bei regionalen Themen. Was jedoch bis heute den britischen Regierungen fehlt, ist die Bereitschaft, mit den Schotten auf Augenhöhe zu verkehren. Gerade die konservativen Regierungen haben es versäumt, über den englischen Tellerrand hinaus zu schauen. Und sie bekamen dafür bei den Parlamentswahlen die Quittung. Diese wurde bei der letzten Wahl auch der Labour-Führung überreicht, denn der schwammige Kurs von Jeremy Corbyn hatte Brexiteers und europafreundliche Wähler in Schottland gleichermaßen verschreckt. Wirtschaftlich gesehen hätte Schottland den Weg in die Selbständigkeit während des aufkommenden Ölbooms ab den 1970er Jahren gehen müssen, doch die Öleinnahmen kamen der ganzen britischen Wirtschaft und Politik zugute. Die Ölvorräte sind inzwischen nicht nur geschrumpft, sondern die Ölindustrie steht auch in Zeiten des Klimawandels in der Diskussion. Das Streben nach Unabhängigkeit wird nur erlahmen, wenn Boris Johnson und die Tories akzeptieren, dass sich die Schotten nicht weiter von London aus gängeln lassen. Ansonsten wird die Abspaltung kommen.
Die Chancen für eine Wiedervereinigung Irlands steigen
Nicht nur in Schottland haben ausgerechnet die konservativen Premierminister von David Cameron über Theresa May bis zu Boris Johnson den Wunsch nach Unabhängigkeit beflügelt, sondern dies gilt auch für die Bestrebungen in Nordirland, die Wiedervereinigung mit der Republik Irland durchzusetzen. Im Grunde müssten die Vorsitzenden der Conservative and Unionist Party alles tun, die Union von England, Schottland, Nordirland und Wales zu erhalten, doch ihre Politik zerrüttet die Union, die die Tories im Parteinamen führen. In Nordirland könnten sich die Mehrheitsverhältnisse drehen, denn die katholische Minderheit, die sich in weiten Teilen für die Wiedervereinigung mit der Republik Irland erwärmen lässt, liegt zahlenmäßig nur noch wenig hinter der protestantischen Mehrheit. Wenn sich nun auch noch proeuropäische Protestanten in Nordirland mit einer Wiedervereinigung anfreunden könnten, dann würde diese wahrscheinlicher.
Bisher zeigten sich viele protestantische Nordiren ablehnend, wenn es um ein Zusammengehen mit der vom Katholizismus über Jahrzehnte geprägten Republik ging. Doch inzwischen ist das tiefere religiöse Moment längst hinter wirtschaftliche und soziale Fragen zurückgefallen. In der Republik sind manche Bürger zögerlich, da sie ungern die Lasten übernehmen möchten, die bisher die britischen Steuerzahler tragen: Nordirland hängt am Tropf der Briten und braucht jährlich finanzielle Unterstützung in Höhe von rd. 10 Mrd. Pfund. In Nordirland stimmte im Übrigen die Mehrheit der Bürger für einen Verbleib in der EU – wie gleichfalls auch in Schottland.
Gespaltene Gesellschaft
Nicht nur die Union mit Schottland und Nordirland ist durch den Brexit stärker bedroht, sondern auch die Spaltung der gesamten Gesellschaft hat zugenommen. Zwar ist es Boris Johnson gelungen, eine deutliche Mehrheit der Wähler für seinen EU-Austritt zu gewinnen, doch gilt dies im Grunde nur für England, aber ist er auch der richtige Premierminister für eine Versöhnung der politischen Lager? Das wage ich zu bezweifeln, denn er greift ja immer gerne zum Vorschlaghammer, um seine Politik durchzusetzen. Wer die EU schon mal mit Hitler vergleicht, der ist eher ein Mann der Konfrontation. Sollte er dazuhin das Vereinigte Königreich zu einem Mekka für Steuervermeider und Börsenspekulanten machen wollen, in dem die Arbeiterrechte und der Umweltschutz zurückgestutzt werden, dann drohen weitere innenpolitische Konflikte.
Boris Johnson wird von seinen Wählern mit Sicherheit daran gemessen werden, ob er seine Versprechungen von einer glorreichen Zukunft des Vereinigten Königreichs einlösen kann. Die industrielle Basis ist dabei eher schwach, das Finanzwesen dagegen für einen Alleingang besser gerüstet. Neue Krankenhäuser, mehr Polizisten, sichere Grenzen, weniger Migration, Geld für die Regionen: die Liste seiner Zusagen aus dem Wahlkampf ist lang, und es ist offen, ob er fähig ist, hier zu liefern. Ich gehe davon aus, dass er gewillt ist, dies zu tun, da er sich nicht mit einer Amtsperiode begnügen möchte. Eines ist sicher, die EU wird einen sperrigen Partner auf der anderen Seite des Ärmelkanals haben, der auf seine Eigenständigkeit pocht.
