Wolfgang Schäubles Irrweg: “Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur.”

Bundestagspräsident erteilt Freibrief für Politik-Versagen

Da blieb mir doch beinahe der letzte Bissen des Frühstücksbrötchens im Halse stecken: „Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur.” Diesen Satz hat laut Stuttgarter Zeitung der Bundestagspräsident bei seiner Rede am 3. Oktober in Berlin zum Besten gegeben. Konnte das der Ernst von Wolfgang Schäuble sein? Sofort habe ich mir die Rede auf der Seite des XXL-Bundestags durchgesehen und dort nur gefunden: „Aber wir sollten auch wieder lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen.“ Dank des Internets konnte ich feststellen, dass jedoch in zahlreichen Medien die Aussage „Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur“ zu finden war. Die Korrespondenten konnten sich ja kaum alle verhört haben. Vermutlich hatte mal wieder ein Redner an der schriftlichen Fassung herumgebastelt, die ihm seine MitarbeiterInnen mitgegeben hatten. Ich selbst hatte dies als Redenschreiber für andere Vortragende auch in so manchem Fall erlebt, und zumeist wurden Reden durch persönliche Ergänzungen des Redners mit dem Kuli auf der Anfahrt nicht besser.

Facebook-Post mit einem Foto von Wolfgang Schäuble während seiner Ansprache am 3. Oktober in Berlin. Er trägt Anzug und Krawatte.
Wolfgang Schäuble sprach beim Festakt aus Anlass des Tags der deutschen Einheit in der Berliner Staatsoper. In vielen Punkten kann ich zustimmen, doch ganz und gar anderer Meinung bin ich in Sachen Perfektion in der Politik: „Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur.” Das sehe ich gänzlich anders: Eine unzureichende Qualität der politischen Leistung und das gänzlich unperfekte Zusammenarbeiten der Demokraten hat die Weimarer Republik in die Hände der nationalsozialistischen Schergen getrieben und ganz bestimmt nicht der Drang nach Perfektion. Möchte der Bundestagspräsident den Mantel des Schweigens über die Unzulänglichkeiten – man denke z.B. an den Materialzustand der Bundeswehr unter Ministerin Ursula von der Leyen – breiten, wenn er meint, wir müssten eben mit diesen leben? Menschen werden keine absolute Perfektion schaffen, und dies ist gut so, aber der Anspruch sollte schon bestehen, das „Unzulängliche” zu überwinden. Ansonsten gibt es auch keinen Fortschritt. (Bild: Screenshot, Facebook, 3.10.18)

Schwächen der Demokraten ebnen Weg zu Diktaturen

Dank ‚ZDF heute‘ konnte ich die gesamte Rede Schäubles anhören, und da war der ominöse Satz. „Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur.” Für mich ein gänzlich unzutreffender Satz! Die Nationalsozialisten konnten doch ihre Schreckensherrschaft nicht errichten, weil sie „das Perfekte“ anstrebten, sondern wegen des Unvermögens der demokratischen Parteien in der Weimarer Republik, ihre Wählerstimmen in eine stabile Koalition einzubringen. Die menschenverachtende Diktatur der Nationalsozialisten gipfelte zwar in einer ‚perfekten‘ Mordmaschine und der Ermordung unserer jüdischen MitbürgerInnen, doch das wird ja wohl kaum von Wolfgang Schäuble gemeint gewesen sein. Und der ‚perfekte‘ Stechschritt verband die barbarischen Nationalsozialisten mit den kommunistischen Schlächtern der stalinistischen Herrschaft eines Josef Stalin. Aber Nationalsozialisten und Kommunisten verdankten ihren Aufstieg gerade der unzulänglichen Leistung der Vorgängerregierungen. Diese hatten nicht „das Perfekte“ angestrebt, sondern sich im Klein-Klein parteipolitischen Gezänks verfangen und so den Weg freigemacht für mörderische Regime.

Ich hätte mir gewünscht, Wolfgang Schäuble hätte in seiner Rede die Politik in unserem Land durchaus angespornt, „das Perfekte“ anzustreben, wohl wissend, dass wir „auch wieder lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen.“ So wird für mich ein Schuh daraus! Ansonsten dürfen wir mal wieder ohne Sohlen durch die Welt laufen. Die Migrationsthematik fliegt der Bundesregierung doch seit 2015 um die Ohren, weil sie nicht „das Perfekte“ angestrebt hat, sondern Bundeskanzlerin Merkel das Tor öffnete und eine ungeordnete Flüchtlingswelle ins Land strömen ließ. Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) selbst einen Unteroffizier der Bundeswehr aus Offenbach als Flüchtling anerkannte, dann ist man doch allzu weit vom Perfekten entfernt. Wo ist denn die Perfektion im Wohnungsbau geblieben, wenn plötzlich 1,5 Millionen Wohneinheiten aus dem Boden gestampft werden müssen, da der Wohnungsmarkt den Bedürfnissen der Menschen und den (Binnen-) Wanderungsbewegungen nicht mehr entspricht? Und hätte nicht eine etwas perfektere Lösung bei Hans-Georg Maaßen im ersten Anlauf besser gepasst als dieses Stolpern von Angela Merkel, Andrea Nahles und Horst Seehofer?

