Ein Ausstieg ohne Abkommen rückt näher
Als Folge der Corona-Pandemie scheinen nicht wenige Politiker und Mitbürger den realen Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union – und damit aus Binnenmarkt und Zollunion – verdrängt zu haben: Im rechtlichen Sinne ist der Brexit zwar schon vollzogen, doch die Übergangsfrist läuft Ende 2020 unaufhaltsam ab. Beim britischen Premierminister Boris Johnson können wir getrost davon ausgehen, dass ihm ein Austritt ohne Abkommen mit der EU weniger Kopfschmerzen bereiten dürfte, als so manchem EU-Politiker. Im Grunde hat der britische Premierminister immer auf einen harten Bruch mit der ungeliebten Europäischen Union gesetzt, und er hat diese tiefgreifende Veränderung auch seinen Wählern versprochen. Da kommt ihm Covid-19 vielleicht nicht so ungelegen, denn wirtschaftliche Probleme nach einem Austritt ohne Nachfolgevertrag kann er der Seuche aus China zurechnen und muss nicht dafür geradestehen. Auf Seiten der EU frage ich mich allerdings, ob politische Maximalforderungen einen Sinn machen, die bei vielen Briten den Verdacht nähren, die Brüsseler EU-Bürokraten wollten sie weiter am so empfundenen Gängelband führen.
Maximalforderungen führen nicht weiter
Wenn wir Michel Barnier, dem Chefverhandler der EU in Sachen Brexit, folgen, dann müssten auch in Zukunft die Briten die Sozial- und Umweltstandards der EU einhalten, sich Urteilen des Europäischen Gerichtshofs beugen, Fischer aus anderen EU-Staaten in ihrem Hoheitsgebiet die Netze auswerfen lassen und sich beim Angeln ansiedlungswilliger Firmen an die EU-Beihilferegelungen halten. Im Grunde kann nur ein unpolitisch denkender Verhandler Abmachungen einfordern, die den Status vor dem Austritt der Briten gewissermaßen unter neuem Titel beibehalten. Aber mal ganz ehrlich, wer tritt denn aus einem ‚Verein‘ aus, um sich anschließend an die Statuten des Clubs zu halten, dem man den Rücken gekehrt hat? So wenig ich Boris Johnsons Art der Politik mag, so wenig Verständnis habe ich für die Verhandlungslinie der verbliebenen EU-Partner.
Ich frage mich, wer auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet einen Franzosen als Verhandlungsführer einzusetzen: Nichts gegen die politische Erfahrung von Michel Barnier, aber bereits die Verhandlungen bis zum vollzogenen Brexit haben doch gezeigt, dass deutlich zu wenig auf die britische Denkweise eingegangen wurde. Und der französische Präsident Emmanuel Macron ist in seiner Amtszeit den Briten unnötigerweise immer wieder auf die Zehen getreten. Die EU-Kommission setzte noch eins drauf und brachte es fertig, Phil Hogan zum Handelskommissar zu berufen – ausgerechnet einen Iren! Wer das Spannungsverhältnis zwischen der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich kennt, der kann da nur den Kopf schütteln. Im britisch-irischen Verhältnis geht es nicht nur um den Erhalt des Friedens in Nordirland, sondern auch um die jahrhundertelange Unterdrückung der Iren durch die britischen Kolonialherren. Doch die Personalie hat sich jetzt von selbst erledigt, denn Hogan reichte seinen Rücktritt ein: die irische Regierung hatte ihm dies nahegelegt, weil er sich über die Corona-Restriktionen hinweggesetzt hatte. Das irische Regierungsgespann Micheál Martin und Leo Varadkar versucht, den Posten des Handelskommissars weiter für Irland zu sichern, allerdings hätten wir dann wieder die gleiche unglückliche politische Konstellation – nur mit einer neuen Person.
