Geschichte als Belastung und Bereicherung
Fährt man, wie wir, mit dem Bus von Dublin nach Belfast, denn der Flug von Stuttgart führte bequem in die Hauptstadt der irischen Republik, dann fällt schon am Stadtrand das Fehlen von Industrieunternehmen auf. Und so bleibt es auch bei allen Stadtwanderungen zu Fuß, mit dem Bus oder dem Taxi durch die nordirische Metropole: Baukräne allerorten, aber es wird an Büro- und Einkaufskomplexen gewerkelt – vom industriellen Zentrum früherer Jahrhunderte ist in Belfast nichts mehr zu spüren. Belfast hat Gottseidank die Verwüstungen der ‚Troubles‘ hinter sich gelassen, die von den 1970er bis Ende der 1990er Jahre zahlreiche Menschenleben gekostet haben. Wer jedoch glaubt, die Gegensätze zwischen den katholischen und protestantischen Bevölkerungsgruppen, zwischen Republikanern einerseits und Unionisten, den Anhängern der Union mit Großbritannien andererseits, hätten sich gewissermaßen in Luft aufgelöst, der irrt. Um so wichtiger ist es, dass die durch das Karfreitagsabkommen im Jahre 1998 begonnene Annäherung nicht durch den von der britischen Premierministerin Theresa May und ihren Brexiteers vorangetriebenen Ausstieg aus der Europäischen Union wieder zu einer Verschärfung der Lage in Nordirland führt.
Betrachtet man die innerstädtischen Bereiche Belfasts von der Aussichtsplattform des Shopping Centers Victoria Square, so stellt sich die Frage, ob es denn in dieser Stadt keine Abteilung für Stadtplanung oder so etwas wie einen Masterplan gibt. Ein buntes und zuweilen eher tristes Sammelsurium an Hochhäusern reckt sich gen Himmel und dies irgendwie planlos über die Stadtteile verstreut: Eine Skyline mag ja ganz nett anzusehen sein, aber nicht, wenn es aussieht, als habe ein Riese seine Bauklötzchen nach Gutdünken in der Stadt mit 340 000 Einwohnern abgesetzt. Die an sich recht komprimierte Innenstadt hat eine solche Bauwut eigentlich nicht verdient. Aber es gibt auch positive Beispiele. So kann man in einem ehemaligen Bankgebäude bei Tesco Metro unter einer bunten Jugendstil-Kuppeldecke einkaufen, und ausgerechnet die oft kritisierte Textil-Billigkette Primark residiert in einem gelungen renovierten Altbau.
Konfessionelle Segregation besteht weiter
Die Innenstadt hat nach der Rückkehr des Friedens wieder an die alten Erfolge anknüpfen können: Einkaufen, gut Essen, ein Bier im Pub. Etwas differenzierter ist die Situation in angestammten Wohnbereichen zu sehen, die noch immer stark von einer konfessionellen Abschottung geprägt werden. Dies trifft insbesondere auf zwei anfänglich parallel verlaufende Straßen zu: Die von Katholiken bewohnte Falls Road und die Shankill Road, in der die Protestanten dominieren. Diese beiden Straßenzüge sind ein Musterbeispiel für Segregation. Eigentlich ähnelt sich das tägliche Leben in den pro-irischen und pro-britischen Hochburgen, denn Wohnhäuser, kleine Geschäfte, Pubs sind kaum zu unterscheiden – wären da nicht Murals mit ganz unterschiedlichen politischen Aussagen. Aber nicht nur die Wandbilder machen klar, wer in welchem Bezirk wohnt, sondern auch Gedenkstätten, die an die eigenen Toten der Unruhen erinnern.
In der Shankill Road schlagen die Herzen der Bewohner für das Vereinigte Königreich und die Königsfamilie. Und um dies zu unterstreichen haben sie auch gleich eine ganze Hauswand mit Konterfeis von Königin Elizabeth II. aus allen Phasen ihrer Regierungszeit geschmückt. In der Falls Road dagegen käme sicherlich niemand auf die Idee, sich mit diesem Symbol der britischen Unterdrückung gemein zu machen. Stattdessen geht es um die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik. Deutlich wird aus den Murals auch, dass der bewaffnete Kampf zwar seit 1998 durch das Karfreitagsabkommen beendet wurde, letztendlich betrachten sich jedoch beide Seiten, Katholiken und Protestanten, weiterhin als Verlierer. Irgendwie fühlen sich viele Bewohnerinnen und Bewohner noch immer unter Belagerung der jeweiligen Gegenseite. Und „No surrender“ taucht zwar eher bei protestantischen Gruppen auf, doch keiner der Beteiligten möchte aufgeben – wobei auch immer.
