Boris Johnson: Bis Halloween raus aus der EU

Die hard Brexiteers gefährden die Einheit des Vereinigten Königreichs

Da haben wir den Salat, so könnte man ausrufen: Auf die Chaos-Premierministerin Theresa May folgte wie zu erwarten ein Brexit-Hardliner: Boris Johnson, früherer Lord Mayor von London und Ex-Außenminister des Vereinigten Königreichs. Johnson wurde mit 66% der Stimmen von den Mitgliedern der Conservative and Unionist Party zum Parteivorsitzenden gewählt, und automatisch hat er nun Theresa May als Premierministerin beerbt und ist neuer Hausherr in 10 Downing Street. Dass er es sich dort gemütlich machen kann, darf bezweifelt werden, denn auch unter den eigenen Unterhausabgeordneten gibt es bis zu 20 Konservative, die Johnson die Gefolgschaft verweigern könnten, wenn er das Signal zum No-Deal-Brexit erklingen lässt. Und Jeremy Hunt, sein Kontrahent um die Spitzenposition der Tories, gehört gewiss nicht zu seinen Freunden. Die Unberechenbarkeit und Sprunghaftigkeit wird es Boris Johnson erschweren, Ruhe in die Brexit-Streitereien zu bringen, aber es könnte auch zu allerlei absurden Wendungen kommen. Bisher wurde Boris Johnson nie besonderer Arbeitseifer zugeschrieben, doch sein erklärtes Ziel ist es, das Vereinigte Königreich spätestens an Halloween – dem 31. Oktober – aus der Europäischen Union zu führen. Dies hat der neue Premierminister in der letzten Sitzung des Unterhauses vor der Sommerpause deutlich unterstrichen.

Boris Johnson ineinem Tweet: "What I#m going to do - Deliver Brexit".
In seiner kurzen Dankesrede nach der Wahl durch die Mitglieder der Conservative and Unionist Party bekräftigte Boris Johnson, der neue britische Premierminister, dass er den Brexit bis zum 31. Oktober 2019 vollziehen werde. (Bild: Twitter, 23.7.19)

Der Irrweg ins Brexit-Unheil

Boris Johnson, der Spezialist für einfache Sprüche ohne reale Basis, hat bereits beim Referendum 2016 den Ausschlag dafür gegeben, dass die Brexiteers die Mehrheit erhielten. Dabei war er nicht zimperlich und verkündete schon mal die eine oder andere Lüge, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. So betonte John Crace im britischen ‚Guardian‘ zur Dankesrede von Boris Johnson nach seiner Wahl: „In one way, though, this was a remarkable Johnson speech – the first for years that hadn’t contained any outright lies.“ Wer möchte das als Politiker schon in den Medien über sich lesen, er habe tatsächlich mal eine Rede ohne Lügen gehalten? Jetzt sitzt Johnson ein anderer Lebemann der britischen Politik, Nigel Farage, im Nacken, der bei der Europawahl mit seiner neu gegründeten ‚Brexit Party‘ die Konservativen auf die Plätze verwies. Sollten sich vorgezogene Parlamentswahlen nicht umgehen lassen, dann muss Johnson unbedingt vorher Farage vom Thron der Brexiteers stoßen und die zerstrittenen Konservativen – wie auch immer – einen. Ansonsten würde die Conservative and Unionist Party vollends zerrieben.

David Cameron, der als Premierminister das Referendum über die EU-Mitgliedschaft anzettelte, um die EU-Gegner in der eigenen Partei in die Schranken zu weisen, hatte den Weg ins Desaster eingeschlagen, da ihm jegliches Gespür für das Denken seiner Bürger abhandengekommen war. Seine Nachfolgerin, Theresa May, stolperte stoisch und bockig den Trampelpfad zum Brexit weiter, und setzte gar noch Neuwahlen an, die sie ihre Mehrheit kosteten. Nun wurde May nicht nur von den hard Brexiteers in den eigenen Reihen vor sich hergetrieben, sondern sie wurde auch noch von der Democratic Unionist Party (DUP) abhängig, die ihr eine fragile Mehrheit im britischen Unterhaus sicherte. Die hard Brexieers und die DUP widersetzten sich allen Sonderregelungen für Nordirland, die nach dem Brexit eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland vermeiden sollten. Weder Boris Johnson noch die DUP wird auch in den nächsten Monaten bereit sein, eine solche unbefristete Regelung – den Backstop – zu akzeptieren. Dies hätte allerdings dem Chefverhandler der EU, Michel Barnier, schon früher klar sein müssen: Wer dem Partner einen Vertrag aufschwatzt, den dieser nicht durchs Parlament bringen kann, der handelt ebenfalls fahrlässig und schadet Europa.

