23 Wahlkreisgewinner nicht im Bundestag

Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung ist undemokratisch

Bei der vorgezogenen Bundestagswahl wurden die Parteien der zerbrochenen Ampelregierung abgestraft. Am härtesten traf es die FDP, denn die Liberalen flogen aus dem Bundestag, die SPD mit dem lahmen Zugpferd Olaf Scholz fuhr das schlechteste Ergebnis seit der Gründung der Bundesrepublik ein, die Grünen schwächelten mit ihrem Kanzlerkandidaten Robert Habeck, der das Heizungsgesetz verbockt hatte. Nicht nur diese Parteien traf die Bundestagwahl hart, sondern auch 23 Kandidaten, die zwar in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten, doch die obskure Wahlrechtsreform von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP versperrt ihnen die Tür zum Deutschen Bundestag! Da mag sich so mancher Politiker in seinem Wahlkreis für die Bürgerinnen und Bürger einsetzen und die Stimmenmehrheit erlangen, wenn aber der Zweitstimmenanteil seiner Partei nicht alle gewonnenen Direktmandate abdeckt, war alle Mühe umsonst. Die Sitze im Bundestag werden nach der Zahl der Zweitstimmen vergeben, d. h., wer in einem heftig umkämpften städtischen Wahlkreis mit zahlreichen Gegenkandidaten gewinnt, dem fehlen am Ende Stimmen, um ins Parlament einzuziehen. Es ist der Gewinner eines Wahlreises besser dran, der in seinem ländlichen Stammland die Gegner abschüttelt und ein besonders hohes Erststimmenergebnis erzielt. Welche Art von Demokratie gemeint ist, wenn selbst das Bundesverfassungsgericht eine Wahlrechtsreform gutheißt, die Wahlkreisgewinnern den Parlamentssitz verwehrt, das weiß ich nicht. Auf Anhieb fällt mir keine Demokratie ein, in der der Sieger in einem Wahlkreis nicht ins Parlament einzieht.

Stocherkahnfahrten auf dem Neckar in Tübingen sind ein Anziehungspunkt für Touristen. Im Hintergrund die vom Neckar aufsteigende Altsstadt und links der Hölderlinturm.
Die baden-württembergische Universitätsstadt Tübingen (im Bild die Neckarfront) gehört zu den grünen Hochburgen, umso bemerkenswerter war der Wahlsieg des CDU-Kandidaten Christoph Naser mit 31,7 % der Erststimmen. Dieses Ergebnis nützt ihm wenig, weil der Zweitstimmenanteil der CDU nicht für alle gewonnenen Wahlkreise ausreicht. So werden Naser aus Tübingen und vier weitere Wahlkreissieger der CDU aus Baden-Württemberg nicht in den Bundestag einziehen. Tübingen wird jetzt durch keinen Abgeordneten mehr vertreten, in der letzten Legislaturperiode waren es über Direkt- und Listenmandate vier. „Das neue Wahlrecht hat für Tübingen dramatische Konsequenzen: Kein Abgeordneter in unserem Wahlkreis für die kommenden vier Jahre. Ich halte das für grob falsch. Menschen müssen sich in der Demokratie vertreten fühlen“, so der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Der frühere Grüne führte in Facebook weiter aus: „Ohne Abgeordneten ist das besonders schwer. Der Sieger eines Wahlkreises muss auch einen Sitz im Bundestag haben. Das Wahlrecht der Ampel muss an diesem Punkt dringend reformiert werden.“ Da kann ich nur zustimmen, denn ansonsten wird die Politikverdrossenheit weiter zunehmen. (Bild: Ulsamer)

