Boris Johnson: Die Mehrheit, die keine ist

Britische Konservative verlieren Nachwahl in Brecon & Radnorshire

Der britische Premierminister Boris Johnson gibt zwar den tatkräftigen Brexiteer, der dem Volk gibt, wonach es ‚verlangt‘, den Austritt aus der Europäischen Union (EU). Aber wenn man sich seine eigene politische ‚Mehrheit‘ anschaut, dann wird überdeutlich, dass er nicht mal im britischen Unterhaus über eine tragfähige Basis verfügt. Seine eigene Partei – die Conservative and Unionist Party – verlor die Parlamentsmehrheit unter der unglücklich agierenden Theresa May, die die Unterhauswahlen vorzog und taktisch völlig daneben lag. Kaum war Johnson im Amt, da gewannen die Liberal Democrats bei einer Nachwahl in Wales ein Mandat hinzu, so dass die rechnerische Mehrheit von Boris Johnson im britischen Unterhaus auf eine Stimme abgenommen hat. Dabei ist die ihn stützende nordirische Democratic Unionist Party (DUP) bereits eingerechnet. Die wackelige Mehrheit der Konservativen und der DUP wäre vollends dahin, wenn die sieben in Nordirland gewählten Abgeordneten von Sinn Fein ihre Sitze im Londoner Unterhaus auch physisch besetzen würden.

Der walisische Drache ist rot. Seine Flügel sind aufgeklappt. Im Hintergrund Bäume.
Der walisische Drache hat mit einem Flügelschlag die rechnerische Mehrheit von Premierminister Boris Johnson im britischen Unterhaus auf eine Stimme reduziert. Dieser freundliche Drache und viele seiner Zeitgenossen finden sich im Umfeld der Höhlen von Dan-Yr-Ogof in Wales. (Bild: Ulsamer)

Nationale Kräfte werden gestärkt

Nun bin ich mir nicht sicher, ob die Parlamentarier von Sinn Fein einen proeuropäischen Kurs im Unterhaus mittragen würden, doch Boris Johnson und seine reaktionären Mitstreiter hätten sicherlich wenig zu lachen. Sinn Fein lehnt es jedoch traditionell ab, ihre gewählten Abgeordneten ins britische Parlament zu entsenden, da sie dort einen Eid auf die Monarchin ablegen müssten: „I will be faithful and bear true allegiance to Her Majesty Queen Elizabeth, her heirs and successors“. Wer möchte als überzeugter Republikaner und irischer Nationalist schon der englischen Königin Gefolgschaft versprechen? Bei Sinn Fein vermutlich niemand. Im Grunde kann es Sinn Fein, deren Ziel eine Wiedervereinigung von Nordirland mit der Republik Irland ist, nur recht sein, wenn Boris Johnson möglichst viel politisches Porzellan zerschlägt und das Vereinigte Königreich aus der EU führt. Umso eher wird es Sinn Fein gelingen, eine Mehrheit in Nordirland für eine Wiedervereinigung der grünen Insel zu mobilisieren. Dazu brauchen sie neben ihrer überwiegend katholischen Klientel auch protestantische Wähler, die einen Austritt aus der EU ablehnen und einen Zusammenschluss mit der Republik als kleineres Übel ansehen.

Die Mehrheit der Teilnehmer am Brexit-Referendum 2016 hatte sich in Nordirland ebenso wie in Schottland ohnehin für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Ganz anders die Situation in Wales, wo die Wählerschaft mehrheitlich für den Brexit stimmte. Und dies ausgerechnet in einer Region, die besonders umfänglich von der EU-Förderung profitiert. Ob die Waliser der proeuropäischen Regierung unter David Cameron nur einen Denkzettel für die zum Teil schlechte wirtschaftliche Lage ihrer Region verpassen wollten oder der Zuzug englischer Rentner den Ausschlag gegeben hat, das lässt sich nicht feststellen. National eingestellte Kräfte hat es immer wieder gegeben, darunter die Partei Plaid Cymru, die sich für die Eigenständigkeit von Wales einsetzt und die in der Nationalversammlung für Wales, einem Ansatz für föderale Strukturen, vertreten ist. Sollten sich aber die Nordiren mittelfristig für eine Wiedervereinigung aussprechen und die Schotten die Unabhängigkeit durchsetzen können, dann könnte es auch in Wales zu einem Aufleben nationalistischer Bestrebungen kommen. So zeigt es sich wieder einmal, dass Boris Johnson, Jacob Rees-Moog u.a. zwar von der Bedeutung der Union von England, Schottland, Nordirland und Wales reden, letztendlich durch ihr Handeln aber zu den Sargträgern des Vereinigten Königreichs werden könnten.