Der Turm der Guildhall im Hintergrund, im Vordergrund in einem Glaskasten die 'Peace Flame'.
Die ‚Peace Flame‘ brennt im nordirischen Derry vor der früheren Guildhall aus dem Jahre 1890, dem heutigen Rathaus. Leider bedenken die hard Brexiteers zu wenig die Gefahren, die durch eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland hervorgerufen werden. Schnell könnte der blutige Konflikt wieder entbrennen, der durch das Karfreitagsabkommen aus dem Jahre 1998 weitgehend befriedet werden konnte. Doch auf katholischer und protestantischer Seite gibt es noch immer Vorurteile gegenüber der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe, die von Extremisten ausgenutzt werden könnten. Politisches Feingefühl war der Regierung von Theresa May fremd, und bisher erweckte Boris Johnson nicht den Eindruck, er hätte mehr Interesse und Verständnis an Nordirland oder Schottland. (Bild: Ulsamer)

Tories: Ein Bisschen Imperialismus gehört dazu

Boris Johnson und seine reaktionären Mitstreiter vom Schlage eines Jacob Rees-Mogg, der es jetzt zum Chef der Konservativen im House of Commons gebracht hat, Sir Bill Cash oder Mark Francois sehen in Europa eine Krake, die die letzten Reste der britischen Selbständigkeit erdrücken möchte. Und die Republik Irland betrachten sie noch mit der imperialen Hochnäsigkeit, die viele Briten über Jahrhunderte gegenüber den Iren an den Tag legten. Die protestantischen Wähler der DUP befürchten bei einer Abkoppelung von der britischen Hauptinsel noch immer, von einer katholischen Mehrheit in einem wiedervereinigten Irland unterdrückt zu werden. Sie verschweigen dabei, dass die katholische Minderheit in Nordirland von der protestantischen Mehrheit entrechtet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde. Die Abspaltung von sechs Provinzen, die das heutige zum Vereinigten Königreich gehörende Nordirland bilden, führte nicht zu einer offenen Gesellschaft, sondern verlängerte nur die politische, soziale und wirtschaftliche Benachteiligung der Katholiken.

Wenn es durch die Unnachgiebigkeit der Brexiteers zu einer harten Grenze auf der irischen Insel kommen sollte, dann befürchte nicht nur ich ein Aufflammen der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestantischen und katholischen Organisationen. Aber Boris Johnson geht jedes Verständnis für die prekäre Lage in Nordirland ab: Gern zieht er die Frage des Backstops ins Lächerliche, wenn er betont, da wackle ja der Schwanz – natürlich Irland – mit dem Hund. Im Unterhaus betonte er zwar, seine Regierung stehe hinter dem Karfreitagsabkommen, das Nordirland einen fragilen Frieden brachte, doch eine Backstop-Regelung lehnte er – auch mit einem zeitlichen Limit – im Unterhaus kategorisch ab.

Kontrolle vor der Zufahrt zum Zug durch den Kanaltunnel in Calais.
Selbst bei einem No-Deal-Brexit werden alle Beteiligten Interesse daran haben, auch die Zoll- und Grenzkontrollen möglichst schnell und sachgerecht umzustellen. Bisher erfolgen die Kontrollen für die Fahrzeuge, die durch den Eurotunnel per Zug transportiert werden, bereits auf französischer Seite. Auf keinen Fall darf zwischen Nordirland und der Republik Irland eine harte Grenze entstehen, denn dies könnte zu neuen Gewaltausbrüchen führen. (Bild: Ulsamer)

Menschenrechtsverletzungen in Nordirland kleingeredet

Mit seiner Weltsicht steht er bei den Konservativen nicht alleine. Ausgerechnet in der heißen Phase des Streits um den Backstop, der nach dem Brexit eine harte Grenze in Irland verhindern soll, goss die damalige britische Nordirlandministerin Karen Bradley Öl ins Feuer. Sie erklärte kurzerhand, wenn von der damals von Protestanten dominierten Polizei und dem britischen Militär während des Nordirlandkonflikts unschuldige Katholiken erschossen worden seien, dann handle es sich nicht um kriminelle Handlungen.