Blick in den Tagebau Garzweiler im Rheinischen Braunkohlerevier. Schaufelradbagger sind im Einsatz, die dunkle Kohleschicht zeichnet sich deutlich ab.
„Aber wir sollten auch wieder lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen”, so Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Meint er damit auch, dass wir die Kluft zwischen Phrasen und Handlungen in der Politik hinnehmen müssen? Ich denke, nein! Denn dann müssten wir auch akzeptieren, dass die Bundesregierung unter Angela Merkel einerseits das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet und andererseits RWE weiter nach Braunkohle – wie hier im Rheinischen Braunkohlerevier – buddeln und verstromen lässt. Aus meiner Sicht ist es in einer demokratischen Gesellschaft wichtig, Unzulänglichkeiten aufzugreifen und Änderungen anzumahnen. Etwas mehr Perfektion im politischen Handeln könnte keinesfalls schaden! (Bild: Ulsamer)

Politik braucht Willen zur Perfektion

Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Perfektion in der deutschen Politik. Mit seinem Hinweis, wir müssten „mit dem Nicht-Perfekten …, mit dem Unzulänglichen“ leben, erteilt ausgerechnet der Bundestagspräsident den Vertretern unserer Politik einen Freibrief für Lösungen, die nicht selten vor dem Bundesverfassungsgericht stranden. Wie bei der Grundsteuer mussten gar die Herrschaften in den roten Roben der Bundesregierung und dem Bundestag Beine machen. Jahre oder gar Jahrzehnte hätte die Bundespolitik Zeit gehabt, hier eine Neuregelung anzugehen, ohne sich von Richtern erst aufwecken lassen zu müssen. Zu perfekt sind vielleicht manche nachgeordneten Verordnungen oder auch überperfekte Gesetze, aber ansonsten kann ich nicht feststellen, dass Deutschland Gefahr drohe, weil „das Perfekte“ angestrebt werde und uns dies in eine „Diktatur“ führen werde. Da hätte Bundestagspräsident Schäuble doch besser auf seine MitarbeiterInnen gehört und bei eigenen Ergänzungen eine sinnhafte Kombination vom Anspruch auf Perfektion und der Erkenntnis, dass wir Menschen dies letztendlich nicht schaffen, von sich gegeben.

Werfen wir einen Blick auf das Gefühl der Zurücksetzung, das wohl immer noch viele Menschen in den neuen Bundesländern umtreibt, dann ist doch auch dieses nicht der Ausfluss von zu viel Perfektion in sozialen und kulturellen Fragen, sondern resultiert aus mangelnden Versuchen der Einbindung. Es reicht eben nicht, Autobahnen und ICE-Trassen zu bauen oder die Umweltsünden der sozialistischen DDR zu beseitigen, sondern alle MitbürgerInnen müssen sich einbezogen und angenommen fühlen. Warum dies ausgerechnet unter der jetzt schon 13jährigen Regierung einer Bundeskanzlerin nicht gelingt, die ihre Kindheit, Jugend und erste Erwachsenenzeit in der DDR verbrachte, das ist mir ein Rätsel.

Vielleicht aber doch nicht, denn viele unserer führenden PolitikerInnen haben längst den Bezug zur täglichen Realität verloren. Nicht nur Angela Merkel, sondern auch der frühere Bundespräsident Joachim Gauck startete in Mecklenburg-Vorpommern seinen Weg in die Gesellschaft, doch auch ihm fiel nur „Dunkeldeutschland“ ein, als Menschen und Gruppen, die sich nicht wahrgenommen fühlen – mit teilweise fragwürdigen Mitteln – aufbegehrten. Etwas mehr Perfektion hätte auch hier durchaus nicht geschadet! Symptomatisch ist es, dass Spitzenpolitiker scharenweise nach Chemnitz oder andere betroffene Städte pilgern, wenn es Krawall gibt, doch vorher haben sie sich zu wenig um die dort lebenden Menschen und ihre Sorgen gekümmert. Soll mit dem Hinweis, wir müssten mit „dem Unzulänglichen leben“ der Mantel des Schweigens über die wahren Ursachen so mancher Aufwallung gebreitet werden?

