Trickser und Schlafmützen als Gesetzgeber
Im Deutschen Bundestag und den Landtagen sitzen insgesamt rd. 2500 Abgeordnete und in Bundes- und Landesbehörden arbeiten 300 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, da sollte man eigentlich annehmen, Gesetze seien Maßarbeit. So überrascht es schon, wenn es bei der Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) weder im Bundestag noch im Bundesrat irgendjemandem auffiel, dass bei der Nachnutzung von aufgegebenen Bahnanlagen dem „überragenden öffentlichen Interesse“ Rechnung getragen werden muss. Nach der Verabschiedung in beiden Gremien dauerte es noch ein Dreivierteljahr – denn diese erfolgte Ende 2023 – bis bei den betroffenen Kommunen der Groschen fiel: Ihre Wohnbauprojekte auf stillgelegten Bahnarealen könnten nach jetzigem Sachstand nicht umgesetzt werden, weil sie nicht in die Kategorie des überragenden öffentlichen Interesses fallen! Straßen und Energieanlagen könnten gebaut werden, auch die Bundeswehr dürfte zur Landesverteidigung Bedarf anmelden, doch Wohnungs- und Städtebau fallen nach Expertenmeinung nicht darunter. Nun bin ich kein Jurist und würde Wohnungsbau in unseren Tagen gewiss dem überragenden öffentlichen Interesse zuordnen, Fachjuristen allerdings scheinen das anders zu sehen. Danach könnte plötzlich das durch den unterirdischen Durchgangsbahnhof in Stuttgart freiwerdende Gleisvorfeld usw. nicht mehr bebaut werden, eines der wichtigsten Argumente für den Umbau! Und somit würde Stuttgart 21, ein Monsterprojekt, das sich durch überlange Planungs- und Bauzeiten auszeichnet, einen Teil seines Charmes verlieren. Hat hier jemand getrickst, der auch den letzten Bahndamm für die Nachwelt sichern möchte, oder handelt es sich um Schlamperei vermischt mit Schlafmützigkeit bei der Erarbeitung der Gesetzesänderungen?
Einmal Bahn – immer Bahn?
Nun habe ich zu Beginn meines Berufswegs im Stuttgarter Sozialministerium gearbeitet und kann mir beim Allgemeinen Eisenbahngesetz daher durchaus beides vorstellen: Trickser und Schlafmützen waren am Werk. Einen interessanten Hinweis gibt die linksorientierte und Stuttgart 21 wenig zugeneigte ‚Wochenzeitung Kontext‘: „Im Verkehrsausschuss des Bundestages, auf dessen ‚expliziten Wunsch‘ laut Bundesverkehrsministerium die Verschärfung von Paragraf 23 zustande gekommen sei, hatte die Auswirkungen auf S 21 dem Vernehmen nach kaum jemand auf dem Schirm. Der Nürtinger Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel, für die Grünen im Ausschuss, aber offensichtlich schon. So argumentierte Gastel bereits am 16. Juni bei einer Veranstaltung in Singen: ‚Wir haben Entwidmungen von Eisenbahnflächen erschwert, indem wir die Beweislast umgedreht haben. Wer Schieneninfrastruktur auflösen und aus der rechtlichen Situation herausnehmen möchte, tut sich heute wesentlich schwerer. Wir wollen nämlich als Ampel-Koalition ausbauen und zusätzliche Infrastruktur schaffen.‘ Und er fügt hinzu: ‚Das könnte auch für Stuttgart 21 noch ein Thema sein.‘“ War es nun ein politischer Kniff des Bundestagsabgeordneten Gastel und Gleichgesinnter, die zwar den Tiefbahnhof in Stuttgart nicht verhindern konnten, die oberirdischen Gleisanlagen aber nicht aufgeben wollen und deswegen die Begrifflichkeit des überragenden öffentlichen Interesses in das Allgemeine Eisenbahngesetz geschmuggelt haben? Das kann ich nicht beurteilen, doch es würde zur Fraktion derer passen, die jede längst aufgegebene Bahntrasse reaktivieren wollen – wie der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann – und für zukünftige Bahnzwecke schon mal stillgelegte Flächen der Bahn vorbehalten wollen.
