Letztes Refugium: Gärten, Parks und Friedhöfe
Eichhörnchen sind im Grunde Waldbewohner, doch bekommen wir sie dort immer seltener zu Gesicht, dafür tummeln sie sich in Gärten, Parks und auf Friedhöfen mit altem Baumbestand. Die Erklärung dafür ist einfach: In Forstplantagen fehlt ihnen der Lebensraum, denn die Bäume werden oft geschlagen, noch ehe sie für die Eichhörnchen ausreichend Nahrung bieten könnten. Josef H. Reichholf schreibt in seinem lesenswerten Buch über „Das Leben der Eichhörnchen“, dass „ein Tier knapp 30 Kilogramm Eicheln pro Jahr“ benötigt. „Zehn Eichhörnchen, ein Paar mit acht Jungen im Verlauf eines Jahres, müssten allerdings schon die stattliche Menge von 300 Kilogramm zur Verfügung haben.“ Eicheln finden sich jedoch nur bei älteren Bäumen, denn eine Eiche brauche 80 Jahre, um erste Früchte auszubilden. Kein Wunder, dass städtische Parkanlagen oder Friedhöfe, aber auch alte Gärten für Eichhörnchen eine immer höhere Bedeutung erlangen, weil Bäume dort nicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten angepflanzt und erhalten werden. So wurden die Eichhörnchen zu Flüchtlingen, die sich ins urbane Leben wagten – wie der Feldhase, dem die industrielle Landwirtschaft und eifrige Jäger den Lebensraum rauben.
Eichhörnchen wecken Sympathie
Der Evolutionsbiologe und Ökologe Josef H. Reichholf war Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München, und so ist es nicht verwunderlich, dass er als Autor des oben genannten Buches immer wieder Vergleiche zu anderen Tieren zieht. Dabei kommen neben dem Eichhörnchen andere Nager nicht zu kurz, die immerhin die Hälfte aller bekannten Säugetierarten stellen. Das Eichhörnchen findet bei vielen Betrachtern Wohlgefallen, während die verwandten Wanderratten keine Begeisterung auslösen. „Anders als beim Eichhörnchen ist der Schwanz der Ratten so spärlich behaart, dass er nackt wirkt. Daran liegt es offenbar, dass Ratten für so viele Menschen ziemlich abstoßend aussehen“, so Reichholf. Schnell unterwegs sind beide – Ratten und Eichhörnchen -, wenn man sie beobachtet, aber auch ich muss gestehen, Eichhörnchen, die durch die Äste flitzen sind mir dann doch lieber.
„Was uns an den Eichhörnchen so gefällt, ist tatsächlich ihr größtes Problem. Die Munterkeit kostet Energie, viel Energie.“ Und darum ist es von großer Bedeutung, im Umfeld genügend Haselnüsse, Walnüsse, Bucheckern oder Eicheln zu finden. Die Eichhörnchen mögen die Samen aus Kiefern- oder Fichtenzapfen und von Ahornbäumen besonders gerne, und manche Knospen oder Pilze verschmähen sie ebenfalls nicht. Sie plündern schon mal Vogelnester, doch wird ihnen dies zumeist eher verziehen als den Krähen. Wenn der Lebensraum für Insekten, Vögel und Eichhörnchen stimmt, und Füchse schon mal den Mardern nachstellen, dann ergibt sich ein natürliches Gleichgewicht. Das Nahrungsangebot ist heute in Parks und Gärten vielseitiger als im Wirtschaftswald, wo – im relativ jungen Baumbestand – auch Baumhöhlen fehlen, die von Eichhörnchen gerne genutzt werden. Zumeist bauen sich die Eichhörnchen allerdings hoch oben in den Baumkronen ihren Kobel, denn „selbst gebaute Kugelnester auf dünnem Gezweig in Baumkronen sind sicherer. Marder können sie meistens nicht erklettern, weil sie zu schwer dafür sind“, so Reichholf.
Flucht in den urbanen Raum
Wenn wir Wirtschaftswälder durchwandern, werden wir kaum Eichhörnchen zu Gesicht bekommen, denn sie sind dort lange nicht mehr zahlreich und weit scheuer. Der wahre Grund dafür ist die einseitige Ausrichtung weiter Flächen, „weil die Wirtschaftswälder, die Forste, den Eichhörnchen unter heutigen Verhältnissen weit weniger Nahrung und Sicherheit bieten als der Siedlungsraum der Menschen. Wir sehen dies an der Häufigkeit der Eichhörnchen. In Städten mit großen Parkanlagen kann sie um ein Mehrfaches höher liegen als in Laubwäldern und bis zum Zehnfachen über das Niveau einförmiger Nadelwälder steigen“, schreibt Reichholf. Essen und Wohnen ist eben nicht nur bei uns Menschen von hoher Priorität, sondern auch bei den Eichhörnchen, die sich für den Winter keinen Speck anfuttern können. Daher legen sie Vorräte an – und dazu eignen sich die bereits angesprochenen Nüsse und Eicheln ganz hervorragend. Reichholf zieht in seinem Buch „Das Leben der Eichhörnchen“ hin und wieder Vergleiche zu Eichelhähern und Spechten, die sich ebenfalls gerne mal an Nüssen bedienen.