Absurde Rechtsetzung

Merkwürdig ist es schon, dass die Grünen einer Wahlrechtsreform zugestimmt haben, die jeden basisdemokratischen Ansatz vermissen lässt. Bündnis90/Die Grünen hat nicht nur die grüne Seele verloren, sondern auch die Einsicht, dass derjenige Kandidat, der direkt von den Wählerinnen und Wählern im Wahlkreis zur Siegerin oder zum Sieger gekrönt wird, in jedem Fall in den Deutschen Bundestag einziehen sollte. Auf das fehlende Engagement für Natur- und Tierschutz bin ich in meinem Blog-Beitrag ‚Bündnis 90/ Die Grünen: Die grüne Seele bei Natur- und Umweltschutz ist verwelkt‘ eingegangen. Mögen die Grünen noch mit einem blauen Auge davongekommen sein, so hat es FDP und SPD bei der Bundestagswahl übel erwischt. Friedrich Ebert, der erste Reichspräsident in der Weimarer Republik, dürfte sich im Grab umdrehen, wenn er erlebt, was Olaf Scholz als Kanzler sowie Saskia Esken und Lars Klingbeil als Parteivorsitzende oder Rolf Mützenich als Fraktionsvorsitzender aus seiner SPD gemacht haben. Mützenich, der seinen Wahlkreis verlor, soll durch Lars Klingbeil ersetzt werden, doch ob das wirklich hilft? Vielleicht sollte sich die SPD mal wieder stärker an das Erbe Friedrich Eberts erinnern: ‚Vom Sattlergesellen zum ersten Reichspräsidenten. Friedrich Ebert: Streitbarer Demokrat und Reformer‘. Gleiches gilt für die FDP nach dem Abgang ihres redefreudigen Vorsitzenden Christian Lindner, der eine liberale Strategie vermissen ließ. Längst vergessen scheinen bei den Liberalen der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, oder der Außenminister zur Zeit der Wiedervereinigung, Hans-Dietrich Genscher. Die Ampel hat nicht nur das Heizungsgesetz, sondern auch die Wahlrechtsreform vermurkst. Wer gewählten Abgeordneten den Sitz im Deutschen Bundestag verweigert, der handelt zumindest fragwürdig.

Das leere Plenum des Deutschen Bundestags im Reichtag. Der Bundesadler an der Rückseite, davor die deutsche und die EU-Flagge. Blaue Sitze im großen Rund.
Im Deutschen Bundestag werden in der kommenden Wahlperiode statt 736 nur noch 630 Abgeordnete sitzen. Das Ausufern des XXL-Bundestags wurde zwar eingedämmt, allerdings nutzte die Ampel-Regierung die falschen Mittel. 23 Wahlkreisgewinner bleiben außen vor! Bemerkenswert ist es auch, dass nur 276 direkt gewählte Abgeordnete im Plenum Platz nehmen werden, dagegen ziehen 354 über die Parteilisten ins Parlament ein. Die Distanz zur Wählerschaft wird immer größer, wenn die direkt im Wahlkreis gewählten Parlamentsmitglieder in den Hintergrund treten. Und dies in einer Zeit, in der die Politikverdrossenheit wächst und die politischen Ränder gestärkt werden. Mehr dazu in: ‚Die Zufriedenheit mit der Politik welkt dahin. Viele Deutsche fühlen sich nicht wahrgenommen‘. (Bild: Ulsamer)

Auf das Ausufern des XXL-Bundestags bin ich mehrfach kritisch eingegangen und habe davor gewarnt, den Zweitstimmenanteil zum Maß aller Dinge zu machen, so z. B. in meinem Artikel ‚Wahlrechtsreform: Trotz Direktmandat nicht im Bundestag? Der Vorschlag der Ampelregierung gefährdet die Demokratie‘. Keine Frage, der personell ausgeuferte Bundestag musste wieder kleiner werden, doch das darf nicht zu Lasten direkt gewählter Wahlkreisgewinner gehen. Warum erfolgt keine Aufteilung in 299 direkt in den Wahlkreisen gewählte Abgeordnete, wie dies ursprünglich vorgesehen war, und die andere Hälfte der Parlamentarier wird über Listen nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Ich bin mir bewusst, dass sich aus solch einer Regelung ebenfalls Ungerechtigkeiten ergeben, zumindest aber hätten keine direkt gewählten ‚Abgeordneten‘ ihren Sitz im Bundestag verloren. Zwar halte ich die Vorwürfe des US-Präsidenten Donald Trump und seines Vize JD Vance, in Deutschland mangle es an Demokratieverständnis, für völlig überzogen, andererseits dürfte es in den USA oder in Großbritannien – um nur diese beiden Staaten zu nennen – schwerfallen, ein Wahlrecht zu erklären, das direkt gewählten Kandidaten den Parlamentssitz verweigert. Über Jahrzehnte habe ich das deutsche Wahlrecht für eine gute Regelung gehalten, doch wenn es solche Auswüchse treibt wie bei der Bundestagswahl, dann wäre ein reines Mehrheitswahlsystem aus meiner Sicht überlegenswert.