EU und Vereinigtes Königreich im Wettstreit
Eigentlich sollte der Austritt des Vereinigten Königreichs ein Weckruf für die verbleibenden 27 EU-Staaten sein, doch ist dies wirklich so? Ich habe nicht den Eindruck! In der Europäischen Union dominieren weiterhin die Bürokraten, die Europa ein Regelwerk überstülpen wollen, anstatt die zentralen Herausforderungen aufzugreifen und zu lösen. Da wird mal wieder unter EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über den Wegfall der Ein- und Zwei-Cent-Münzen diskutiert, obwohl die EU noch nicht einmal eine gemeinsame Lösung für die Abschaffung der Zeitumstellung gefunden hat! Wer sich an solchen Minithemen verhakt, der spielt in der Weltpolitik natürlich keine Rolle. Bei Internet-basierten Dienstleistern – von Facebook über Twitter bis Amazon – verfällt die EU weiterhin in Regulierungswut – Datenschutz-Grundverordnung -, statt europäische Anbieter zu puschen. In der Landwirtschaft fehlt eine ökologische Neuorientierung ebenso wie bei einer durchgängigen Wasserstoffstrategie oder der Batteriezellenproduktion.
Vor diesem Hintergrund wird die britische Regierung gut beraten sein, die sich auftuenden Chancen zu nutzen, um – direkt vor der Haustür der EU – innovativen Unternehmen Freiräume zu bieten. Ein solcher Wettbewerb könnte auch die EU dazu zwingen, aus dem Schneckentempo einen Gang höher zu schalten. Aber viele EU-Politiker scheint es nicht zu stören, dass die EU in ganzen Branchen längst abgehängt wurde: So kommt die Software für PCs, Laptops, Netzwerke vornehmlich aus den USA, die Hardware aus Asien und die Solarpanele auf deutschen Dächern stammen zumeist aus China. Der von so manchem EU-Politiker und Journalisten prophezeite Absturz der Briten in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit ist noch keine ausgemachte Sache, ganz im Gegenteil. Unter Druck zeigten die Briten in der Geschichte immer wieder ihre Stärke. Ein Wettstreit zwischen dem Vereinigten Königreich – auch wenn es schrumpfen sollte – und der Rest-EU könnte beiden Seiten nutzen.
Ein Weiter-so wird es bei der EU nicht geben, auch wenn manche EU-Politiker sich dies wünschen. Da fehlt ein großer Netto-Zahler, doch der Gürtel wird nicht enger geschnallt, die Aufgaben werden nicht fokussiert, denn man hofft auf die Zahlungswilligkeit der Deutschen. Und im Europaparlament werden leider nicht alle 73 Sitze, die die Briten freimachen, eingespart, sondern flugs 27 davon unter 14 Mitgliedsstaaten aufgeteilt. Ein Einschnitt in der europäischen Politik wird so nicht zur Besinnung, sondern zum Beute machen genutzt! Auf der anderen Seite des Kanals mag vieles schief laufen, aber auf unserer ‚kontinentalen‘ Seite vermisse ich ungeheuer stark den Wunsch, unsere Staatengemeinschaft nicht nur zu verwalten, sondern in eine innovative und ökologische Zukunft zu führen. Es gilt, die Wirtschaftskraft zu erhalten, Umwelt-, Natur- und Klimaschutz auszubauen und den Wohlstand für die Bürgerschaft zu sichern.
*Literaturhinweis
Wir haben uns vor Jahren intensiv mit Schottland beschäftigt und die dortige Situation in die gesamtbritische Entwicklung einbezogen. Vieles hat sich inzwischen verändert, aber grundsätzliche Aussagen zum Sozialsystem, zu Wirtschaft und Umwelt oder zu schottischen historischen und kulturellen Besonderheiten haben ihre Aussagekraft behalten. Im einen oder anderen Fall muss man sagen: Leider.
Cordula und Lothar Ulsamer: Schottland, das Nordseeöl und die britische Wirtschaft. Eine Reise zum Rande Europas, Kriebel Verlag, Schondorf 1991, 480 Seiten. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.
5 Antworten auf „Brexit: Wohin steuert Boris Johnson Britannien?“