Leerstehender Laden in Goseck.
Sollen wir die mangelnde emotionale Einbindung vieler MitbürgerInnen in den neuen Bundesländern – aber auch in anderen wirtschaftlich abgehängten Regionen – unter den Schlagworten des „Nicht-Perfekten” und „Unzulänglichen” abtun? Nein, ganz im Gegenteil: Die Politik und wir alle müssen uns mehr um Integration und Zusammengehörigkeit kümmern. Autobahnen und ICE-Strecken ersetzen nicht die Einbindung der Menschen. Wenn wir dafür Sorge tragen, dass wir in Sachen Einbindung perfekter werden, dann sind wir doch nicht auf dem Weg in die „Diktatur”, wie Wolfgang Schäuble zu meinen scheint. Wenn Dörfer – wie hier Goseck in Sachsen-Anhalt – ihre Anziehungskraft verlieren, dann sollten wir uns um eine sachgerechte – und durchaus perfektere – Regionalpolitik kümmern. (Bild: Ulsamer)

Perfektion muss der politische Anspruch sein

„Das Perfekte“ anzustreben war und ist für mich auch ein Ausdruck unserer Lebenseinstellungen. Ohne diesen Anspruch hätten wir es nicht über Jahre zum Exportweltmeister gebracht: Warum werden denn deutsche Produkte gekauft, weil sie im Regelfall nicht billiger aber besser sind als viele Konkurrenzerzeugnisse. „Das Beste oder nichts“, war das Ziel von Gottlieb Daimler. Und ein solches Ziel ist richtig und wichtig! Natürlich verbunden mit der Einsicht, dass es nicht jeden Tag gelingen wird, dies zu erreichen. Aber wer – wie Wolfgang Schäuble – schon mit dem schrägen Hinweis aufwartet „wir sollten auch wieder lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen“, der entschuldigt Misswirtschaft in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Ein Musterbeispiel für das „Unzulängliche“ ist die Bundeswehr, denn dort fehlt es von der passenden persönlichen Ausrüstung bis zu einsatzbereiten Großgeräten nahezu an allem! Meint Wolfgang Schäuble, wir müssten uns eben daran gewöhnen, dass politisches und administratives Unvermögen folgenlos bleibt? Dann können wir uns Rechnungshöfe oder den Wehrbeauftragten auch gleich sparen. Und wer dann auch noch wie Wolfgang Schäuble meint, „das Perfekte“ führe uns in die „Diktatur“, der hat für meinen Geschmack verbal echt danebengegriffen. Und dies gilt für den Tag der deutschen Einheit in besonderer Weise.

Wichtig ist es auch, Fehler eingestehen zu können, und hier kann ich dem Bundestagspräsidenten nur zustimmen. „Die offene Gesellschaft bewährt sich in ihrer Fähigkeit, Fehler zu erkennen, sie zuzugeben – und zu korrigieren. Um damit auf Veränderungen zu reagieren. Das haben wir vielfach bewiesen.“ Aber liegt nicht der zweite Fehler – nach der mangelnden Güte der politischen Leistung – im Beharren auf fragwürdigen Positionen? Angela Merkel hätte sich leichter getan, das Flüchtlingsthema wieder in geordnete Bahnen zu lenken, wenn sie nicht gebetsmühlenartig „Wir schaffen das“ und „Ich wüsste nicht, was wir anders machen sollten“ wiederholt hätte. So kommt zu einem unzulänglichen Start 2015 leider eine Aneinanderreihung von Debakeln hinzu. Ich glaube nicht, dass wir uns mit einer so unzulänglichen Politik abfinden müssen, auch wenn dies uns der Bundestagspräsident mit auf den Weg geben möchte. Wenn die Unzulänglichkeiten über Hand nehmen und eine gewisse Perfektion in Misskredit gebracht wird, dann landen wir in einer echten Bananenrepublik. Und das sollten wir vermeiden! Die AfD hat sicherlich auch nicht durch das zu hohe Maß an Perfektion in der Flüchtlingspolitik Angela Merkels Oberwasser bekommen, sondern durch deren Versagen. Das Trudeln lassen ist das strikte Gegenteil des Versuchs, politische Fragen bestmöglich zu beantworten. Das Streben nach Perfektion hat noch niemandem geschadet, am Wenigsten der Politik!

Im Hintergrund der Reichstag in Berlin, der Sitz des Deutschen Bundestags. Im Vordergrund auf der leicht bräunlichen Wiese eine Gruppe Radfahrer.
Von unserem XXL-Bundestag, immerhin das zweitgrößte Parlament der Welt nach dem Chinesischen Volkskongress, erwarte ich mehr offene Debatten und durchaus den Wunsch, perfektere Arbeit als bisher zu leisten. Es kann und darf nicht sein, dass z.B. das leidige Thema der Grundsteuer erst wieder aktiv aufgegriffen wurde, als dies das Bundesverfassungsgericht anmahnte. Auch der Bundestag muss seinen Teil dazu beitragen, dass sich wieder mehr Bürgerinnen und Bürger eingebunden in unsere Gesellschaft fühlen. (Bild: Ulsamer)

 

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