Damit stellte Bradley sich zwar gegen frühere Untersuchungsergebnisse und den ehemaligen Premierminister Tony Blair, doch ein Bisschen Imperialismus scheint bei den Konservativen heute dazu zu gehören. Und sie hatte auch eine völlig perverse Entschuldigung dafür parat: „They were people acting under orders and acting under instruction and fulfilling their duties in a dignified and appropriate way.” Das kommt mir doch sehr bekannt vor – aus unserer eigenen deutschen Geschichte. ’Befehlsnotstand‘ war da eine gängige Phrase. Und bereits in seiner ersten Unterhaussitzung als Premierminister ließ Johnson erkennen, dass auch er sich vor Soldaten und Polizisten stellt, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Sie sollten für ihren Einsatz in Nordirland keine „unfair prosecution“ erleben: In den Augen der Mehrheit der Tories ist schon jede Frage nach der Mitschuld britischer Sicherheitskräfte am nordirischen Blutvergießen ein Sakrileg.

Der gebogene Kirchturm - Crooked Spire - in Chesterfield.
In England stimmten die Teilnehmer am Brexit-Referendum 2016 mehrheitlich für den Austritt aus der EU. Gleiches gilt für Wales. In Schottland und Nordirland lagen dagegen die Proeuropäer vorne. Dies gilt auch für den Großraum London. Im Bild der Crooked Spire der ‚St Mary and All Saints‘-Kirche in Chesterfield, Mittelengland. (Bild: Ulsamer)

Boris Johnson: EU und Hitler gegen Britannien

Der Unruhestifter Boris Johnson liebt ohnehin sehr eigenwillige historische Vergleiche. Auf seiner Twitter-Seite zeigte er sich lange Zeit umgeben von Veteranen des Zweiten Weltkriegs, und ganz ‚passend‘ verglich er die EU mit Adolf Hitlers Versuch, das Vereinigte Königreich zu unterwerfen. “Napoleon, Hitler, various people tried this out, and it ends tragically“, so Boris Johnson und fügte hinzu: „The EU is an attempt to do this by different methods.“ Leider steht Boris Johnson mit seinen Ausfällen nicht alleine in der Conservative and Unionist Party. So formulierte der Abgeordnete Sir Bill Cash, „it’s a German Europe“, und dabei habe Britannien doch den Kontinent in zwei Weltkriegen gerettet – natürlich vor uns Deutschen. Und als der damalige Airbus-Chef Tom Enders bei einem (ungeordneten) Brexit Gefahren für weitere Investitionen seines Unternehmens in Großbritannien sichtete, bekam er von einem weiteren Konservativen, Mark Francois, die Leviten gelesen: „My father, Reginald Francois, was a D-Day veteran. He never submitted to bullying by any German and neither will his son“. Bei solchen Parteifreunden hatte Theresa May wenig zu lachen. Und nun bekommen solche rechtslastigen Parlamentsmitglieder auch noch Oberwasser und scharen sich um Ihresgleichen – Boris Johnson.

Boris Johnson mit blonder Mähne bei seiner ersten Rede als Premierminister im britischen Unterhaus.
Bei seiner ersten Rede als neuer britischer Premierminister attackierte Johnson vor allem auch den Labour-Chef Jeremy Corbyn. Dessen Schlingerkurs in Sachen Brexit und Europa bietet aber auch unglaublich viele Angriffspunkte. (Bild: Screenshot, Phoenix, 25.7.19)

Ob Boris Johnson im Herzen wirklich die Europäische Union als seinen Erbfeind ansieht, weiß natürlich nur er selbst. Klar ist jedoch, dass der Brexit für ihn der optimale Hebel war, um sich selbst an die Spitze der britischen Konservativen zu setzen. Der erste Anlauf ging zwar daneben, und Theresa May machte das Rennen, doch nun ist der Egomane am Ziel: er ist Premierminister. Wie lange er dies bleibt, hängt auch von seinem Geschick ab, eine stabile Mehrheit in der eigenen Partei zu sichern – und eben nicht nur die Altherrenriege der konservativen Mitglieder hinter sich zu vereinen. Unter den konservativen Parlamentariern hat er ganz gewiss nicht nur Freunde, und auf einem No-Deal-Kurs wollen nicht alle mit ihm segeln.

