600 Millionen Vögel weniger in Europa

Vögeln geht die Nahrung aus

Eine Studie nach der anderen belegt das Insektensterben und den Schwund bei vielen Vogelarten. Dennoch handelten die Bundesregierungen unter Angela Merkel vier Legislaturperioden lang zu zögerlich. Ich kann nur hoffen, dass sich dies unter Bundeskanzler Olaf Scholz ändert. Doch wird die Ampelkoalition wirklich den Naturschutz aus seinem Schattendasein hervorholen? Über einen Rückgang der gefiederten Freunde um 600 Millionen Exemplare berichten die Autoren einer Studie, die den Zeitraum von 1980 bis 2017 umfasst und sich auf die Europäische Union und das Vereinigte Königreich bezieht. Diese Zahl entspricht einer Abnahme der Vogelpopulation um 17 bis 19 %. Rund jeder sechste Vogel fehlt daher in Europa! Einzelne Arten hat es besonders hart getroffen: Der Haussperling hat 247 Millionen Tiere verloren, und vom Star sind 75 Millionen Individuen weniger in den europäischen Landschaften unterwegs. Sperlinge haben nicht nur auf Agrarflächen stark abgenommen, sondern sie verlieren auch im urbanen Umfeld an Boden. Äußerst dramatisch ist der Rückgang der Vögel bei Arten, die auf landwirtschaftliche Areale und gerade auf Wiesen und Grünland angewiesen sind. Und Vögel, die Insekten für die eigene Ernährung benötigen oder – wie die meisten Singvögel – zumindest als Futter für die Küken, tun sich extrem schwer in einer Welt, in der Insekten und selbst Spinnen zur Rarität werden.

Ein Wiesenpieper sitzt vor blauem Himmel auf einem Pfosten aus Holz. Im Schnabel hält der kleine Singvogel ein Insekt. Im Vordergrund die violetten Blüten des Fingerhuts.
Der katastrophale Insektenschwund bringt auch die Vögel – wie hier den Wiesenpieper – in Bedrängnis, die häufig Insekten für sich selbst, insbesondere aber für die Aufzucht der Jungen benötigen. (Bild: Ulsamer)

Wenn Vögel keine Insekten finden

In einer umfassenden Studie haben die Autoren im Auftrag von BirdLife International, deren deutscher Partner der NABU ist, der britischen Vogelschutzorganisation Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) und der Tschechischen Gesellschaft für Ornithologie die Situation in der Europäischen Union plus dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland untersucht. Zahlenmaterial lag durch Zählungen in den entsprechenden Regionen bereits vor. Erschreckend ist der Schwund bei den früher allgemein verbreiteten Vogelarten wie Sperlingen, Staren oder Finken. Dieser Rückgang springt nicht direkt ins Auge, da sich ja noch Vertreter der Arten beobachten lassen, doch sie werden immer seltener. Zu diesem Schluss kommen Fiona Burns u.a. in ihrem Beitrag ‚Abundance decline in the avifauna of the European Union reveals cross-continental similarities in biodiversity change‘, der in ‚Ecology and Evolution‘ veröffentlicht wurde. Die Biodiversität verändert sich nicht nur, sondern viele Vogelarten werden regelrecht dezimiert.

Ein Fitis mit gräulich-bräunlicher Oberseite und einem hellen Brustbereich auf einem Ast.
Der Fitis gehört zu den Vögeln, deren Bestand seit Jahrzehnten in Deutschland rückläufig ist. Beim Vogelzug in die südlich der Sahara gelegenen Winterquartiere ist er vielfältigen Gefahren ausgesetzt, in Deutschland fehlen zunehmend lichte Laub- und Mischwälder, Hecken oder Gebüsch und Bauminseln in der monotonen Landschaft. (Bild: Ulsamer)

Zum Rückgang der Vögel trägt das reduzierte Nahrungsangebot maßgeblich bei. Wenn sich die Biomasse der Insekten um bis zu 75 % reduziert hat, wie der Entomologische Verein Krefeld in einer Langzeitstudie von 1989 bis 2016 feststellte, dann ist der Tisch für Vögel immer ärmlicher gedeckt. Die Forschungsstation Randecker Maar auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg beobachtet seit einem halben Jahrhundert Insekten, und das Ergebnis ist dramatisch: Der Rückgang der Schwebfliegen beträgt bis zu 97 %! Werden die Insekten weniger, das Futter also immer kärglicher, dann siechen zahlreiche Vogelarten dahin, und dies hängt wiederum mit Veränderungen im landwirtschaftlichen Bereich – aber auch in den Städten – zusammen. So betont der NABU-Vogelschutzexperte Eric Neuling. „Es besteht ein dringender Bedarf, Vögel, die mit der Landwirtschaft verbunden sind, sowie Langstrecken-Zugvögel wie Schafstelze und Fitis auf ihren Zugrouten zu schützen“, ergänzt der Naturschutzexperte. Die Autoren um Fiona Burns weisen darauf hin, dass sich die Situation in den USA ähnlich darstellt: Der Vogelbestand hat seit 1970 um rd. 29 % abgenommen, was einer Abnahme von 2,9 Milliarden Vögeln entspricht!