Aus Unterdrückung erwuchs Gewalt
Die katholische Mehrheit war in Irland seit der brutalen Besetzung durch Oliver Cromwell im 17. Jahrhundert an den Rand der Gesellschaft gedrückt worden, sie wurden enteignet, durften weder Kirchen bauen noch einen offiziellen Gottesdienst abhalten. Das mag lange her sein, doch zieht sich die Unterjochung wie ein roter Faden durch die nachfolgenden Jahrhunderte. So feiern noch heute protestantische Organisationen wie der Orange Order mit Umzügen den Sieg Williams III. von Oranien im Jahre 1690 am River Boyne über die Katholiken unter James II.
Selbst oder gerade nach der Gründung der irischen Republik im Jahre 1922 wurde die katholische Minderheit in Nordirland weiterhin als Bürger zweiter Klasse behandelt: Wohnraum in Council Houses erhielten protestantische Mieter, die Katholiken hatten das Nachsehen, und bis heute werden solche von der öffentlichen Hand finanzierten Gebäude insbesondere in protestantischen Bezirken errichtet, obwohl die Bevölkerungszunahme auf katholischer Seite deutlich größer ist. Arbeitsplätze wurden Protestanten zugeschanzt, die Polizei war bis zum Karfreitagsabkommen weitgehend protestantisch besetzt.
Die Liste der Benachteiligungen ließe sich fast endlos fortsetzen. Aus dieser Zurücksetzung und der zunehmenden Gewalt gegen Katholiken durch die nordirische Polizei, protestantische paramilitärische Organisationen und dann auch noch das britische Militär sprang der Funke auf das Pulverfass über, das dann in den „Troubles“ explodierte – eine irische Untertreibung für Blutvergießen und Morde. Die damals kaum noch wahrgenommene Irish Republican Army (IRA) verdankte ihr Wiedererstehen in verschiedenen Ausprägungen der unnachgiebigen Haltung der britischen Regierung und ihrer nordirischen Gefolgsleute. Die Gewaltakte der IRA sollen damit nicht entschuldigt werden, doch wenn Menschen über Jahrhunderte unterdrückt werden, dann steigt der Druck im gesellschaftlichen Kessel und irgendwann kommt der große Knall.
Peace Walls gegen Molotowcocktails
Ein Beispiel aus Belfast sind die Angriffe auf das Hotel Europa, das heute noch zu den herausragenden Hotels in Belfast gehört. Bei seiner Konzeption und Einweihung galt es als Beispiel für ein Investment in eine prosperierende Stadt, doch dann erlitt und überstand das Hotel Europa zwischen 1971 und 1994 die fast nicht vorstellbare Zahl von 36 Bombenanschlägen und wurde zum am meisten bombardierten Hotel der Welt. Heute, so meinen manche, ist es vielleicht auch ‘nur’ noch das am häufigsten mit Bomben angegriffene Hotel Westeuropas, denn leider gibt es ja unzählige Konflikte in unserer Welt. Das Hotel Europa war damals nicht nur die Unterkunft für viele Journalisten, die über die Troubles berichten wollten, sondern auch eine Informationsbörse, denn alle in den Konflikt verwickelten Gruppierungen versuchten natürlich, ihre Sicht der Dinge an die Medienvertreter heranzutragen. Viele bezeichneten das Hotel Europa auch als ‚hardboard hotel‘, denn nach so mancher Bombenexplosion reichten die bevorrateten Ersatzscheiben nicht aus und die Fenster mussten provisorisch mit Hartfaserplatten gesichert werden.