Die wacklige Mehrheit, die Johnson von May erbte, beträgt nur zwei Stimmen und schließt bereits die nordirische DUP ein. Darüber hinaus profitiert Johnson – wie seine Vorgängerin – davon, dass die in Nordirland gewählten Abgeordneten der katholischen Sinn Fein ihre Unterhaussitze traditionell nicht einnehmen, da sie ansonsten einen Eid auf die verhasste Königin schwören müssten.

Im Hintergrund eine Burg aus Quadern. Davor der Wassergraben und zahlreiche Kanadagänse: Braun, schwarzer Hals und weiße Halskrause.
Über dem Caerphilly Castle weht heute die walisische Fahne, doch die Burg diente der Sicherung der anglo-normannischen Herrschaft über die walisischen Stämme. Gilbert de Clare begann mit dem Bau 1268. Auch in Wales gab es bis in unsere Tage immer wieder Bestrebungen zur Unabhängigkeit, allerdings blieben sie folgenlos. Plaid Cymru vertritt als walisisch-nationale und sozialdemokratische Partei einen moderaten Standpunkt. Am 1. August wird sich im walisischen Wahlkreis Brecon & Radnorshire bei einer Nachwahl zeigen, ob die 2-Stimmen-Mehrheit der Regierung von Boris Johnson auf eine Stimme schrumpft. Gegen den wegen falscher Angaben zu seinen Ausgaben aus dem Amt beförderten konservativen Chris Davies tritt u.a. die Chefin der walisischen Liberaldemokraten Jane Dodds an. (Bild: Ulsamer)

Karriereziel erreicht – aber was nun?

Boris Johnson, den nicht nur Donald Trump als sein europäisches Abbild betrachtet, hat sein Karriereziel erstmal erreicht, doch nun wird es ernst. Die EU bleibt zumindest bisher bei der Aussage, man werde den Deal nicht wieder aufschnüren, doch dies wird Boris Johnson nicht schrecken. Einerseits wird er auf Nachverhandlungen drängen, andererseits den Austritt aus der Europäischen Union bis spätestens zum 31. Oktober anpeilen. Johnson hat sich bisher immer wieder auch als wandlungsfähig gezeigt, doch letztendlich muss er den Ausstieg durchziehen oder er verliert die Glaubwürdigkeit bei seiner Gefolgschaft.

Bisher lässt sich im britischen Unterhaus jedoch keine Mehrheit für einen No-Deal-Brexit erkennen. Das in zahllose Grüppchen gespaltene Parlament, von Fraktionen mag ich bei Konservativen und Labour kaum noch sprechen, war sich bisher zumindest darin einig, einen Austritt ohne Abkommen nicht zu akzeptieren. So gab es im Umfeld von Boris Johnson auch schon Überlegungen, das britische Parlament in Urlaub zu schicken, um dann in ‚Ruhe‘ und ohne demokratische ‚Störungen‘ den Brexit vollziehen zu können. Johnson könnte auch darauf setzen, dass Labour-Abgeordnete den Brexit selbst ohne Abkommen mittragen: Rund 40 Parlamentarier der Labour Party kommen aus Wahlkreisen, die beim Referendum eindeutig für den Brexit gestimmt haben, und so mancher dieser Politiker befürchtet, abgestraft zu werden, wenn er ohne vollzogenen Austritt aus der EU in die nächsten Wahlen gehen muss. So könnte sich ein Rollentausch mit 20 Torys ergeben, die zu erkennen gaben, dass sie einen No-Deal-Brexit ablehnen werden. Aber ob es Johnson gelingen kann, eine Mehrheit für seine Pläne zu schaffen, das bleibt derzeit offen. Johnson könnte auch darauf hoffen, dass der Austritt gewissermaßen zwangsläufig vollzogen wird, wenn die von der EU gesetzte Nachfrist verstrichen ist. Auf Anna Soubrys Nachfrage, ob Johnson das Parlament auf jeden Fall einbeziehen werde, ehe ein No-Deal-Brexit erfolge, blieb der ansonsten wortgewaltige Premierminister die Antwort schuldig.