Mehrere Stare auf einem grün bewachsenen Komposthaufen.
In den letzten vier Jahrzehnten nahm die Zahl der Stare in den heutigen EU-Staaten plus Vereinigtes Königreich nach der Studie von Fiona Bruns u. a. um 74,6 Millionen Individuen ab. Starenschwärme mit ihren Synchronflügen sind selten geworden. (Bild: Ulsamer)

Zugvögel unter Beschuss

Die Dramatik des Rückgangs bei früher sehr verbreiteten Vogelarten wird teilweise überdeckt durch die Zunahme der Populationen bei anderen Vögeln. Die einst besonders ‚kopfstarken‘ 378 Vogelarten haben nach Fiona Burns und ihren Mitautoren sogar um über 900 Millionen abgenommen. Dies wird teilweise aufgewogen durch die Zunahme um über 300 Millionen Individuen bei den zahlenmäßig weniger vertretenen Vögeln. Der Klimawandel trägt mit Sicherheit dazu bei, dass neue Vogelarten zuwandern oder ihre Population vergrößern, doch man mag es Drehen und Wenden wie man will, 600 Millionen Vögel weniger zwitschern in unserer Landschaft oder bevölkern den Himmel. Natürlich gibt es auch positive Veränderungen, die einzelnen Vogelarten zugute kamen: Schutzmaßnahmen bei Greifvögeln oder die Verbannung des Insektizids DTT aus der Giftküche von Landwirten und Hobbygärtnern trugen dazu bei, dass sich deren Bestände wieder erholen konnten, da ihre Eier nicht länger zerbrachen.

Ein weißer Reiher - Seidenreiher - watet durchs Wasser.
Wir dürfen uns auch durch Zuzügler aus südlicheren Regionen oder durchreisende Vögel wie den Seidenreiher nicht in falscher Sicherheit wiegen, denn gerade die angestammten und weit verbreiteten Vögel wie Sperlinge, Stare oder Finken nehmen ab. (Bild: Ulsamer)

„Der Anteil von Vogelarten mit abnehmenden Bestandstrends beträgt während des Zeitraumes von 36 Jahren 16 %, und liegt über den Zeitraum von 12 Jahren mit 33 % auch bei den überwinternden Vogelarten deutlich höher“, so der Vogelschutzbericht 2019, den die Bundesregierung an die EU übermittelte. Nicht nur den bei uns überwinternden Vogelarten geht es schlecht, sondern auch den Zugvögeln. So verzeichneten von 1980 bis 2016 die Rauchschwalben ein Minus von 26 %, die Mehlschwaben sogar von 44 %. Die Uferschwalben haben um 18 % abgenommen, die Mauersegler um 30 bis 40 %. Dies ist fürwahr ein erschreckender Trend. Den Schwalben fehlen nicht nur die Fluginsekten als Nahrung, sondern hermetisch verschlossene Massenställe bieten vor allem den Rauchschwalben keine Möglichkeit mehr zum Nestbau im Gebäude. Und wer als Vogel ein Nest aus Lehm bauen möchte, der muss oft weit – zu weit – fliegen, denn selbst landwirtschaftlich genutzte Wege sind asphaltiert, lehmige Pfützen Mangelware. Auch die Stare, ehemalige ‚Allerweltsvögel‘, haben zwischen 1980 und 2016 um rd. 55 % abgenommen! Als Zugvögeln setzen ihnen die Gefahren auf dem Flug in den Süden und zurück zu, wo noch immer Jäger mit Schrotgewehren, Netzen oder Leimruten auf sie lauern.