Um den brandschatzenden Mob von Ausflügen in das jeweilige Nachbarviertel abzuhalten, wurden zwischen verschiedenen Stadtteilen sogenannte ‚Peace Walls‘ errichtet: Sie sind acht bis zwölf Meter hohe Mauern und Zäune, die auch das Hinüberwerfen von Molotowcocktails verhindern sollen. Trotz der zumindest äußerlichen Beruhigung der Lage legen viele Bürgerinnen und Bürger weiterhin wert auf den Erhalt dieser Einrichtungen, denn sie vermittelten über lange Jahre ein gewisses Gefühl der Sicherheit – und noch heute werden über Nacht die Tore geschlossen. Auch bei diesem Aspekt wird deutlich, dass die nordirische Gesellschaft noch einen weiten Weg zu gehen hat, bis alte Feindschaften neuen Freundschaften gewichen sind. Bemerkenswert ist es, dass über Jahrzehnte auch im 20. und 21. Jahrhundert Feindschaften ‚gepflegt‘ wurden, obwohl viele Katholiken aus der Falls Road die Kontrahenten aus der Shankill Road – und umgekehrt – gar nicht zu Gesicht bekommen. Wichtig ist es, dass am Arbeitsplatz und in der Innenstadt, aber auch in Schulen Katholiken und Protestanten zusammenkommen und Schritt für Schritt Feindbilder abgebaut werden. Hoffen wir, dass es in Belfast wie in Derry bald eine Peace Bridge statt Peace Walls gibt.
Tourismus statt Industrie
In der prächtigen, im victorianischen Stil erbauten City Hall, gewissermaßen dem Rathaus der Stadt, das vom einstmaligen Glanz kündet, vermittelt eine umfassende Ausstellung einen tiefen Einblick in die Geschichte Belfasts. Auffallend ist auch in dieser Präsentation, dass die einstmals vorherrschende Industrie heute nur noch ein Schattendasein führt: So wird ganz locker berichtet, dass seit 1970 hunderttausend Arbeitsplätze in der Industrie verlorengegangen sind – gerade auch wegen der „stiff competition from other countries“. Da bin ich ja mal gespannt, was den Überresten der industriellen Kerne im ganzen Vereinigten Königreich blüht, wenn Theresa May den Brexit durchzieht und sich das Vereinigte Königreich im internationalen Wettbewerb neu ausrichtet. Aber zurück in die City Hall. „Belfast like other post-industrial cities has redefined itself as a tourist attraction.“ Hin und wieder einlaufende gigantische Kreuzfahrtschiffe hätten die einstmals in Belfast vom Stapel laufenden Luxusliner ersetzt. Da schüttle ich dann doch etwas betroffen den Kopf, denn nicht jeder Arbeitnehmer möchte im Tourismus tätig werden, nicht jeder besitzt die Qualifikation oder das Interesse für einen Bürojob, als Anwalt (-sgehilfe), Lehrer, Sozialarbeiter, … doch es finden sich seit Jahren immer weniger Arbeitsplätze in der fertigenden Industrie. Damit liegt Belfast allerdings auf der gesamtbritischen Linie, die sich bereits unter Margaret Thatcher abzeichnete, denn als britische Premierministerin förderte sie von 1979 bis 1990 die Deindustrialisierung ihres Landes und setzte auf das Finanzwesen. Mit dieser ‚Schrumpfkur‘ entzog sie auch den dauerstreikenden Gewerkschaften jener Tage ihre Basis.
So ganz überzeugt sind die Stadtoberen – der Bürgermeister wechselt im Übrigen jedes Jahr, was natürlich auch keine Kontinuität schafft – von der eigenen Argumentation nicht. „The city is now an entertainment center“, aber in Strategiepapieren der Verwaltung wird auf die einseitige Ausrichtung der Wirtschaft durchaus hingewiesen. Einerseits entfallen ¾ der Jobs auf den Dienstleistungsbereich einschließlich Handel, Gesundheit, „professional & scientific“, und andererseits wird das hohe Maß an Personen erwähnt, die über keine oder geringe Fähigkeiten und Qualifikationen verfügen: „High levels of persons with no or low skills and qualifications“, so heißt es wörtlich im „Topic Paper: Employment and Economy. Belfast. Local Development Plan 2020-2025“. Kein Wunder ist es dann, dass über die Hälfte der Arbeitsplätze in Belfast von Einpendlern besetzt werden und eine überdurchschnittliche Zahl an Personen in Belfast lebt, die in die britische Kategorie „economic inactivity“ fallen und „Highest levels of employment and income deprivation in Northern Ireland“ zu beklagen sind. Diese Benachteiligung im wirtschaftlichen Bereich – gerade bei Katholiken, aber auch protestantischen Mitgliedern der Arbeiterschaft im herkömmlichen Sinne -, das Zurückfallen bei Arbeitschancen und Einkommen sind ein Nährboden für den Erhalt alter Feindschaften zwischen katholischen und protestantischen Einwohnern.