Dudelsackspieler mit Zuhörern in Edinburgh.
Die Scottish National Party (SNP) bekam durch das Brexit-Getümmel wieder Auftrieb mit ihrer Forderung nach Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich. Zwar war das erste Referendum über die Loslösung von England 2014 gescheitert, doch die SNP hofft unter ihrer Vorsitzenden Nicola Sturgeon jetzt auch auf Zustimmung von Schotten, die nicht unbedingt national denken, aber in der EU verbleiben wollen. Im Brexit-Referendum hatten die Schotten mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt. Ian Blackford unterstrich betont kämpferisch im Unterhaus, dass man sich einem No-Deal-Brexit entgegenstellen werde. (Bild: Ulsamer)

Unionisten als Sargträger der Einheit

Historiker werden es später vermutlich als kurios einstufen, dass ausgerechnet die Unionisten die Einheit des Vereinigten Königreichs gefährden. So tragen zwar die Conservative and Unionist Party sowie die nordirische Democratic Unionist Party den Anspruch, die Union von England, Schottland, Nordirland und Wales zu erhalten, im Namen, doch sie handeln ihrem eigenen Anspruch zuwider. So wird Boris Johnson eine seiner ersten Touren nach Schottland führen, doch dies wird wenig helfen. In Schottland artikuliert sich der Wunsch nach Selbständigkeit wieder stärker. Die Scottish National Party (SNP) hofft im zweiten Anlauf bei einem Referendum eine Mehrheit für die nationale Eigenständigkeit gewinnen zu können, da die Schotten mehrheitlich für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten. So würden der nationale und der europäische Gedanke beflügelnd wirken.

In Nordirland könnten sich die Mehrheitsverhältnisse ebenso drehen, denn die katholische Minderheit liegt zahlenmäßig nur noch wenig hinter der protestantischen Mehrheit. Wenn sich nun auch noch proeuropäische Protestanten in Nordirland mit einer Wiedervereinigung mit der Republik Irland anfreunden könnten, dann würde diese wahrscheinlicher. Bisher zeigten sich viele protestantische Nordiren ablehnend, wenn es um ein Zusammengehen mit der vom Katholizismus über Jahrzehnte geprägten Republik ging. Doch inzwischen ist das tiefere religiöse Moment längst hinter wirtschaftliche und soziale Fragen zurückgefallen. In der Republik sind manche Bürger zögerlich, da sie ungern die Lasten nach einer Wiedervereinigung übernehmen möchten, die bisher die britischen Steuerzahler tragen: Nordirland hängt am Tropf der Briten und braucht jährlich finanzielle Unterstützung in Höhe von rd. 10 Mrd. Pfund. In Nordirland stimmte im Übrigen die Mehrheit der Bürger für einen Verbleib in der EU.

Ein Gebäude mit der britischen Flagge in blau, rot, weiß bemalt. Davor sitzen Gäste des Pubs.
Mit Boris Johnson und seinen Mitstreitern kehrt wieder mehr Nationalismus in die erste Reihe der britischen Politik zurück. Allerdings spielen die britische Fahne und der Stolz auf ein längst vergangenes Empire schon immer eine große Rolle. Dies zeigt sich auch an diesem Pub in Cornwall unterhalb der von Brunel erbauten Eisenbahnbrücke. (Bild: Ulsamer)

„Lovebomb“ oder Zirkus?