Abkommen darf nicht an Bürokraten scheitern
Natürlich hoffe ich weiterhin auf ein solides Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union, doch die Zeit wird immer knapper: ein entsprechendes Vertragswerk müsste vor Jahresende vom Europaparlament und den nationalen Volksvertretungen abgesegnet werden. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, so heißt es im Volksmund zurecht. Fehlt es dann vielleicht gerade am politischen Willen, an Einsicht und Vernunft? Boris Johnson kann es nicht riskieren, den Rückhalt bei den Brexiteers zu verlieren, denn die ‚Pro-Europäer‘ setzen eh nicht auf ihn. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass auch viele durchaus proeuropäisch denkende Engländer für den Brexit gestimmt haben, weil sie die überbordende EU-Bürokratie ebenso ablehnen wie die Öffnung der Grenzen für Migranten ohne Asylgrund. Hier hat schon Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident versagt, denn die EU hätte durchaus an den politischen Stellschrauben drehen können, um die Briten im Boot zu behalten. Aber Juncker kam dem früheren britischen Premierminister David Cameron nicht entgegen, wohl auch aus persönlichen Gründen: Cameron hatte ihn bei der Wahl zum EU-Kommissionspräsidenten nicht unterstützt. Und eine Kehrtwende – mit mehr Einfühlungsvermögen – ist von seiner Nachfolgerin Ursula von der Leyen auch nicht zu erwarten, die als deutsche Verteidigungsministerin noch nicht einmal in der Lage war, die Truppe mit ausreichender und passender Unterwäsche für Wintereinsätze zu versorgen.
Verfolgt man die politische Diskussion vor Ort in Irland und dem Vereinigten Königreich, dann wird deutlich, dass ein Vertrag an mangelnder Kompromissbereitschaft bei Einzelfragen scheitern könnte, was sich gleichfalls bei den Chefverhandlern in Brüssel zeigt. Ein Beispiel sind die Fischereirechte. Die Briten wollen ihre Gewässer für Trawler aus der EU sperren, die irischen Fischer fühlen sich ohnehin zurückgesetzt, da sich in grauer Vorzeit die irische Regierung für höhere Agrarförderungen bei Fischereirechten nachgiebig zeigte, und daher sind unzählige spanische und französische Trawler in irischen Gewässern unterwegs. Die irischen Fischer befürchten zurecht, dass sich der Druck in ihren Fanggebieten weiter erhöhen könnte, wenn die britischen Bereiche für EU-Boote gesperrt sind. Nun kann man über die Bedeutung der Fischerei lange streiten, und ich oute mich als Fischesser, aber es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ein Gesamtabkommen an Fischereirechten scheitern würde. Auch wenn es schmerzt, die EU-Verhandler müssen klare Prioritäten setzen, denn alle Wünsche werden sich nicht erfüllen, und dies schon gar nicht, wenn Boris Johnson am Tisch sitzt.
Kampf um Unternehmensansiedlungen
Boris Johnson hat seinen Landsleuten eine glorreiche Zukunft vorausgesagt, wenn sie für den Brexit stimmen, und daher muss er jetzt und zukünftig um jedes ansiedlungswillige Unternehmen kämpfen und den bereits ansässigen Firmen die eine oder andere ‚Wohltat‘ zukommen lassen. Da bieten sich Fördermittel als Lockmittel ebenso an wie Steuervorteile oder geringere Sozial- und Umweltstandards. Damit würde sich die Wettbewerbsfähigkeit zu Lasten der EU-Staaten verschieben, doch Boris Johnson wird ohne solche altbewährten Mittelchen einen wirtschaftlichen Dämpfer erhalten. Dies muss er nach Kräften vermeiden, denn er möchte ja über die laufende Amtszeit hinaus Chef in No 10 Downing Street bleiben. Wenn die EU-Verhandler um Barnier weiter versuchen, überall gleiche Standards für das Vereinigte Königreich und die EU durchzusetzen, dann sind sie auf dem Holzweg! Bei Wirtschaftsförderung und Steuern kann Boris Johnson im Grunde nicht einknicken, ansonsten hätte er sein Land auch nicht mit allen politischen Tricks aus der EU herausführen müssen.
Ganz nebenbei bemerkt: Wo sind denn die gleichen Standards bei Unternehmenssteuern innerhalb der EU, die Barnier & Co. vorgeben in den Verhandlungen zu verteidigen? Der Fall Apple hat mehr als deutlich gezeigt, dass die Iren sogar vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) Recht bekommen, wenn sie das US-Unternehmen mit Minizinsen freudig stimmen. Selbstredend betonen sowohl die irische Regierung als auch die Apple-Führung, die Ansiedlung innovativer Arbeitsplätze auf der grünen Insel hätte nichts mit der Steuersituation zu tun, doch dies halte ich nun wirklich für eine Schutzbehauptung. Margrethe Vestager bekam vom Gericht der Europäischen Union eine schallende Ohrfeige, verpasst. Nur ganz unverfrorene EU-Politiker können dem britischen Verhandlungsteam somit einen Gleichklang bei der Wirtschaftsförderung bzw. Steuern abringen wollen. In allen Verhandlungsetappen sollte besonders die EU bedenken, dass die Briten mit oder ohne Anschlussabkommen nicht nur ein wichtiger Handels-, sondern auch ein unerlässlicher Sicherheitspartner in dieser Welt bleiben. Freunde sollte man nicht verprellen, selbst wenn sie einem mal auf die Nerven gehen.