Wasserreservoir mit einem großen Loch, in das das Wasser fließt. Dahinter ein kleines Türmchen mit grünlichem Kupferdach.
Wasser aus Wales, das englische Haushalte und Unternehmen in Manchester, Birmingham oder Cheshire versorgt, führt noch heute in Wales zu hitzigen Debatten. Und Wasser gewinnt gerade durch den Klimawandel und die damit einhergehende Erwärmung und lange Trockenphasen an Bedeutung. Nicht vergessen ist bis heute, dass 1965 ein ganzes walisisches Dorf in Snowdownia geflutet wurde, um die Wasserversorgung für Liverpool zu sichern. Die beiden Reservoirs Taf-fechan und Pen-tywn liegen im Wahlkreis Brecon & Radnorshire, den die proeuropäischen Liberaldemokraten den Konservativen abgenommen haben. (Bild: Ulsamer)

Klarer Sieg der britischen Liberaldemokraten

Bei der Nachwahl im walisischen Wahlkreis Brecon & Radnorshire eroberte Jane Dodds, die Chefin der walisischen Liberaldemokraten, das von den Konservativen besetzte Mandat zurück. Die Conservative and Unionist Party hatte sich mal wieder verschätzt und den nach einer Abwahlpetition aus dem Amt geflogenen Chris Davies erneut nominiert. Mit fragwürdigen Angaben zu seinen Ausgaben als Abgeordneter hatte Davies die Nachwahl ausgelöst und bekam jetzt die Quittung. Plaid Cymru, die gemäßigt-nationale und sozialdemokratische Partei und die Grünen hatten auf eigene Kandidaten verzichtet, die in diesem Wahlkreis ohnehin chancenlos gewesen wären. So konnte Jane Dodds aus einem Rückstand von über 8000 Stimmen der Liberaldemokraten auf die Konservativen bei der Wahl 2017 jetzt eine Mehrheit von 1400 Stimmen machen. Somit gibt es nun einen Abgeordneten der Konservativen weniger im Unterhaus.

Die letzten Monate haben gezeigt, dass es im britischen Unterhaus ohnehin keine klaren Mehrheitsverhältnisse mehr gibt, und dies hatte es Theresa May auch unmöglich gemacht, das Brexit-Abkommen durchs Parlament zu bringen. Wenn die EU am Backstop, einer Rückfallposition im Austrittsvertrag festhält, der eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern soll, dann dürfte es auch Boris Johnson aus heutiger Sicht nicht möglich sein, eine parlamentarische Mehrheit zustande zu bringen. Ein Nachgeben zu Lasten der irischen Insel wäre politisch fatal, da eine bewachte Grenze zu einem Aufflammen des nordirischen Konflikts führen könnte.

Wasser fließt über die Wände einer rötlich-braun leuchtenden Höhle.
Die Höhlen von Dan-Yr-Ogof – im Wahlkreis Brecon & Radnorshire erlauben uns einen tiefen Einblick in die Erdgeschichte, und die Besiedlung der Region reicht bis in die Eisenzeit zurück. Sie sind immer einen Besuch wert. Leider sind die historischen Vergleiche, die Boris Johnson gerne in seinen Reden zieht, mehr als fragwürdig. (Bild: Ulsamer)

Boris Johnson auf geschichtlichen Irrwegen

Zwar haben sich die Unterhaus-Abgeordneten in die Sommerferien verabschiedet, doch werden die Strippenzieher der Brexiteers und der proeuropäischen Remainer weiter aktiv bleiben. Im Grunde halte ich es schon für leicht skurril, dass sich ein Parlament in einer solch dramatischen Situation nicht über Urlaubsregeln hinwegsetzt. Die Trickser um Boris Johnson haben so auch schon mal daran getüftelt, ob man das Parlament nicht etwas länger in Urlaub schicken könnte, um den Brexit ohne kritische Parlamentssitzungen vollziehen zu können. Denn alle Abstimmungen ergaben in diesem völlig zerstrittenen Parlament zumindest eine klare Ablehnung zum No-Deal-Brexit, den Premierminister Johnson versprochen hat, wenn die EU nicht einknickt. Ausgerechnet im selbst ernannten Mutterland der Demokratie knirscht es gewaltig im Politik- und Rechtsgebälk.

