Auf dem Weg zum Brexit wird die Demokratie ausgehebelt
Nicht nur die Opposition im Vereinigten Königreich, sondern auch die europäischen Nachbarn zeigten sich überrascht von Boris Johnsons Angriff auf die parlamentarische Demokratie. Wer mal so eben das gewählte Parlament in Urlaub schickt, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, der wäre noch vor kurzem in jeder Bananenrepublik als Putschist bezeichnet worden. Aber ganz so aus blauem Himmel kam der Vorstoß des britischen Premierministers nun wirklich nicht. So habe ich beispielsweise in meinem Blog-Beitrag „Boris Johnson: Die Mehrheit, die keine ist“ darauf hingewiesen, dass die Getreuen um Johnson genau daran tüfteln, wie man das Parlament unter Deck einsperren kann, um mit voller Kraft in Richtung No-Deal-Brexit segeln zu können. Und auch die Vorgängerin in 10 Downing Street liebäugelte damit, sich auf das ‚Statute of Proclamations‘ aus dem Jahre 1539 zu berufen, um die missliebigen Mitglieder des Unterhauses aus dem Brexit-Prozess auszuschließen. Wollte Theresa May ihre Anleihen bei Heinrich VIII. nehmen, so behauptet Johnson, die geplante Vertagung des Parlaments sei doch üblich, wenn eine neue Parlamentsperiode mit einer Rede der Königin eingeläutet werden solle. Seine politischen Gegner haben Johnson wohl unterschätzt, der seine politischen Vorstellungen mit allen Mitteln, selbst mit dem Vorschlaghammer, durchsetzen will.
Johnson nutzt die Schwäche seiner Kontrahenten
Manchmal frage nicht nur ich mich, ob die immer wieder gepriesene britische Demokratie heute noch in der Lage ist, Politiker vom Schlage eines Boris Johnson auszubremsen. Und Typen wie er oder Donald Trump schicken sich an, unsere traditionellen Politikprozesse ad absurdum zu führen. Wie kann es sein, dass ein Premierminister das Vereinigte Königreich auch ohne Abkommen aus der Europäischen Union führen will, obwohl er nicht vom Unterhaus in seinem Amt bestätigt wurde? Gewählt wurde er lediglich von einer Mehrheit der Mitglieder der Conservative and Unionist Party: Rd. 92 000 Parteimitglieder votierten für Boris Johnson. Dies entspricht etwas mehr als einem Zehntel Prozent der britischen Bevölkerung! In einem Land, das sich gerne als Gralshüterin der Demokratie versteht, müsste doch zumindest eine Parlamentsmehrheit dem neuen Premierminister das Vertrauen aussprechen, ehe dieser sich daran machen kann, weitreichende Entscheidungen zu fällen. Seine theoretische Mehrheit betrüge ohnehin nur eine Stimme, und dies auch nur, wenn alle Parlamentarier der Torys und der nordirischen Democratic and Unionist Party (DUP) für ihn stimmen würden. Angesichts seines angepeilten No-Deal-Brexits hat er jedoch nicht einmal die eigene Fraktion hinter sich.
Also was bleibt Boris Johnson? Er muss versuchen, sein Austrittsversprechen „do or die“, am Parlament vorbei durchzusetzen. Zwar sind die Mehrheiten im Londoner Unterhaus seit dem Brexit-Referendum 2016 unklar, allerdings hat sich immer eine Mehrheit der Abgeordneten gegen einen No-Deal-Brexit ausgesprochen. Leider konnten sie sich jedoch zu keinem klaren Beschluss aufraffen, welchen europapolitischen Weg sie denn gemeinsam gehen wollen. Und gerade aus dieser unübersichtlichen Lage zieht Johnson jetzt seine Kraft. Somit tragen natürlich auch die völlig zerstrittenen Grüppchen im Parlament – von Fraktionen kann man zumindest bei den Konservativen und Labour nicht mehr sprechen – eine gehörige Mitschuld am Chaos. Und die Rest-EU der 27 ist nicht schuldlos, denn wie kann man einen Vertrag aushandeln, der im Partnerland nicht umgesetzt werden kann? Aber eine naive Verhandler-Truppe um Michel Barnier hat wohl allen Ernstes geglaubt, die reaktionären hard-Brexiteers bei den Torys und der DUP würden einen Backstop hinnehmen, der eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern sollte. Selbst der irische Premierminister Leo Varadkar erklärte, die Regelungen seien „bullet proof“. Schon bei seiner Wortwahl lag er völlig daneben, denn der nordirische Konflikt kostete 3 500 Menschen das Leben. Varadkar lag nicht nur bei dieser Einschätzung mal wieder völlig daneben!
Zerfällt das Vereinigte Königreich?
