Street-Art als politisches Kunstwerk
Gehe ich durch so manche Stadt, dann frage ich mich, was Zeitgenossen veranlasst, sich mit allerlei Graffiti an Hausfassaden zu verewigen. Es zeigt sich eben bei vielen Schmierfinken, dass sie keine Künstler sind. Ganz anders sehe ich die kleinen und großen Kunstwerke des englischen Street-Art-Künstlers Banksy. Zwar bin ich weit davon entfernt, alle seine politischen Aussagen zu teilen, die er mit seinen Sprüharbeiten in die Gesellschaft hineinträgt. Wenn, wie in seiner Geburtsstadt Bristol, ein Teddybär Molotowcocktails auf Polizeibeamte wirft, dann blitzt seine anarchistische Grundhaltung auf, die sicherlich nicht jedermanns Sache ist. Aber als ich in Dover bei der Fahrt zum Fährhafen zum ersten Mal sein treffendes, eine ganze Hausfassade füllendes Werk zum drohenden Brexit sah, da war wieder klar, dass er ein Thema pointiert darstellen kann: Ein Handwerker auf einer Leiter ist gerade dabei, einen Stern aus der EU-Fahne heraus zu meißeln. Wie so oft gefiel das Werk nicht allen, und es wurde übertüncht. Banksy hat es verstanden, seine Identität vor der Öffentlichkeit geheim zu halten und Besucher an Orte zu locken, die sie ansonsten kaum aufgesucht hätten.
Fassaden werden zum Kunstobjekt
In Bristol pilgern Banksy-Interessierte auf einen wenig ansehnlichen Hinterhof, um ‚A Girl with a Pierced Eardrum‘ im Original betrachten zu können. Uns wies ein freundlicher Anwohner schon ungefragt zwei Hausecken entfernt den richtigen Weg, denn Banksys Werke sind in der englischen Hafenstadt eine Touristenattraktion – und es gibt einen Banksy-Trail auch preisgünstig als App. Den Ohrring, den Banksys ‚Girl‘ trägt, war schon vorher da, ein externer Signalgeber einer Alarmanlage! Banksy spießt das Sicherheitsbedürfnis vieler Bürger mit seinem Graffito auf und nutzt – wie auch an anderen Gebäuden – vorhandene Stilelemente. Das Wandbild ist gleichzeitig eine gesellschaftskritische Parodie auf das Gemälde des holländischen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert. Nun hat es ein ‚künstlerischer Zeitgenosse‘ oder gar Banksy selbst mit der obligatorischen Corona-Maske versehen. Die unfreundliche Gabe aus dem chinesischen Wuhan verändert in extremer Weise unser Leben, und dies schlägt sich auch hier in der ‚Aktualisierung‘ des Banksy-Werks nieder. Museen waren in Bristol wegen der Corona-Epidemie Anfang September geschlossen, aber Restaurants ohne Maske zugänglich: eine innere Logik kann ich darin nicht erkennen.
Es ist im Grunde fast unglaublich, dass Banksy seine Freihand-Werke und Schablonen-Graffiti nahezu unbemerkt von der nicht immer begeisterten Obrigkeit in den Innenstädten platziert. Bleiben wir noch in Bristol, wo er vermutlich 1974 geboren wurde und seinen Weg als Street-Art-Künstler begann: Gegenüber der City Hall lässt er einen Liebhaber am Fenstersims hängen, während der gehörnte Ehemann und die leicht geschürzte Ehefrau über ihm aus dem Fenster schauen. Ohne Helfer dürfte es weder hier noch in Dover oder an anderen Orten möglich gewesen sein, Gerüste aufzubauen und die entstehende Kunst bis zur Fertigstellung zu verbergen. Auf so manchem Hinterhof war es sicherlich einfacher, ein Graffito anzubringen, denn die Besucherflut kam erst nach der Fertigstellung.
Kunst und die Banausen
Street-Art hat es nicht leicht, so wurde ein von Banksy gestalteter Gorilla übermalt, als ein islamisches Zentrum in Bristol in das Gebäude einzog, das mit Graffiti überzogen gewesen war. Oder war die Begeisterung für mitteleuropäisch inspirierte Kunst vielleicht nicht ganz so ausgeprägt? Schmierereien oder geworfene Farbbeutel verunzieren so manches Werk Banksys, und nicht wenige Hausbesitzer sind überfordert, wenn der Provokateur ausgerechnet ihre Garage oder Fassade für ein neues Schlaglicht auf unsere Gesellschaft ausgesucht hat. In Port Talbot ließ Banksy ein Kind mit der Zunge vermeintliche ‚Schneeflocken‘ auffangen, die sich dann als weiße Partikel aus einem brennenden Behälter auf der anderen Garagenseite herausstellen – wohl auch ein Bezug zum nahegelegenen TATA-Stahlwerk. ‚Season‘s Greetings‘ verschaffte der Garage so viele Betrachter, dass ihr Besitzer das Werk an einen Kunsthändler veräußerte, und dieser versprach, es anfänglich in Port Talbot auszustellen. Vor Ort entpuppte sich der neue Standort als ein teilweise leerstehendes Gebäude, das – Corona-bedingt? – nicht zugänglich war. Verdreckte Glasscheiben machen mehr als deutlich, dass das Neath Port Talbot Council keinen großen Wert auf Banksys Arbeit legt. Banausen gibt es eben überall – und gerade auch in so mancher Stadtverwaltung.
