Theresa May und Populisten machen das Parlament zur Arena
Mehrfach bin ich in meinem Blog inhaltlich auf den Brexit eingegangen, daher möchte ich an dieser Stelle das Augenmerk auf einen Teilaspekt richten: Ausgerechnet im britischen Parlament fehlt zunehmend der viel gelobte Common Sense der Briten. Dies wurde überdeutlich in den Tagen der Brexit-Debatten. Der Ton der Auseinandersetzungen verschärfte sich, und dies in einem Moment, in dem Theresa May zu parteiübergreifenden Gesprächen eingeladen hat. Viel zu spät zeigt die Premierministerin eine minimale Dialogbereitschaft, doch nach oft sehr persönlichen Angriffen von allen Seiten dürfte die Offenheit für sachorientierte Diskussionen gelitten haben. Der eine oder andere Abgeordnete scheint sich längst vom gesunden Menschenverstand verabschiedet zu haben. Dennoch habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich die britischen Politiker gewissermaßen in der Stunde der Not noch zusammenraufen.

Theresa Mays antiparlamentarische Grundhaltung
Die direkteren Debatten, die schnelleren Rede- und Antwortbeiträge im Londoner Unterhaus habe ich immer als erfrischender angesehen als den gemächlichen Ablauf im Deutschen Bundestag. Das weite Halbrund im Berliner Reichstag vermittelt eher den Eindruck, man sei in einer Konsensversammlung, während sich im House of Commons die Regierungspartei und die Opposition unmittelbar in räumlicher Enge gegenübersitzen. Bei den letzten Debatten zum Brexit-Deal und zum Misstrauensvotum waren viele Redebeiträge jedoch so emotional, dass beinahe schon die Linien vor den vordersten Bänken auf dem Boden wieder wichtig wurden: In Zeiten, als Abgeordnete noch mit Schwert oder Degen ins Parlament einzogen, da hatte jede Seite hinter diesen Markierungen zu verbleiben, um ihre Klingen nicht kreuzen zu können.
Theresa May hat sich zu lange engstirnig auf den Weg zum Brexit gemacht: Letztendlich getrieben von den Brexiteers vom Schlage eines Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg. In falschverstandener ‚Pflichterfüllung‘ trieb sie den Ausstieg aus der Europäischen Union voran, obwohl sie ursprünglich gar nicht zur ‚Leave‘-Kampagne zählte. Wann immer es möglich war, versuchte sie das Parlament zu umgehen. Dabei hatte sie auch das aus dem 16. Jahrhundert stammende ‚Statute of Proclamations‘ im Blick, das es Heinrich VIII. ermöglicht hatte, ohne Rücksicht auf das Parlament zu agieren – und auch zwei seiner Frauen dem Scharfrichter auszuliefern. Eigentlich hätte Theresa May somit gewarnt sein müssen, aber sie besann sich dennoch nicht auf eine Kooperation mit möglichst zahlreichen Parlamentariern. Ganz im Gegenteil: Sie schuf mit ihrer im Grunde antiparlamentarischen und trotzigen Haltung das Auseinanderfallen des Unterhauses in einzelne Grüppchen. So ist es jetzt eine fast unlösbare Aufgabe, eine Mehrheit für eine Lösung des Brexit-Problems zu sammeln.