Boris Johnson konnte zumindest in Wales keinen schnellen Sieg einfahren, sondern bekam verdient eins auf die Mütze. Sein Versprechen, „making this country the greatest place on earth“, wird sich ohnehin kaum mit seinem Politikstil erreichen lassen. Wes (Un-) Geistes Kind Boris Johnson ist, habe ich in meinem Beitrag „Boris Johnson: Bis Halloween raus aus der EU“ skizziert. Seine politischen Anleihen sind brandgefährlich: So vergleicht er gerne mal die EU mit Adolf Hitler. Ziemlich daneben liegt der Tory-Premier auch mit seiner Erklärung zum Brexit bis zum 31. Oktober: „do or die“. Es ist schon starker Tobak, wenn er sein Brexit-Versprechen mit ‚erfüllen oder sterben‘ hochstilisiert. Und noch fragwürdiger wird es, wenn man weiß, dass dies eine Anleihe aus einem Gedicht von Alfred Lord Tennyson mit dem Titel „Charge of the Light Brigade“ ist. Die passende deutsche Übersetzung lautet ‚Der Todesritt der leichten Brigade‘, denn die britische Kavallerie zog sich in der Schlacht von Balaklawa 1854 schwere Verluste zu. Durch ein Missverständnis bei der Befehlsweitergabe griff die leichte Brigade das falsche Ziel an und wurde blutig von den Russen zurückgeschlagen.

„Theirs not to make reply,
Theirs not to reason why,
Theirs but to do and die:
Into the valley of Death
Rode the six hundred.“

Der französische General Pierre Bosquet sah die Attacke der Leichten Brigade und kommentierte dies: “C’est magnifique, mais ce n’est pas la guerre, c’est de la folie.“  -„Das ist großartig, aber Krieg ist das nicht, es ist Wahnsinn.“ Wir können nur hoffen, dass Johnson nur fragwürdige historische Anleihen vornimmt, sich aber dennoch ein letztes Bisschen an Realitätssinn bewahrt hat.

Hellbraunes Gebäude mit der Aufschrift Brecon Mountain Railway. Davor Pkw in rot, schwarz, weiß und silber.
Nach dem Ende der Kohleförderung und dem Niedergang der Eisenhütten fehlt weiten Regionen von Wales ein echter Anschluss an die technologische Zukunft. Museale Reminiszenzen wie der Bahnhof der Brecon Mountain Railway mögen dem Tourismus dienen, aber sie reichen nicht aus. (Bild: Ulsamer)

Historische Chance verpasst

Sinn Fein verpasst eine historische Chance, die britische Politik im Unterhaus verändern zu können, doch habe ich dafür ein gewisses Verständnis: Die irische Geschichte wurde zu lange durch die britische Unterdrückung geprägt, warum sollen sich dann nationale-republikanische Kräfte im Parlament ihrer Majestät einfinden? Wenn schon Sinn Fein das Chaos im Londoner Regierungsviertel nicht beenden hilft, dann hoffe ich noch immer auf ein zweites Referendum oder Neuwahlen.

Wäre der Labour-Chef Jeremy Corbyn im Grunde seines Herzens nicht ein sozialistischer Antieuropäer, dann hätte sich längst eine Mehrheit im Unterhaus zusammengefunden, die schon Theresa May das Ruder aus der Hand genommen hätte. Vor Halloween, dem Tag an dem Johnson spätestens aus der EU austreten möchte, könnte es einer Mehrheit der Abgeordneten gelingen einen No-Deal-Brexit zu verhindern, indem sie die Regierung mit einem Misstrauensvotum stürzt. Allerdings scheint im Parlament alles offen zu sein, denn den rd. 20 Gegnern eines No-Deal-Brexits bei den Konservativen stehen auch ca. 40 Labour-Abgeordnete gegenüber, die aus Wahlkreisen mit klarer Befürwortung des Brexits kommen.

Letztendlich könnte es passieren, dass es Boris Johnson schafft, ein Misstrauensvotum zu verhindern und sich so bis zu Halloween zu ‚retten‘. Gibt es dann von britischer Seite keine Annahme des Abkommens, einen Verlängerungsantrag für die Austrittsfrist oder gar eine Rücknahme des Brexit-Antrags, dann hätte Boris Johnson sein Ziel erreicht, den Austritt aus der Europäischen Union zu vollziehen. Mitschuld trüge dann aber auch ein Parlament, das sich zu keinem tragfähigen Kompromiss aufraffen kann und eine EU-Verhandlungsriege, die ein Abkommen aushandelte, das zum Scheitern verdammt war. Nicht nur Sinn Fein hat dann eine historische Chance verpasst.

 

 

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