Kaum hatte sich Banksy an einer weiteren Fassade in Bristol ‚verewigt‘, da schützten die Hausbewohner das Mädchen mit der Schleuder mit Holzplatten und die rote Blume, die es nach oben geschleudert hatte, mit einem Kunststoffüberzug. Vielleicht denken die Hausbesitzer auch schon an den Verkaufswert, doch im Grunde wird Street-Art obsolet, wenn sie versteckt wird. Der Ruhm könnte für Banksy so zum Problem werden, da seine Kunst reflexartig geschützt oder von politisch Andersdenkenden übertüncht wird.
Geschreddert steigt der Wert
Nicht zimperlich geht Banksy mit seinen eigenen Kunstwerken um: ‚Girl with Balloon‘ wurde im Rahmen einer Auktion bei Sotheby‘s nach dem Zuschlag an eine Bieterin für über eine Million Pfund vor Publikum teilweise geschreddert. Die von Banksy von langer Hand vorbereitete Aktion möchte er als Kritik am heutigen Kunstmarkt verstanden wissen, doch im Grunde hat sich der Preis des Werks nach Meinung von Kunstexperten durch das Schreddern eher verdoppelt. Natürlich lässt sich der Strom an Betrachtern nicht in Euro, Dollar oder Pfund messen, die z. B. in der Stuttgarter Staatsgalerie das teilweise geschredderte Bild betrachteten, aber das große Interesse belegt die Bedeutung Banksys für den Kunstmarkt. Da mag Banksy auch anarchistische Grundüberzeugungen haben, doch er bringt Sammlern und Auktionshäusern gleichzeitig viel Geld in die Kasse. Und der Künstler selbst konnte es sich leisten, für eine Million Pfund das City Museum and Art Gallery in Bristol zu mieten, um es mit eigenen Werken zu bestücken: In sechs Wochen pilgerten über 300 000 Besucher in diese Ausstellung.
Viele seiner frühen Werke sind nicht mehr erhalten, doch an einem besetzten Haus in Bristol, der Kebele Community Co-Operative, einem Zentrum anarchistischer Gruppen, hat ein Graffito überlebt: Entstanden ist das Werk Mitte der 1990er Jahre, als Banksy noch im Bristoler Stadtteil Easton gelebt haben soll. Die anderen Graffiti an dieser Mauer wurden immer wieder übertüncht und durch neue Bilder ersetzt, nicht so aber Banksys Werk. Street-Art lebt auch vom Wandel, was sich bei vielen Graffiti zeigt, denn die Sprayer-Konkurrenz schläft nicht.
Kunst, Kommerz und Anarchismus
Nun kann man Banksy nicht selbst fragen, doch er dürfte mit gemischten Gefühlen erleben, wie sich der Kommerz seiner Kunst angenommen hat. Millionenbeträge lassen sich mit seinen Werken erzielen, und dennoch hält Banksy noch die Fahne des Anarchismus hoch. Oder ist auch dies Teil des Kunstbetriebs, den er zumindest anfänglich ablehnte? Banksy unterstützt mit den eingespielten Geldern u. a. die Bergung von Migranten auf der Fluchtroute übers Mittelmeer oder ein Krankenhaus für Palästinenser. Ohne entsprechende Einnahmen wären auch Events wie ‚Dismaland‘ nicht möglich: Banksy schuf 2015 im englischen Weston-super-Mare mit ‚Dismaland Bemusement Park‘ nach eigenen Worten „The UK‘s most disappointing new visitor attraction.“ Manchen Beobachtern erschien ‚Dismaland‘ als Parodie auf Disneyland, andere sahen in diesem ‚Anti-Unterhaltungs-Park‘ eine tiefgehende Kritik am Kapitalismus bzw. ein Synonym für dessen Niedergang. Dazu wäre auch der Ort Weston-super-Mare perfekt gewählt, denn einst ein Seebad mit Glanz und Pomp ist heute davon kaum noch etwas übriggeblieben. 50 Künstler waren an diesem kontroversen Gesamtkunstwerk beteiligt, das u.a. das zerfallene ehemalige Badezentrum einbezog.