Keine Mehrheit für irgendeine Brexit-Lösung erkennbar
Und so kam es, wie es kommen musste: Theresa May fiel mit ihrem Brexit-Deal im Parlament krachend durch und bekam eine Klatsche, die selbst in historischen Dimensionen selten vorkommt. Das von ihr gesteuerte Brexit-Schiff strandete mit 432 zu 202 Stimmen, was absehbar war, hatte sie doch allen Seiten etwas versprochen, auch wenn sich aus den sich widersprechenden Zusagen keine politische Linie ableiten ließ. Hierzu finden Sie meine Analyse unter „Theresa May: Mit Vollgas gegen die Brexit-Mauer“. Am Tag nach dem Brexit-Deal-Desaster scheiterte zwar das vom Labour-Chef Jeremy Corbyn eingebrachte Misstrauensvotum: Nur 306 Parlamentarier wollten May aus dem Amt werfen, 325 stärkten ihr vorgeblich den Rücken. In Wahrheit war aber auch diese Reaktion vorhersehbar, denn die Abgeordneten der Conservative and Unionist Party haben natürlich kein Interesse, dem Sozialisten Jeremy Corbyn den Weg in 10 Downing Street zu bereiten. Und dies gilt auch für die Vertretung der nordirischen Protestanten, die Democratic and Unionist Party (DUP), die Mays Regierung seit den letzten Unterhauswahlen stützt. Theresa May kann sich so im Amt halten, doch eine inhaltliche Mehrheit lässt sich aus dem gescheiterten Misstrauensantrag nicht ablesen.
Die britische Premierministerin setzt sich mit einer Hingabe für den Brexit ein, die eine Einigung nur erschwert. Sie hat vielleicht die von Max Weber bei Politikern geforderte Leidenschaft, doch an Augenmaß fehlt es ihr in erheblichem Maße. Sie trägt zwar nicht die Schuld am Beginn des Brexit-Trauerspiels, denn ihr Amtsvorgänger, David Cameron, hatte aus eigennützigem Machtdenken das erste Referendum über einen EU-Ausstritt angestrengt. Er wollte innerparteilichen Konkurrenten das Wasser abgraben. Ein positiv verlaufenes Referendum sollte die anti-europäischen Konkurrenten genauso hinwegspülen wie seine weit rechts stehenden Parteifreunde. Doch der Schuss ging nach hinten los, und Theresa May fand dann das faule Brexit-Ei in ihrem Dienstsitz in der Downing Street vor. Aber auch sie vermasselte eine sachgerechte Behandlung des Themas, indem sie – wiederum aus Machtdenken – eine vorgezogene Parlamentswahl ansetzte. Ihr erging es wie ihrem Vorgänger Cameron: Sie verlor die Parlamentsmehrheit und musste sich auf die DUP stützen. Damit lieferte sie sich zusätzlich zu den Brexit-Hardlinern auch noch einer protestantischen Partei aus Nordirland aus, die ihr Heil in einer möglichst engen Verbindung zum ‚Mutterland‘ sieht. Damit waren Kompromisse wie der Backstop für Nordirland, der eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern soll, nahezu unmöglich.

Polit-Schreihälsen nicht Paroli geboten
David Cameron und Theresa May haben mehrfach gepokert und verloren. Die Leidtragenden sind jetzt die eigenen BürgerInnen, aber auch die europäischen Nachbarn. Nicht übersehen werden darf, dass ein großer Teil der Tagespresse – wie ‚Sun‘ und ‚Mirror‘ – den Schreihälsen um Nigel Farage, Mitbegründer der UKIP, oder Boris Johnson breite Möglichkeiten der Darstellung boten bzw. deren Halbwahrheiten und Lügen ins Volk transportierten. Nigel Farage ist ein gutes Beispiel für einen Politiker, der Unheil lostritt, so mit der UK Independence Party, sich dann aber vom Acker macht, wenn an Lösungen gearbeitet werden muss. Ähnlich verhält es sich mit Boris Johnson, der die EU gerne mit Hitler vergleicht, aber immer kneift, wenn es um konkrete Sacharbeit geht. So bewegt sich Theresa May in einem Umfeld, um das sie nicht zu beneiden ist.
Aber gerade deswegen hätte sie früher auf parteiübergreifende Gespräche setzen müssen. Doch sie tat das Gegenteil und verteidigte ihren Polit-Sandkasten mit allen Mitteln. Wer nicht hören wollte oder gar sachliche Ratschläge abgab, der flog raus. Eine lange Liste ausgeschiedener Regierungsmitglieder und Berater belegt dies deutlich. Irgendwie fällt mir dann immer Donald Trump ein! Theresa May kann nur froh sein, dass es im britischen Parlament grünbezogene Bänke gibt. Ansonsten wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass sie sich mit ihrer Politik zwischen alle Stühle setzt. Sie hat sich auch von den populistischen Schreihälsen vor sich hertreiben lassen, anstatt diesen rechtzeitig entgegenzutreten und auf eine überparteiliche Linie einzuschwenken.

Kaltherzig und ohne Empathie
Am späten Abend nach dem überstandenen Misstrauensvotum trat Theresa May nochmals vor die Tür von 10 Downing Street und erklärte, dass sie ihren Weg in Richtung Brexit unbeirrt fortsetzen werde. Sie ergänze diese Aussage mit der Erklärung, mit allen Oppositionsparteien zusammenarbeiten zu wollen. Die Premierministerin trug dies allerdings mit einer Körperhaltung und dem gewohnten kalten Ton vor, so dass es den Zuhörer erschaudern ließ. Wieder einmal vermied sie es, ihre eisige Botschaft mit einer Begrüßung oder einem empathischen Appell zu beenden. Kaum hatte die letzte Silbe ihren Mund verlassen, drehte sie sich auf der Stelle um und verschwand wieder hinter der Haustür ihres Amtssitzes. Glaubt Theresa May wirklich, so Menschen für sich gewinnen zu können? Es blieb auch an diesem Abend der Eindruck, das Gesprächsangebot sei nur vorgeschoben, in Wirklichkeit wolle sie weiterhin einsam und stur am Steuer stehen und das Brexit-Schiff vollends auf die Klippen setzen.
Apropos Klippen: Jeremy Corbyn, der selbst nie mit der EU warm wurde, da er sie für einen Kapitalisten-Club hält, sprach beim Brexit von einem Sprung in die Finsternis. Damit liegt er sicherlich nicht falsch, und auch der Plan B von Theresa May wird wohl kaum eine Lösung bringen. Diesen Alternativplan hatte ihr auch das Parlament abringen müssen, denn ein Denken in Alternativen scheint der britischen Premierministerin fremd zu sein. Aber es gibt in der Politik keine alternativlosen Pläne, auch wenn dies Theresa May und gleichfalls Angela Merkel glauben.