Besucherin der Gedenkausstellung vor einer Informationswand mit dem Titel 'Die SPD als Partei der sozial Benachteiligten'.
Alexander Föhr (CDU) mit 29,2 % der Erststimmen im Wahlkreis Heidelberg auf dem ersten Platz wird nicht in den Deutschen Bundestag einziehen, doch die Wahlverlierer aus dem gleichen Wahlkreis reisen nach Berlin, denn für sie reicht es über die Landesliste, weil die jeweiligen Parteien keinen oder wenige Wahlkreise gewonnen haben. Aus Heidelberg kommen Franziska Brantner (Ko-Bundesvorsitzende der Grünen), Malte Kaufmann (AfD) und Sahra Mirow (Die Linke) über ihre Listenplätze ins Parlament, doch der Wahlkreisgewinner Alexander Föhr muss zuhause bleiben. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln, so habe ich mir gelebte Demokratie nicht vorgestellt! In Heidelberg erinnert eine Gedenkstätte an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert, den die Weimarer Nationalversammlung 1919 zum ersten Reichspräsidenten und damit zum ersten demokratisch gewählten Staatsoberhaupt in Deutschland wählte. Was würde Ebert wohl dazu sagen, dass seine Sozialdemokratische Partei Deutschlands in unseren Tagen ein Gesetz beschlossen hat, das demokratisch gewählten Siegern in ihrem Wahlkreis den Sitz im Deutschen Bundestag verweigert? Mehr zum Leben und Wirken Friedrich Eberts lesen Sie in meinem Blog-Beitrag ‚Vom Sattlergesellen zum ersten Reichspräsidenten. Friedrich Ebert: Streitbarer Demokrat und Reformer‘. (Bild: Ulsamer)

Parteien, die wenig bis keine Wahlkreise direkt erringen, setzten natürlich auf das Verhältniswahlrecht, denn ansonsten würde ihnen meist der Zugang zur politischen Futterkrippe verwehrt. Bei einer kompletten Mehrheitswahl ergeben sich zumeist klare Aufträge für die Regierungsbildung und die Chance, politische Richtungsänderungen durchzusetzen. Dagegen dürften sich CDU und CSU als klare Wahlgewinner jetzt schwertun, die versprochene Neuausrichtung der Bundespolitik – den von der Union angekündigten Politikwechsel – mit einem Partner aus der zerbröselten Ampelkoalition umzusetzen, was im Übrigen für das abstruse Wahlrecht, das 23 gewählten Kandidaten ihren Sitz im Bundestag verweigert, gleichermaßen zutrifft. Wird die SPD, der vermutliche Koalitionspartner, über ihren Schatten springen und das Wahlrecht wieder ändern? Ist es gelebte Demokratie, wenn 15 gewählte Wahlkreiskandidaten der CDU, vier von der AfD, drei von der CSU und eine von der SPD nicht in den Deutschen Bundestag einziehen, obwohl sie in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen errungen haben? Ich halte ein Wahlrecht, das ein solches Vorgehen zulässt, für schädlich, denn die Wählerschaft muss sich darauf verlassen können, dass der mehrheitlich Gewählte eines Wahlkreises auch im Deutschen Bundestag Platz nehmen darf – und dies nicht nur auf der Zuschauertribüne. Ich hoffe sehr, dass es der nächsten Bundesregierung unter einem Kanzler Friedrich Merz gelingt, das Wahlrecht wieder zu ändern, denn wer im Wahlkreis gewinnt, der muss in jedem Fall im Parlament sitzen!