Mit den Eichhörnchen und anderen Nagern verbindet uns Menschen die Fähigkeit, mit den Händen geschickt unterschiedliche Materialien zu greifen, zu drehen, zu verarbeiten – z.B. zu einem Nest. Oft endet die freundliche Zuwendung aber sehr schnell, wenn Nager beginnen Bäume zu fällen. Das tut natürlich das Eichhörnchen nicht, es vergreift sich höchstens an frischen Fichtentrieben, und wird dann ebenfalls schnell zum ‚Schädling‘, und dieser Makel haftet noch mehr dem Biber an – einem Verwandten des Eichhörnchens. Manche Biber folgen daher bereits den Eichhörnchen – oder den Feldhasen – in städtische Reviere. Das „drückt nicht nur ihren Erfolg aus, sondern auch die Tatsache, dass die Stadtbevölkerung im Allgemeinen weit toleranter ist als die Menschen auf dem Land“, meint Reichholf. An diesem Beispiel lässt sich ablesen, dass Reichholf nicht nur auf das Eichhörnchen, sondern auf zahlreiche andere Nager gleichfalls mit Sympathie eingeht – eine breite Thematik, die ich besonders spannend und ansprechend fand.
Tiere haben einen Eigenwert
Reichholf verdeutlicht mit seinem Buch, dass wir die Natur als Wert an sich annehmen und schützen sollten. Mit ihm bin ich der Meinung, dass unsere Gesellschaft nicht vorschnell über Tiere und Pflanzen den Stab brechen darf: „Aber das Nutzen-Schaden-Denken beherrscht Land- und Fortwirtschaft. Es sortiert wie selbstverständlich die Tiere und Pflanzen nach nützlich oder schädlich. Was nicht direkt nützlich ist, muss oft sogar automatisch schädlich sein.“ Schnell werden Krähen oder Eichhörnchen zu ‚Schädlingen‘, weil sie sich an Vogeleiern und Küken vergreifen. Der Weg ist dann nicht mehr weit, dass Jäger z.B. den Fuchs zum Feind erklären, weil er Feldhasen oder (gezüchtete) Fasanen erbeutet, die doch manche ‚Grünröcke‘ gerne selbst schießen wollen. Kritisch sieht Reichholf auch Teile der Artenschutzbestimmungen: „Gegenwärtig entfremden die Schutzbestimmungen mehr, als sie den zu schützenden Tierarten nützen. So vertieft sich der Graben zwischen Mensch und Tier.“ Wer ohne artenschutzrechtliche Genehmigung ein verletztes Eichhörnchen oder einen Siebenschläfer pflegt, der macht sich strafbar! Jüngst wurde einer alten Dame eine Krähe weggenommen, die sie vor einem Jahrzehnt gesund gepflegt hatte, die dann allerdings nicht mehr wegfliegen wollte oder konnte. Andererseits machen sich weite Teile der politischen Entscheidungsträger dagegen kaum Gedanken, wenn Millionen ‚Nutztiere‘ in engen Massenställen gehalten werden!
„Das Leben der Eichhörnchen“ von Josef H. Reichholf ist überaus lesenswert, und dies gerade auch durch die breite inhaltliche Anlage des Buchs. Selbst wer keine 220 Seiten nur über Eichhörnchen lesen möchte, ist hier richtig, denn Bilche, Biber und andere Tiere werden zum Vergleich herangezogen. Und wenig überraschend weist Reichholf auf Fehlentwicklungen in der Land- und Fortwirtschaft hin, die Lebensräume für Tiere reduzieren, vielfach geradezu zerstört haben. Immer mehr Tiere verließen – wie das Eichhörnchen – den Wald, der zum Forst wurde, und wandten intensiv bewirtschafteten Äckern und Wiesen den Rücken zu – wie der Feldhase – und sind als Kulturfolger in urbane Gebiete geflüchtet.
Literaturhinweis
Josef H. Reichholf: Das Leben der Eichhörnchen, Carl Hanser Verlag, 3. Auflage, München 2019
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2 Antworten auf „Als die Eichhörnchen den Wald verließen“