Verlängerung oder Uhr anhalten?
Boris Johnson hat den Termin für eine Verlängerung der Übergangsfrist verstreichen lassen, weil sie nicht in sein Konzept passen würde, und wer bei solchen Verhandlungen Druck rausnimmt, der hat im Grunde schon verloren. “Am 1. Januar 2021 werden wir wieder die Kontrolle übernehmen und unsere politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit wiedererlangen”, twitterte das britische Kabinettsmitglied Michael Gove ganz folgerichtig – ein No-Deal-Brexit rückt damit näher. Ein Bruch ohne Folgeabkommen, das Zölle vermeidet und einen gegenseitigen Marktzugang sichert, würde zu Verwerfungen führen – und dies noch mehr in Corona-Zeiten. Die Welt würde dennoch nicht untergehen, denn die EU treibt auch Handel mit Nichtmitgliedern. Und vielleicht sind die Tage hochkomplexer Vertragswerke in Handelsfragen ohnehin gezählt: beim Mercosur-Abkommen wurde das mehr als deutlich, denn hier zeigen sich bereits vor der Verabschiedung immer mehr Mängel – nach einem Jahrzehnt intensiver Gespräche! Einzelne Themenfelder lassen sich zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich vielleicht eher bearbeiten, wenn nicht länger ein Gesamtabkommen angestrebt wird. Interesse an einer möglichst guten weiteren Zusammenarbeit gibt es auf beiden Seiten des Ärmelkanals zumindest bei den Unternehmen.
Politiker sind im Ernstfall meist erfindungsreich: Wenn schon keine Verlängerung, so könnte die politische Uhr angehalten werden, was zumindest bei so manchem anderen Verhandlungsmarathon noch Luft zum Nachdenken geschaffen hat. Aber mit Uhren hat die EU ja ihre eigenen Erfahrungen: Hatte nicht Juncker lauthals versprochen, die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit abzuschaffen, da die Bürgerschaft dies wünsche? Und was ist bisher passiert? Nichts! Die EU hat die Aufgabe, eine neue Regelung zu erarbeiten, ganz einfach an die Mitgliedsstaaten zurückgegeben! Wer mit gewaltigem Bürokratenaufwand nicht einmal in der Lage ist, eine solche Frage zu lösen, der muss sich erfahrungsgemäß mit den Verhandlungen um ein Abkommen mit dem Vereinigten Königreich noch schwerer tun.
Friedensprozess in Nordirland in Gefahr
Sollte es zum Jahreswechsel 2020/21 zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu einem ‚hard Brexit‘ kommen, so muss alles getan werden, dass darunter der Friedensprozess in Nordirland nicht leidet, der seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 durchaus Erfolge erzielt hat. Dem Nordirlandkonflikt fielen 3 500 Menschen seit den 1960er Jahren zum Opfer. Das Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 unterbrach diese Spur des Blutes. Explodierende Bomben und hinterhältige Morde durch katholische und protestantische paramilitärische Organisationen gehörten zunehmend einer dunklen Vergangenheit an, die die Iren beschönigend ‚Troubles‘ nennen. Aber auch die Menschenrechtsverletzungen durch die nordirische Polizei und das britische Militär verloren ihre Schärfe, zu deren Höhepunkt der Bloody Sunday in Derry gehört hatte: Britische Fallschirmjäger eröffneten am 30. Januar 1972 das Feuer auf unbewaffnete und friedliche Demonstranten und töteten 14 Zivilisten, darunter auch Kinder. Mit jenem barbarischen Gewaltakt verlor die britische Armee jegliche Glaubwürdigkeit, und bei den britischen Konservativen gibt es noch immer einflussreiche Politiker, die diese Menschenrechtsverletzungen leugnen. Der Brexit darf nicht zu einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland führen, denn dies würde den fragilen Frieden gefährden.