Titanic – Master of Desaster
Wenn ein Luxusliner bereits bei seiner Jungfernfahrt auf einen Eisberg aufläuft, da die White Star Line unbedingt einen Geschwindigkeits-Rekord auf der Transatlantikstrecke einfahren wollte, das für unsinkbar erklärte Schiff auf dem Meeresgrund zerschellt und 1500 Passagiere und Mannschaftsmitglieder ertrinken, da man nicht genügend Rettungsboote an Bord hatte, dann handelt es sich eindeutig um einen Fall menschlicher Hybris. Doch auch nach dem Untergang der Titanic im Jahre 1912 erhielt die Werft Harland & Wolff zahlreiche Aufträge für Schiffsneubauten und brachte ältere Schiffe auf den neusten technischen Standard. Da muss ein echter Master of Desaster die Hand geführt haben. In unseren Tagen ist ‚Titanic Belfast‘ ein architektonisches Highlight im weiträumig brachliegenden ehemaligen Werftenviertel, ein Anziehungspunkt – nicht nur für Touristen, sondern auch für alle an (Wirtschafts- und Sozial-) Geschichte, aber auch an den damaligen vielen unterschiedlichen im Schiffsbau tätigen Gewerken interessierten Besucher.
So ist die Ausstellung durchaus für all diejenigen interessant, die nicht auf Luxusliner oder Katastrophen stehen, und zu dieser Gruppe zähle ich mich auch selbst. Anschaulich wird die Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und das gesellschaftliche und soziale Leben in Belfast dargestellt. Und auch politische Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern der Home Rule für Irland und ihren Gegnern, die alles verhindern wollten, was die Bande zum Vereinigten Königreich schwächen könnte, werden nicht ausgespart. Damals marschierten alleine bei Harland & Wolff 15 000 Mitarbeiter durch das Werkstor, heute sind es gerade mal rd. 200. Und auch die konkurrierenden Werften werden thematisiert.
Geschichte wird lebendig
Große Unterschiede werden bei einem Besuch der Titanic Experience zu deutschen Museen deutlich: Es geht nicht um Artefakte, sondern um das Erzählen einer Geschichte. Spätestens als wir in einer Art Gondel an sehr beweglichen ‚Kränen‘ durch den Schiffsbauch der Titanic glitten, den dort Tätigen hautnah bei ihrer Arbeit zusahen und auch durch Hitze, Gerüche und Geräusche erspüren konnten, unter welchen Bedingungen der Luxusliner entstand, wurde klar, wir erleben eine angelsächsische Präsentation. So liegt die Ausstellung in Belfast auch Hollywood näher als einem deutschen Museum.
Fast folgerichtig ist es, dass nebenan in einer riesigen Halle keine Schiffe oder Maschinen gebaut, sondern die nächsten Folgen von ‚Game of Thrones‘ abgedreht werden, jene kommerziell erfolgreiche Fantasy-Fernsehserie für den US-Kabelsender HBO. Die irische Filmförderung hat ihren Teil dazu beigetragen, dass die Serie in Nordirland entsteht. Kaum hatte ich im Hafengebiet meine Kamera gezückt, da traf auch schon der erste Mitarbeiter einer Security-Firma ein, der meinte, ich dürfte hier nicht fotografieren. Seinem zur Verstärkung anrückenden Kollegen konnte ich dann zumindest vermitteln, dass ich noch nie eine Folge des Fantasy-Spektakels gesehen hätte und nur die Relikte der industriellen Geschichte, Samson und Goliath, aufnehmen wolle. Die beiden gewaltigen Krupp-Kräne sind ein Wahrzeichen des Hafens und werden noch genutzt. Aber nicht nur die Nordiren tun fast alles, um US-Filmproduktionen ins Land zu holen, sondern auch die Regierungsvertreter in der Republik Irland. Für ‚Star Wars‘ wurde in Kerry nicht nur zeitweise der Luftraum gesperrt, sondern auch ganze Strände. Steven, der Security-Mitarbeiter in Belfast, war ein freundlicher Zeitgenosse, doch an Coumeenoole in der Nähe von Dingle wurden wir wegen der Dreharbeiten für die neueste Folge der ‚Sternenkrieger‘ patzig des Platzes verwiesen, und dies, obwohl nur oberhalb ein Hubschrauber mit der Filmcrew landen sollte. Zwar sind die Originalschauplätze nicht immer sofort auf dem heimischen Bildschirm oder der Kinoleinwand erkennbar, doch der touristische Nutzen ist groß, dies belegen die zahlreichen Tour-Anbieter, die sich auf die Spuren der TV- und Filmhelden gesetzt haben.