„Kunst ist kein Spiegel, der der Gesellschaft standhält, sondern ein Hammer, mit dem sie geformt werden kann“, so Bertolt Brecht. Zitiert wurde er von Banksy in seiner Einführung in das ‚Dismaland‘-Programm. Banksy warf dabei die Frage auf, was man denn tun solle, wenn der Hammer aus Schaumstoff sei? Eine Frage, die sich so mancher politisch aktive Bürger wohl ebenfalls täglich stellt! Und Banksy dürfte auch an der Antwort zu knabbern haben, denn seine gesellschaftskritischen Street-Art-Werke erregen zwar Aufsehen, aber tragen sie in gleichem Maße zu Veränderungen in der Gesellschaft bei? Eher weniger wird wohl Banksy ein Beitrag von Daniel-C. Schmidt in der ‚Zeit‘ gefallen haben, in dem er als der „weltberühmte Konsenskünstler“ tituliert wurde, denn auf Konsens dürfte er mit seinen Werken nicht aus sein, sondern eher auf eine Anregung zur Debatte. Und ganz folgerichtig kam der ‚Zeit‘-Autor bei ‚Dismaland‘ auch zu dem Schluss, es sei „lässiger Kritik-Kitsch“. Aber aus eigenen Erfahrungen mit der ‚Zeit‘ kann ich nur sagen: dort hat sich ein Redakteurs-Völkchen in seinem eigenen Elfenbeinturm eingeigelt. Das anarchistische Aufblitzen in Banksys Street-Art dürften manche Kritiker übersehen haben.
Banksys Street-Art ist mehr als Graffiti
Wandbilder sollten zum Nachdenken anregen, was die häufig mit Schablonen hergestellten Stencils von Banksy allemal bewirken. War er zuerst mit der Spraydose oder dem Farbeimer freihändig unterwegs, so setzte er zunehmend auf vorgefertigte Schablonen. Er bringt Gesellschaftskritik auf den Punkt, und dies nicht selten mit skizzenhaften, aber durchaus auch vielschichtigen Gemälden. Street-Art zeigt mit Banksy, dass sie mehr ist als Graffiti aus einigen Buchstaben oder Kringeln. Wie so oft im Leben trennen sich so Künstler von Schmierfinken. Letztere nehmen leider in unseren Städten wieder zu, und sie können weder weiße Fassaden noch historische Mauern ‚ertragen‘ und verunzieren diese mit ihren gedankenlosen Schmierereien. Nicht jeder, der eine Spraydose in der Hand halten kann, ist dadurch ein Meister der Street-Art.
Mit dem Bekanntheitsgrad mehren sich auch die Unternehmen und Organisationen, die einen finanziellen Vorteil aus Banksys Schaffen ziehen wollen, welches inzwischen eine gewaltige Bandbreite umfasst. Banksy betonte zwar „Copyright is for losers“, doch er ließ 2014 andererseits sein Bild ‚Flower Thrower‘ als Marke bei der EU eintragen. Ein britisches Unternehmen, das Postkarten mit diesem Motiv vertreibt und das Markenrecht angefochten hatte, bekam nun Recht. Nun bin ich Soziologe und kein Jurist, aber der Argumentation der zuständigen EU-Behörde kann ich nicht folgen: sie betonte jüngst, Banksy gebe seine wahre Identität nicht preis und habe das Urheberrecht mehrfach kritisiert. Folgt man solchen juristischen Winkelzügen, dann müsste jeder Dieb straffrei ausgehen, der das Eigentumsrecht ablehnt, klaut und seine persönlichen Daten nicht angeben will. Street-Art ergibt schon aus dem Begriff heraus, dass sich das Kunstobjekt auf der Straße befindet und für die Öffentlichkeit erstellt wird, daher muss sicherlich auch jedes Werk fotografiert und in der Berichterstattung genutzt werden dürfen. Ob sich daraus aber gleichfalls ableiten lässt, man könne gegen den Willen des Künstlers kommerziellen Nutzen vorantreiben, das wage ich zu bezweifeln. Bei EU-Bürokraten wundert mich allerdings fast nichts mehr.
Wenn Teddybären Molotowcocktails und maskierte Personen Blumen werfen, dann verstecken sich dahinter auch Fragen nach dem Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Und wir tun gut daran, kritische Aspekte offen zu diskutieren. Wer alles unter den Teppich kehrt, der wird irgendwann über diese Unebenheiten stolpern. Zu einer offeneren Debattenkultur kann Banksy mit seinen Werken, die Themen auf den Punkt bringen, sicherlich beitragen. Prägnant sind seine Aussagen, humorvoll häufig seine Darstellungsweise, und hin und wieder geht auch mal seine anarchistische Grundhaltung mit ihm durch.