Gerade bei Nordirland kommt es darauf an, dass nicht nur Formelkompromisse gefunden werden, sondern auch gemeinsam alles getan wird, um den Friedensprozess weiter mit Leben zu erfüllen. Die Stimmen der Politiker, die sich für den Frieden einsetzten und dabei auch über ihren eigenen politischen Schatten springen mussten, werden leiser, viele sind verstummt, und damit gerät teilweise leider aus dem Blick, wie unendlich schwer es war, die Sackgasse der Gewalt zu verlassen. John Hume, der für seinen unermüdlichen Einsatz für den Frieden in seiner nordirischen Heimat den Friedensnobelpreis erhielt, ist im Juli 2020 verstorben. Er hatte, aus dem katholischen Milieu kommend, stets für einen friedlichen Ausgleich zwischen den verfeindeten Gruppierungen geworben. Ian Paisley, der seine eigene protestantische Partei und Kirche gründete, um die dem Teufel zugeordneten Erzfeinde – die Katholiken – zu bekämpfen, trat dann schweren Herzens in die erste nordirische Regionalregierung ein, in der er ausgerechnet auf Martin McGuinness traf, der als einer der Strategen der Irish Republican Army (IRA) den bewaffneten Widerstand der katholischen Minderheit organisiert hatte. Die Opfer des nordirischen Bürgerkriegs, aber auch die Streiter für einen Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen dürfen nicht vergessen werden, wenn es um Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich geht! Die Hardliner in der Conservative and Unionist Party von Boris Johnson hatten noch nie ein offenes Ohr für die weitere Gestaltung des Friedensprozesses in Nordirland.
Partnerschaft betonen
Wenn man so manchen Auftritt von Boris Johnson erlebt, dann ist es schwer, sich auf Verhandlungen mit ihm einzulassen. Aber die Briten haben gesprochen und ihn gewählt, wobei ihm das Mehrheitswahlrecht zugutekam. Doch dies ändert nichts daran, dass wir England, Schottland, Wales und Nordirland sicherlich nicht missen wollen, wenn es um europäische Fragen geht. Das Vereinigte Königreich gab es vor Boris Johnson und wird es auch nach ihm geben, vielleicht etwas kleiner, wenn sich in Schottland das Unabhängigkeitsstreben weiter verstärkt und in Nordirland und der Republik Irland in der Zukunft Mehrheiten für die Wiedervereinigung stimmen sollten, die auch im Karfreitagsabkommen als Möglichkeit vorgesehen ist. Wer heute leichtfertig ausruft, wem es nicht in der EU passe, der solle doch gehen, der übersieht dabei ganz, dass wir auf die Briten in Zukunft als Partner nicht verzichten können – und wollen!
Mit dem Vereinigten Königreich verliert die EU nicht nur einen Nettozahler, sondern auch einen Staat, der sich in Wirtschaftsfragen für den Markt und gegen eine ständige Schuldenmacherei einsetzte. Dies werden gerade die deutschen Steuerzahler noch zu spüren bekommen, wenn sich die EU nicht zu einer klaren Fokussierung auf ihre zentralen Aufgaben bekennt. Immer mehr Bürokratie und fehlende Innovationsbereitschaft zeigen sich sowohl im Agrarbereich, als auch bei Zukunftsthemen wie Wasserstoff, IT- bzw. Internet-Dienstleistungen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Die EU ist zum großen Regulierer geworden, doch es fehlt an der Offenheit für die ‚Industrialisierung‘ von Ideen. Da werden in Brüssel und Straßburg lieber Verordnungen zum Datenschutz gebastelt, anstatt mehr dafür zu tun, dass Hard- und Software für die Kommunikation aus Europa kommt. Nicht wenige Briten hat genau diese Einstellung dazu bewogen, für den Brexit zu stimmen.
Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
hoffentlich konnten Sie mit Ihrer Stellungnahme auch Politiker zur Erkenntnis bringen, dass es nicht um Fisch sondern um Menschen geht, für die der Vollzug der Trennung geregelt werden muss.
Das Ende könnte dann durchaus sein, England schließt Verträge mit dem Staat Schottland und dem wiedervereinigten Irland. Diese denkbare Entwicklung ist, worauf Sie zurecht hinweisen gefährlich.
Es wird Zeit, dass sich alle Seiten von den Positionen lösen, um gemeinsame Interessen umsetzen zu können.
Zumindest muss der gemeinsame Wille darauf gerichtet sein, dass es zu keinem irischen Konflikt kommen darf.
Gute Verhandlungsergebnisse sind nur möglich, so zumindest habe ich es vor vielen Jahren von meinem Vater gelernt, wenn die Verhandler gedanklich immer wieder auch auf der anderen Seite des Tisches Platz nehmen.
Vielen Dank für Ihren Erkenntnis mehrenden Artikel.
Mit freundlichen Grüßen aus Immendingen
Gerhard Walter