In seiner Dankesrede nach der Wahl zum Tory-Vorsitzenden ließ Boris Johnson einen konzilianten Ton anklingen, indem er auch den Gegnern „noble insticts“ zubilligte und gar meinte: „And no one person, no one party has a monopoly of wisdom.“ Sollte sich da ein gewandelter Boris Johnson abzeichnen, der nach dem Etappensieg erkennt, dass er nun Mehrheiten braucht, wenn er nicht als Witzfigur der englischen Geschichte enden will? Vielleicht ist er ja realitätsnäher als Donald Trump auf der anderen Seite des Atlantiks. Als Außenminister seines Heimatlands ließ Johnson allerdings jedes Feingefühl vermissen. Er sollte jedoch erkennen, dass es nicht genügt, den Stuhl der Vorgängerin zu erobern. Die eigentlich politische Arbeit beginnt erst jetzt, dies betonte Johnson im Parlament bei der kurzen Vorstellung der Schwerpunkte seiner Regierung. 20 000 zusätzliche Polizisten, mehr Geld für Bildung und den Nationalen Gesundheitsdienst, weniger Steuern usw. werden erst zu finanzieren sein. Und bei auftretenden Problemen durch einen No-Deal-Brexit könne man ja auch die 39 Mrd. Pfund nutzen, die nach dem Ausstiegsabkommen eigentlich in die EU-Kasse fließen sollten.

Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg, die sich gerne als Sachwalter der Union betrachten, werden mehr und mehr zu den Sargträgern dieser Verbindung zwischen England, Schottland, Wales und Nordirland. Damit zeichnen sich am Horizont weitere dunkle Wolken ab, die das Brexit-Gewitter noch überlagern können. Und die Bedeutung dieser Fragen könnte Europa noch länger beschäftigen als der Brexit selbst. Ein Blick nach Katalonien und die spanische Politik gibt bereits einen Vorgeschmack.

Förderturm einer Zinn- und Kupfermine in Wales.
Es wäre auch an der Zeit, dass sich eine britische Regierung mit dem hohen Maß an Deindustrialisierung befasst, das sich in vielen Regionen des Vereinigten Königreichs deutlich erkennen lässt. Nach dem Niedergang von Kohle und Stahl verpassten die Briten in vielen industriellen Branchen den Sprung in die Zukunft. So wurde Cornwall aus einem frühindustriellen Zentrum zu einem Eldorado für Touristen und Rentner, aber es fehlen Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen. (Bild: Ulsamer)

Boris Johnson: „The greatest place on earth“

In seiner ersten Rede als Premierminister versprach er im Unterhaus nicht nur den Brexit bis zum 31. Oktober oder allerlei Geschenke an die Wählerschaft, sondern legte auch im Stile Donald Trumps die Messlatte hoch: „making this country the greatest place on earth“!, so meinte er. Und dies gelte in gleichem Maße für Familien, Unternehmen, Arbeitnehmer, Nutzer des kränklichen Gesundheitsdienstes – eigentlich für jeden. Ein neues „golden age for our United Kingdom“ werde anbrechen. Die Conservative Party sei schließlich die „party of the people“, was weite Bevölkerungskreise so bisher partout nicht erkennen wollen. Und selbstredend würden die Arbeiterrechte – wie vielfach befürchtet – nach einem Austritt nicht geschmälert, sondern erweitert – in diesem „wonderful country“. Man darf gespannt sein, was Johnson von seinen Versprechungen wirklich in die Tat umsetzen wird!

Boris Johnson hat den großen Vorteil, dass sich die oppositionelle Labour Party unter Jeremy Corbyn in keinem besseren Zustand als die Konservativen befindet. Corbyn, der die EU für einen Kapitalisten-Club hält, hat mit seinem schwankenden Kurs das Chaos mit angerichtet, an dem Theresa May die Hauptschuld trägt. Rachel Maclean fühlte sich nach einer Sitzung mit Boris Johnson im europakritischen 1922 Committee „lovebombed“, doch ihr Abgeordnetenkollege Keith Simpson meinte despektierlich „The circus has come to town.“ Erst in den nächsten Monaten werden wir alle sehen, welche Aussage denn eher zutrifft und welches Kostüm Boris Johnson an Halloween tragen wird.

 

Rötlicher Sonnenuntergang über dem Meer an der Küste von Cornwall.
Mag der europäische Gedanke beim Referendum über die EU-Mitgliedschaft auch den Kürzeren gezogen haben, so dürfen wir hoffen, dass er nach einer (politischen) Nacht wie die Sonne auch wieder aufgeht. (Bild: Ulsamer)

 

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