 

Blick auf den fast verdeckten Reichstag mit der Glaskuppel. Links und rechts Betonklötze mit Räumlichkeiten für den Bundestag
Unser Parlament blähte sich in den letzten Jahren immer stärker auf, und so wurde der XXL-Bundestag zum kopfstärksten demokratischen Parlament der Welt. Parallel uferte die zugehörige Bürokratie derart aus, dass fortwährend neue Bürogebäude errichtet werden mussten. Wie man jedoch bei einer Wahlrechtsreform auf die Idee kommen konnte, Wahlkreisgewinnern den Sitz im Bundestag zu verweigern, wenn nicht alle gewonnenen Wahlkreise durch das Zweitstimmenergebnis abgedeckt sind, das müssen sich die früheren Ampel-Koalitionäre SPD, Grüne und FDP, aber auch das Bundesverfassungsgericht fragen lassen. (Bild: Ulsamer)

 

Goldfarben schillert die Porta Nigra bei dieser Nachtaufnahme.
Im Wahlkreis Trier holte Dominik Sienkiewicz (CDU) 30,8 % der Stimmen und ließ die Konkurrenz hinter sich. Nach dem alten Wahlrecht hätte er eine Fahrkarte nach Berlin gelöst. Über die Landesliste kommen jedoch Verena Hubertz (SPD) und Corinna Rüffer von den Grünen in den Bundestag, dem Wahlkreisgewinner wird das allerdings verwehrt. Die Ampel-Regierung hinterließ uns nicht nur das Heizungsgesetz und das Recht, drei Cannabispflanzen anzubauen bzw. einmal jährlich das Geschlecht zu ändern, sondern auch ein Wahlrecht, das die Urform der Demokratie – die Direktwahl – aushebelt. Im Bild die Port Nigra, ein imposantes Stadttor aus der Römerzeit, das sein Überleben bis ins heutige Trier der baulichen Integration in eine christliche Kirche zu verdanken hatte. Mehr dazu in: ‚Wie die römische Porta Nigra in Trier als Kirche überlebte. Die Baukunst der Römer setzte auf Nachhaltigkeit‘. (Bild: Ulsamer)

 

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Vorderseite des Reichstags mit der Inschrift "Dem deutschen Volke". Im Hintergrund ist die gläserne Kuppel zu erkennen. Rechts die deutsche Flagge.Eine Verkleinerung der Kopfzahl des Deutschen Bundestags war und ist richtig, doch der von der Ampel-Regierung unter Olaf Scholz gewählte Weg war falsch: 23 direkt im Wahlkreis gewählten Kandidaten wird ein Sitz im Bundestag verwehrt! In meinem Blog-Beitrag bin ich früh auf die drohenden abstrusen Folgen eingegangen: ‚Wahlrechtsreform: Trotz Direktmandat nicht im Bundestag? Der Vorschlag der Ampelregierung gefährdet die Demokratie‘. (Bild: Ulsamer)

 

Eine Antwort auf „23 Wahlkreisgewinner nicht im Bundestag“

  1. Sehr geehrter Herr Dr. Ulsamer,
    Ihren Beitrag zur Wahlrechtsreform habe ich mit Interesse gelesen. Ich stimme Ihnen zu, es ist schwer einsehbar, dass kandidierende die von der Mehrheit des Wahlkreises gewählt worden sind, kein Mandat erhalten.
    Für die Regelung spricht jedoch, dass sie vom Verfassungsgericht nicht aufgehoben worden ist und zu einer Verkleinerung des Bundestages führt.
    Ein reines Mehrheitswahlrecht bringt ebenfalls Gerechtigkeitslücken mit sich, da eine Minderheit an Stimmen zu einer Mehrheit im Parlament führen kann. Das Gewicht der einzelnen Stimme kommt dadurch unterschiedlich zum Tragen.
    Die Reduzierung der Wahlkreise scheitert leider an den parteipolitischen Gegebenheiten.
    Wir werden deshalb mit dem jetzigen Wahlrecht leben müssen und es ist zu hoffen, dass die Koalitionsverhandlungen nicht (schon) an dieser Frage scheitern.
    Mit freundlichen Grüßen
    Gerhard Walter

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