Gerne habe ich als Kind mit meiner elektrischen Eisenbahn gespielt und sie erweitert, doch manche Politiker scheinen das erst im späteren Leben tun zu wollen, und statt sich um wichtige Hauptstrecken zu kümmern, schlägt ihr Herz für aufgelassene Nebenstrecken. „Ein Jahrhundertprojekt mit Geschichte“, so hieß es auf der Internetseite der Projektträger, die eine frühere Bahntrasse wieder mit Leben füllen wollten. Dabei ging es im Übrigen nicht um die Zulaufstrecken für den Gotthardt-Tunnel, bei denen die deutschen Akteure im Bummelzugtempo unterwegs sind, sondern um die Verbindung von Calw nach Weil der Stadt. Selbst Ortskundige fragten sich früh, ob diese vor vier Jahrzehnten aufgelassene Strecke unerlässlich sei für die beiden Kommunen, die nicht mal zehn Kilometer auseinanderliegen. Mehr zu jenem aus meiner Sicht fragwürdigen Vorhaben finden Sie in meinem bereits 2017 veröffentlichten Artikel ‚Des Landrats Bimmelbahn. Eisenbahn treibt Fledermäuse in die Flucht‘. Inzwischen sind die Kosten dieses ach so wichtigen Bahnprojets auf über 160 Mio. Euro angewachsen, und die Fledermäuse wollen noch immer nicht begreifen, dass sie in den Tunneln und vor dem Portal nicht mehr gelitten sind. Naturschutz wird leider bei so mancher Planung als Nebensache angesehen, und das führt zu Verzögerungen und kostet Steuergelder. Völlig abwegig ist es, wenn ohne gründliche Voruntersuchungen die Politik ein Bauvorhaben durchwinkt – wie dies beispielsweise auch in Brandenburg geschah. Mehr dazu in: ‚Brandenburg: Tesla walzt die Natur nieder. Umweltverträglichkeitsprüfung wird zur Farce‘. Es ist schwierig, Natur und Technik unter einen Hut zu bekommen, dessen bin ich mir aus eigener Erfahrung bewusst. Für ein Prüf- und Technologiezentrum eines Automobilunternehmens konnten wir einen Standort mit 500 Hektar finden und entwickeln, und dies in Baden-Württemberg. Von Anbeginn gab es einen engen Austausch mit der Bürgerschaft und Behörden, aber insbesondere auch mit den Naturschutzverbänden.
Die jetzige Ampelregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz oder ihr Nachfolger wird den gesetzlichen Stolperstein im Allgemeinen Eisenbahngesetz auf die Seite räumen, dessen bin ich mir sicher, denn zahlreiche Projekte in Deutschland kommen durch den aktuellen Text des Gesetzes ins Stolpern. Denkbar ist es, den Gesetzestext zu belassen und den Wohnungsbau zum allgemeinen öffentlichen Interesse zu erheben, was mit Sicherheit in einer Zeit des Zuzugs und der ohnehin vorhandenen Wohnungsnot sachlich richtig wäre. Im Grunde ist es nicht verwunderlich, dass das Allgemeine Eisenbahngesetz ins Ressort des FDP-Bundesverkehrsministers Volker Wissing fällt, der nach fast 20 Jahren Planung den Ausbau der Neckarschleusen ad acta legte. Mehr dazu in: ‚Neckar: Schleusenverlängerung fällt ins Wasser. Ertüchtigung der Infrastruktur kommt in Deutschland zu kurz‘. Überaus ärgerlich ist es für mich, dass im XXL-Bundestag bzw. Bundesrat Gesetze durchgewunken werden, die entweder kaum einer gelesen oder die Bedeutung des Textes verstanden hat. Politikverdrossenheit entsteht auch, wenn Gesetze und Verordnungen der Nachbearbeitung bedürfen, kaum dass sie beschlossen wurden. Trickser und Schlafmützen sollten sich nicht an Gesetzesvorhaben beteiligen.
Zum Beitragsbild
Selbst als Befürworter von Stuttgart 21 tut man sich mit dem Schneckentempo schwer, mit dem die Planung sowie die politischen Entscheidungsprozesse und dann noch der Bau ablaufen. Es ist sicherlich nicht einfach, mitten in der Stadt und unter laufendem Betrieb einen Tiefbahnhof zu bauen und eine Schnellbahntrasse von Stuttgart nach Ulm mit langen Tunneln fertigzustellen, doch die Vorstellung des Projekts erfolgte in der Öffentlichkeit bereits vor 30 Jahren. Mehr zu dieser unendlichen Geschichte: ‚Stuttgart 21 hat endlich Fahrt aufgenommen. Infrastrukturprojekte: Wie wird man die rote Laterne los?‘ (Bild: Ulsamer)