Umgeben von einer solchen Laienspielgruppe – nicht zuletzt angeführt vom Noch-EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und der glücklosen Theresa May – können sich Politiker wie Boris Johnson in Szene setzen. Auch das unklare Spiel des Labour-Chefs Jeremy Corbyn erlaubte Johnson seine Winkelzüge. Corbyn sieht bis heute in der EU einen Kapitalisten-Club und musste von der eigenen Partei zu einem etwas proeuropäischeren Kurs gedrängt werden. Mag die Opposition auch zersplittert sein, so nutzt Boris Johnson eiskalt jede Schwäche des britischen Staatswesens: Ohne geschriebene Verfassung ist es leichter, in die Mottenkiste der Geschichte zu greifen und bisherige Regelungen zur Beurlaubung des Parlaments für seine Zwecke umzudeuten. Das britische Unterhaus hat deutlich weniger Möglichkeiten, das eigene Parlamentsgeschehen festzulegen als z. B. der Deutsche Bundestag. So spricht der Sprecher des Unterhauses, John Bercow, zwar von einem ‚massiven Verfassungsbruch‘. Ob dies gegebenenfalls die Gerichte so sehen, das bleibt abzuwarten, denn Johnson dehnt die für die verschiedenen Parteikongresse vorgesehene Zeit ohne Parlamentssitzungen nur um einige Tage aus. Hier hätten die Parlamentarier bereits vor längerer Zeit auf eine Aufhebung dieser Frist drängen müssen.
Königin Elizabeth II. hat dem Wunsch des Premierministers auf eine Beurlaubung des Parlaments entsprochen. Es ist im Vereinigten Königreich ein ungeschriebenes Gesetz, dass sich die Monarchin nicht in die politischen Prozesse einmischt. Oder hat die Königin nichts gegen diese Vorgehensweise, da sie bisher wenig Sympathien für die EU erkennen ließ? Die Beurlaubung des Parlaments in einer solch kritischen Phase ist jedoch auch ein weiterer Sargnagel für das Vereinigte Königreich in seiner jetzigen Form. Die schottischen Nationalisten unter Nicola Sturgeon nutzen die Gunst der Stunde und fordern ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands. Sie haben zwar das erste Referendum verloren, doch gibt ihnen der Wunsch einer Mehrheit der Schotten Auftrieb, die in der EU verbleiben wollen. In Nordirland mehren sich die Stimmen – und nicht nur bei Katholiken -, die eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland anstreben, um so weiter zur EU zu gehören. Durch ihre jetzige Handlungsweise trägt auch Königin Elizabeth II. dazu bei, dass ihre Nachregenten über ein kleineres Königreich ‚herrschen‘ dürften. Die Grundmauern des Vereinigten Königreichs bröseln vor sich hin, und dies ausgerechnet unter Regierungen, deren Politiker sich im Parteiname als ‚Unionisten‘ bezeichnen.
Anschlag auf die Demokratie
Ob Boris Johnson mit seiner Strategie den Brexit bis Halloween erreichen kann, das steht noch in den Sternen. Er hat von Theresa May ein mieses Blatt übernommen und zockt dennoch ohne Rücksicht auf Land und Leute weiter. Sein wichtigstes persönliches Ziel hat er erreicht, er hat sich zum Premierminister aufgeschwungen, doch ob er das wirkliche Hindernis, den Brexit, übersteht, das wird sich noch zeigen.
Egal wie das Gezerre in der britischen Politik ausgeht, es wurden Feindschaften hervorgerufen, die in den nächsten Jahren zu einer Belastung werden können. Selbstredend wird in der Politik auch ausgeteilt, aber inzwischen hat die Debatte ein Maß persönlicher Anfeindungen erreicht, welches die Demokratie zusätzlich beschädigt. Als in den ersten Planungen der britischen Regierung bereits über den Einsatz des Militärs bei möglichen Unruhen philosophiert wurde, da hielt ich dies für geradezu abwegig. Inzwischen mehren sich sogar die Rufe nach einem Generalstreik, nach zivilem Ungehorsam, um die Attacke von Boris Johnson auf die britische Demokratie abzuwehren. Ich kann nur hoffen, dass das britische Parlament in der ersten Septemberwoche, in der die üblichen Sitzungen noch stattfinden, Johnson stoppen kann.
Geleakte Konzepte der britischen Regierung für die Vorbereitungen auf einen No-Deal-Brexit trugen den Codenamen ‚Yellowhammer‘: Eigentlich ist dies die Goldammer, die uns als gelblicher Vogel erfreut, doch inzwischen habe ich den Eindruck, dass Boris Johnson mehr auf den ‚Sledgehammer‘, den Vorschlaghammer setzt. Er will sich den Weg zum Brexit freikämpfen. Dabei zerschlägt er nicht nur politisches Porzellan, sondern er gefährdet die Demokratie und den Frieden in seinem Land.
4 Antworten auf „Boris Johnson: Politik mit dem Vorschlaghammer“