Zeit für (neue) Ideen
Krisenhafte Zuspitzungen müssen nicht immer ins Verderben führen, sondern können auch neue Kräfte freisetzen. Darauf hoffe ich beim Brexit weiterhin. Theresa May wird jedoch neuen Entwicklungen eher im Wege stehen, sie befördern kann sie nach den bisherigen Erfahrungen nicht. Daher wird es auf das Parlament in besonderer Weise ankommen: Die roten Linien der Premierministerin, die bereits das Aushandeln des Brexit-Deals fast zu einem Ding der Unmöglichkeit machten, dürfen nicht durch Parteigrenzen ersetzt werden. Im Grunde kann im heillos zerstrittenen Unterhaus nur ein partei- und lagerübergreifender Kompromiss noch zu einer Lösung führen.
Wenn ein hard Brexit verhindert werden soll, und dies will die Mehrheit des Parlaments, dann müssen alle Alternativen nochmals überdacht werden. Diese können von einem dauerhaften Verbleib im Binnenmarkt über das Norwegen-Modell bis zu einem zweiten Referendum oder Neuwahlen reichen. Persönlich sehe ich in einem zweiten Referendum die beste Lösung, um eine aktuelle Einschätzung der britischen WählerInnen zu erhalten. Dieses lehnt Theresa May bisher kategorisch ab und empfindet eine weitere Abstimmung als Verdrehung des Volkswillens. Aber auch hier zeigt sich wieder die im Grunde unpolitische Denkweise der Premierministerin. Beim ersten Referendum wurde der Wählerschaft mit allerlei Halbwahrheiten und Lügen vorgegaukelt, der Brexit habe nur angenehme Folgen: er würde direkt aus der ‚EU-Knechtschaft‘ in ein glorreiches Zeitalter der alten Größe Britanniens münden. Langsam aber sicher wurde jedoch immer mehr Menschen bewusst, dass das Vereinigte Königreich einen beschwerlichen Weg vor sich haben dürfte. Aber auch der gesamten EU muss klar sein, dass unsere Europäische Union dringender Reformen bedarf: Wir brauchen eine Fokussierung auf die zentralen europäischen Themen, die national oder regional nicht befriedigend zu lösen sind.

Die Fallhöhe ist für alle erheblich
‚Wer springt als erster von der Klippe?‘, so frage ich im Titel des Beitrags. Ich hoffe, dass niemand sich dies antut, sondern politisch gesehen noch ein gangbarer Ausweg für unsere Nachbarn im Vereinigten Königreich und für die Europäische Union gefunden wird. Sollte das Auskundschaften eines Kompromiss-Weges noch etwas dauern, so sollten wir diese Zeit investieren – und dies trotz der nahenden Europawahlen. Inhaltlich wird es kaum möglich sein, das Brexit-Paket insgesamt nochmals aufzudröseln, doch sind an der einen oder anderen Stelle sicherlich noch Konkretisierungen denkbar. Auf keinen Fall darf die Rückfallposition für Nordirland entfallen, denn eine harte Grenze könnte direkt wieder in einen blutigen Konflikt in Nordirland münden.
Einen Ausweg aus dem Brexit-Chaos werden unsere britischen Nachbarn nur finden, wenn Theresa May dem Parlament wirklich die Entscheidungsmacht über den Brexit zubilligt und aufhört zu spalten! Versöhnung ist notwendig. Der Dialog ist zwingend, und diesem sollte sich auch Jeremy Corbyn nicht verschließen. Im Gegensatz zu den anderen Oppositionsparteien, die den Gesprächsfaden aufgegriffen haben, den die Premierministerin widerwillig zu spinnen bereit ist, verlangt er, vor einem ersten Treffen müsse May einen hard Brexit ausschließen. Der Labour-Chef sollte aufhören, nur auf Neuwahlen zu zielen! Wenn Theresa May und Jeremy Corbyn in die politische Realität zurückfinden, dann gibt es noch Hoffnung, den Brexit oder zumindest einen ungeordneten Ausstieg aus der EU zu vermeiden.


6 Antworten auf „Brexit: Wer springt als erster von der Klippe?“