Eine Blaumeise mit blauen Federchen am Kopf, einem dunklen Halsring und einer gelben Brust.
In Laub- und Mischwäldern findet die Blaumeise Nahrung und ein Plätzchen für den Nestbau, monotone Fichtenplantagen mögen sie dagegen nicht. Zahlreiche Blaumeisen leben auch in Parks und Gärten. Kleinere Insekten und Spinnen oder Larven lassen sie sich schmecken, im Winter ernähren sie sich von Sonnenblumenkernen, Nüssen oder auch Meisenknödeln. Es dürfen aber auch Beeren oder ein Apfel sein. (Bild: Ulsamer)

Die im Juni 2021 veröffentlichte neue ‚Rote Liste der Brutvögel Deutschlands‘ zeigt gleichfalls ein düsteres Bild: „Rund 43 Prozent der 259 regelmäßig in Deutschland brütenden einheimischen Vogelarten wurden in eine der Gefährdungskategorien der neuen Roten Liste eingestuft, inklusive der in Deutschland ausgestorbenen Brutvogelarten. Somit gilt fast jede zweite Brutvogelart als bedroht. Besonders in der höchsten Gefährdungskategorie ‚Vom Aussterben bedroht‘ kam es zu einem deutlichen Anstieg.“ Den Vögeln nutzt es natürlich nichts, wenn sie in die Rote Liste aufgenommen werden, Politik und Gesellschaft aber nichts unternehmen, um die Lage zu verbessern.

Sehr schmaler Grasstreifen zwischen braunem Acker und asphaltiertem Weg.
Wo sollen hier Vögel Deckung oder eine Nistmöglichkeit finden? Und Insekten als Nahrung gibt es als Folge von Insektiziden auch immer weniger. (Bild: Ulsamer)

Landnutzung ökologischer gestalten

Die größte Bedrohung für die Vögel ist neben dem Insektenschwund und dem daraus resultierenden Nahrungsmangel die Veränderung in unserer Feldflur: Flurbereinigungen haben über Jahrzehnte für größere in sich geschlossene Anbauflächen gesorgt, in denen Hecken, Steinmauern, Tümpel und Gebüschinseln oder Altholzbestände beseitigt wurden. Wo finden hier Vögel noch Deckung oder einen Nistplatz? Die Intensivierung der Landwirtschaft hat zum Einsatz eines breiten Arsenals an Insektiziden und Herbiziden geführt, die nicht nur zu einer dramatischen Verringerung der Insekten, sondern auch der Ackerkräuter geführt hat. „Die Lage in der Agrarlandschaft bleibt alarmierend“, so das Bundesamt für Naturschutz. „So nahmen die Bestände von Rebhuhn und Kiebitz über 24 Jahre um fast 90 % ab. Ähnlich dramatisch ist die Entwicklung bei den Feuchtwiesenarten Uferschnepfe und Bekassine sowie dem Braunkehlchen. Einige Arten der Agrarlandschaft sind mittlerweile so selten, dass sie in immer größeren Bereichen unserer Landschaft fehlen, wie z.B. die Turteltaube. Selbst die Feldlerche zeigt inzwischen größere Verbreitungslücken.“ Nicht nur manche Vögel haben sich zur Landflucht entschlossen, sondern auch Igel, Eichhörnchen und Feldhasen sind in städtische Gebiete gezogen. Schottergärten und kurzgeschnittener Rasen, Asphalt- und Betonflächen, die Zerstörung von Alleen und jährliche Massaker an Büschen haben allerdings im urbanen Raum die Lebensgrundlage für viele Vogelarten ebenfalls verschlechtert.

Ein Tannenhäher an einem Futterhäuschen. Sein Federkleid ist schwarz-braun und darin weiße Federn.
Der Tannenhäher ernährt sich von den Samen der Nadelbäume, doch im Winter dürfen es ergänzend auch Haselnüsse sein, worauf sein englischer Name ‚nutcracker‘ hinweist. Für den Winter legt der Tannenhäher tausende von Futterverstecken an, die er zu 80 % auch bei Schnee wiederfindet. Der Tannenhäher ist ein Singvogel und gehört zur Familie der Raben. (Bild: Ulsamer)

Hunger, Durst und Wohnungsnot, so lässt sich das Schicksal vieler Vögel charakterisieren, worauf ich in meinem Blog bereits mehrfach eingegangen bin. Kein Wunder, dass die gefiederten Sänger weniger werden. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass bei einzelnen Vogelarten – wie Fischadler, Kranich oder Uhu – eine Zunahme der Bestände zu verzeichnen ist, doch dies gelang nur durch besondere regional greifende Schutzmaßnahmen, die sich für Vögel wie Blaumeisen, Sperling, Wintergoldhähnchen, Grünfink oder Kleiber natürlich nicht realisieren lassen. Wenn wir einen weiteren Vogelschwund verhindern wollen, müssen wir Veränderungen in der Nutzung unserer Landschaft durchdrücken. Die von der EU mit Subventionen geförderte großflächige Agrarproduktion muss in eine ökologische und nachhaltige Landwirtschaft übergeführt werden: Wer bis zum Feldweg pflügt, mit Herbiziden Ackerkräuter vernichtet und die Gülle zur Flut anwachsen lässt, der muss sich nicht wundern, wenn Insekten und Vögel keine Heimat mehr finden. Die zaghaften Versuche der EU, in Bund und Land den Einsatz der chemischen Keule zu reduzieren, konnten die negative Entwicklung bei der Artenvielfalt bisher nicht stoppen.