Ein Aufflammen des Konflikts verhindern
Den ersten Artikel meines gesamten journalistischen Lebens habe ich in grauer Vorzeit für eine Schülerzeitschrift geschrieben: er handelte von den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Irland der 1970er Jahre. Damals hatte ich die Schauplätze der Troubles nicht gesehen, doch bei jedem Besuch, sei es in Dublin, Belfast oder Derry, aber auch in den ländlichen Regionen wird deutlich, dass heute wieder viel auf dem Spiel steht: Wer ein Aufflammen des Konflikts zwischen protestantischen und katholischen Gruppierungen verhindern möchte, der muss dazu beitragen, dass keine „hard border“, keine erkennbare Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland entsteht, mit Wachhäuschen und Kontrollen und allen anderen Konsequenzen.
Einen zentralen Beitrag zur Befriedung hat das erwähnte Karfreitagsabkommen geleistet: Der freie Verkehr von Menschen (und Waren) hat den Katholiken in Nordirland das Gefühl vermittelt, es gebe wieder eine Gesellschaft auf der grünen Insel, ohne dass die Protestanten den Eindruck gewinnen mussten, ihre politischen Bindungen nach London würden beschnitten. Mit dem Ausstieg der Briten aus der EU stellt sich ein kaum lösbares Problem: Theresa May kann die nordirischen Protestanten nicht enttäuschen, denn ohne die Unterstützung durch die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) hätte ihre Regierung keine Mehrheit mehr. Eine mehr oder weniger fiktive Grenzziehung in der Irischen See ist damit unmöglich. Kommt die harte Grenze zur Republik zurück, dann fühlen sich die Katholiken erneut als Verlierer. Ich glaube nicht, dass Formelkompromisse, wie sie Theresa May bereits gemeinsam mit Jean-Claude Juncker in einem wenig konkreten ‚Joint Paper‘ vorgelegt hatte, das Problem lösen können.
Spaltungen überwinden
Wer sich für die irische Geschichte interessiert, der ist in Belfast gut aufgehoben, denn er trifft auf diese bei Schritt und Tritt. Die Stadt selbst hat die Wunden der Troubles weitgehend geschlossen, doch ihr Stadtbild ist für mich zwiespältig: Im Detail betrachtet gibt es durchaus sehenswerte historische und moderne Gebäude, doch als Gesamtensemble leidet es durch eine fehlende Stadtplanung, leidet es zeitweilig auch in den innerstädtischen Bereichen durch ein unvermitteltes Nebeneinander von glamourösem Neubau und zweistockigem Behelfsbau wie weiland in deutschen bombenzerstörten Nachkriegsstadtvierteln. Selbst unweit des Leuchtturmprojekts Victoria Square verkommt ein wunderschönes viktorianisches Gebäude durch Vernachlässigung: Moos und Gras wachsen entlang der Regenrinnen, grüne Algen bemächtigen sich der roten Sandsteinfassade, … und davor eine gelungene Plastik – „Spirit of Belfast“ – fast möchte man sagen: dieses Kunstwerk hat’s erfasst, unterschiedliche Kreise formen ein Ganzes!
Wenn die Verantwortlichen der Stadt zusätzliche Verwerfungen verhindern wollen, dann müssen sie sich in Zukunft verstärkt um angestammte Wohnquartiere kümmern und dürfen ihr Heil nicht nur bei städtebaulichen Großprojekten wie dem Titanic Quarter oder Belfast Waterfront am River Lagan konzentrieren.
Die noch immer vorhandene Teilung der Stadt in katholische und protestantische – nationalistische und unionistische – Viertel wird sich nur langsam verändern lassen, doch auch an den überdurchschnittlich starken Unterschieden von Menschen mit und ohne Qualifikation, mit und ohne Chancen an Teilhabe am Arbeitsmarkt, beim Einkommen, bei Wohnraum muss gearbeitet werden. Zukunftschancen dürfen nicht nach Religionszugehörigkeit oder Wohnquartier verteilt werden, wenn Belfast die inneren Spaltungen überwinden möchte. Manche Bauwerke sind da vielleicht ein Fingerzeig, die Menschen, die in ihnen arbeiten, mögen aus allen Kreisen der Bewohner Belfasts kommen.
10 Antworten auf „Belfast – eine mehrfach gespaltene Stadt“