Riesige Schotterfläche als Garten.
Wo sollen hier Insekten und Vögel leben? Selbst den Regenwürmern fehlt die Nahrung. (Bild: Ulsamer)

Gemeinsam die Vögel retten

Aber auch im städtischen Bereich gibt es viel zu tun: Schottergärten und Grünflächen mit Kurzhaarschnitt sollten der Vergangenheit angehören, was im privaten wie öffentlichen Bereich gilt. Jeder Quadratmeter zählt: Selbst der kleinste Garten oder Balkon bietet Chancen! Dies sehen wir an unserem Gärtchen mit gerade mal 25 Quadratmetern. Futter und Wasser ziehen nicht nur Vögel, sondern gleichermaßen Eichhörnchen und Igel an. Büsche und Blühpflanzen oder Stadtbäume müssen Vögeln und Insekten wieder mehr Lebensraum bieten. Schluss muss in unseren Kommunen auch mit dem Wunsch sein, die letzte Baulücke zu schließen, anstatt sie in kleine blühende Paradiese zu verwandeln. Die Wohnungsnot kann nur durch eine innovative Regionalpolitik und gewiss nicht durch die Pflicht zum Bauen gelindert werden, die z. B. der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer propagiert – und damit ist er nicht allein.

Schwalbe an einem Mauervorsprung. Sie hat einen bläulich-roten Kopf.
Rauchschwalben lieben alte Gemäuer, doch wo saniert wird, gehen oft Nistmöglichkeiten verloren. Und Zugvögel – wie die Schwalben – werden noch immer auf dem Weg ins Winterquartier beschossen! (Bild: Ulsamer)

Die Landwirtschaft muss als größter Flächennutzer eine ökologische Neuorientierung erfahren, und dies gilt auch für Wald und Forst. Straßenränder, Verkehrsinseln, Parks und Grünanlagen, genauso wie Gewerbe- und Industrieflächen, Wohnbezirke ebenso wie Gärten lassen sich so gestalten, dass Vögel und Insekten eine bessere Lebensgrundlage finden. Eine Reduktion der Vögel um 600 Millionen in vier Jahrzehnten ist ein Desaster. Es darf sich nicht fortsetzen! Die Politik – in der EU, in Bund, Ländern und Kommunen – muss bei allen Planungen der Natur einen höheren Stellenwert zugestehen. Nicht nur in Sonntagsreden! Jeder von uns sollte seinen Beitrag zu einer Verbesserung leisten, damit das Gezwitscher der Vögel nicht verstummt.

 

Ein schwarzes Amselmännchen verschluckt gerade eine dunkle Efeubeere.
Efeubeeren helfen Amseln auch über den Winter, und bis in den Herbst schauen Insekten auf der Suche nach Nektar vorbei. Dies beeindruckt allerdings Bürokraten bei der Stadt Esslingen am Neckar nicht, die einen Rückschnitt forderten, obwohl auf dem Gehweg noch ein Zwillingskinderwagen locker Platz hatte. (Bild: Ulsamer)

 

Drei bräunliche Brachvögel mit etwas gebogenem Schnabel auf einer grünen Weide an einer Überschwemmungsfläche.
Der Große Brachvogel ist selten geworden. Geeignete Brutgebiete raubte ihm die immer intensivere Landwirtschaft, denn der Umbruch von Grünland oder die häufige Mahd des verbliebenen Grünlands zerstörte die geeigneten Habitate. (Bild: Ulsamer)

 

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Ein bräunlicher Sperling badet in einer Vogeltränke. Sie ist umgeben von grünem Gras.Nicht nur der Feldsperling, sondern auch sein Verwandter, der Haussperling, der sich im Grunde in Stadt und Land wohlfühlen würde, wird seltener. Die Lebensbedingungen wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten in der ausgeräumten Feldflur, aber auch bei rundum gedämmten Häusern immer schlechter. Und nicht selten fehlen in unserer Landschaft Tümpel, Weiher, zugängliche Brunnen oder selbst eine Vogeltränke. (Bild: Ulsamer)

 

 

 

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