Regionales Bewusstsein – Chance statt Bedrohung

Katalonien und Schottland – der europäische Gedanke lebt

Wenn viele Katalanen mit leuchtenden Augen für einen eigenen Staat auf die Straße gehen, dann findet dies weder bei der spanischen Regierung noch bei Merkel und Macron oder bei Juncker Wohlgefallen. Dies konnte man aber auch nicht anders erwarten, denn alle drei stehen für überkommene Strukturen, auch wenn dies auf den ersten Blick vielleicht nicht immer auffällt. Und der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy reiht sich ohnehin in den Kreis derer ein, die wie Angela Merkel regelmäßig betonen: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten.“  Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lässt nicht nur bei regionalen Befindlichkeiten jegliches Feingefühl vermissen.

Nun bin ich weit davon entfernt, eine Zersplitterung Europas herbeireden zu wollen, aber es macht auch keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken, wenn sich regionale Kräfte artikulieren. Wer heute nichts unternimmt, das sollten sich die führenden Politiker vor Augen halten, der ist mitschuldig, wenn sich das Engagement mancher Gruppierungen andere Wege sucht. Oder hören manche Führungspersönlichkeiten erst zu, wenn es im wahrsten Sinne des Wortes kracht?

Rajoy verhindert Dialog

Gerade in Spanien verwundert es mich besonders, dass Ministerpräsident Rajoy jeglichen Dialog mit der katalanischen Regierung abgelehnt hatte, stattdessen zog er den Verfassungsartikel 155 aus der Tasche, um die gewählte Regierung Kataloniens aus dem Amt zu werfen. Hat sich der studierte Jurist vielleicht zu wenig mit der Geschichte seines Landes befasst? Aber rein altersmäßig hat er den Konflikt im Baskenland miterlebt, der immer wieder bürgerkriegsähnliche Ausmaße annahm. Die Basken sind nicht nur eine der ältesten Volksgruppen in Europa, sondern sie haben auch eine eigene Sprache, die mit keiner anderen europäischen Sprache verwandt ist. Und sie sind stolz auf ihre Sprache, dies mussten wir erleben, als wir mit einer unserer Töchter ins Baskenland flogen und darauf setzten, dass sie uns mit ihren Spanischkenntnissen über sprachliche Hürden hinweghelfen könnte, doch auch gegenüber Ausländern legten viele Basken keinen Wert darauf, in Spanisch zu verkehren.

Carles Puigdemont und seine nach Autonomie oder Unabhängigkeit strebenden Mitstreiter setzen in breitem Umfang auch die sozialen Netzwerke wie „Facebook” für die Verbreitung ihrer Gedanken ein. Verfolgung und Inhaftierung von Autonomiebefürwortern hilft da nicht wirklich weiter.  Die einseitige Solidarisierung der EU-Führung mit der spanischen Regierung kann zu einer Abwendung der europafreundlichen Katalanen von der EU führen. (Bild: Screenshot, „Facebook“, 6.11.17)

Auch viele Katalanen sprechen bis heute gerne ihr Katalanisch und sehen sich seit dem 12. Jahrhundert – als Aragonien – fest in ihrer eigenen Geschichte verankert. Wäre es da nicht angemessen gewesen, den sich abzeichnenden Konflikt um die Selbstbestimmung Kataloniens durch eine Verstärkung der Autonomie – vergleichbar mit dem Baskenland – einzudämmen? Selbst in der Zeit vor der Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Parlaments zeigte sich Carles Puigdemont als Chef der Regionalregierung gesprächsbereit. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er nicht so recht weiter wusste und daher mehrfach versuchte, mit der Zentralregierung den Dialogfaden wieder aufzunehmen. Rajoy stellte sich dagegen stur und setzte als Jurist einseitig auf Paragraphen: Aber Paragraphenreiter nehmen vielleicht noch flott das erste Hindernis, früher oder später landen sie jedoch im Graben.

Unterdrücktes Autonomiestreben explodierte

Nochmal zurück zum Baskenland: Dort legte schon General Franco, der Spanien in verschiedenen Funktionen von 1936 bis 1975 regierte, Feuer an die Lunte, da er voll und ganz auf eine „Ein-Spanien-Politik“ setzte und Autonomiebestrebungen mit Gewalt unterdrückte. Den Basken wurde sogar das Sprechen ihrer Sprache verboten. Mit aller Brutalität brach der Konflikt 1968 aus, als Mitglieder der ETA, die sich für einen unabhängigen baskischen Staat einsetzten, bei einem Überfall auf eine Polizeistation mehrere Polizisten töteten. Zwar gewährte die spanische Regierung 1979 den baskischen Provinzen eine weitreichende Autonomie, dennoch setzte ein Teil der ETA-Aktivisten den Kampf bei sinkender Zustimmung der Bevölkerung fort. Waffen und Sprengstoff übergab die ETA beispielsweise 2017 über einen Mittelsmann an die Behörden.

Vor dem Guggenheim-Museum in Bilbao protestierten 2005 Sympathisanten der baskischen ETA (Euskadi Ta Askatasuna) für die Freilassung von Gesinnungsgenossen, die zumindest in ihren Augen politische Gefangene waren. Sollen sich solche Szenen eines Tages in Barcelona oder Girona wiederholen? Wenn die spanische Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy heute Politiker und Verbandsvertreter inhaftieren lässt, die für die Unabhängigkeit Kataloniens streiten, dann schafft sie die Märtyrer von morgen. Nur die offene Diskussion hilft hier weiter, nicht Sturheit und Repression. Und der nach Belgien geflüchtete Carles Puigdemont lässt sich dort von einem Anwalt vertreten, der auch schon ETA-Aktivisten verteidigte. (Bild: Ulsamer)

Nun möchte ich weder die heutige spanische Regierung mit dem autoritären Franco-Regime vergleichen noch eine bewaffnete Auseinandersetzung in Katalonien heraufbeschwören. Feststellen muss ich jedoch, dass das Niederknüppeln von Referendumsteilnehmern durch spanische Polizeieinheiten und die Absetzung der Regionalregierung oder die Verhaftung ihrer Mitglieder keinen echten Lösungsweg öffnen. Auch die angesetzten Neuwahlen werden nicht zur Befriedung führen, schon gar nicht, wenn führende Politiker der nach Unabhängigkeit strebenden Gruppen im Gefängnis sitzen. Repression kann keinesfalls einen offenen Dialog ersetzen, das wird auch Ministerpräsident Rajoy noch erkennen müssen. Ob er sich die gemachten Fehler dann eingestehen wird? Das bezweifle ich, denn er scheint dem Club der Politiker anzugehören, die aus einem Debakel nichts lernen.

Eigennutz contra Autonomiebestrebungen

Nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Kommissionspräsident Juncker versicherten Rajoy ihre Unterstützung, ohne auf einen Dialog zu drängen, sondern auch Emmanuel Macron, der einer anderen Generation angehört. Letztendlich wird es sich jedoch zeigen, dass der frühere Investmentbanker und heutige französische Präsident, der gerne mit Dekreten regiert, für neue Gedanken keine Offenheit zeigt, so hält er auch in seinem eigenen Land lieber Reden vor handverlesenem Publikum statt mit den Gegnern seiner ‚Reformen‘ zu diskutieren. Beim Thema Katalonien dürfte er sich auch an die baskischen Bestrebungen nach einem eigenen Staat erinnert haben, denn in diesen sollten auch Regionen einbezogen werden, die auf französischem Staatsgebiet liegen. Wehret den Anfängen, so mag er gedacht haben, ob dieser Leitgedanke aber zur Konfliktlösung beiträgt, das kann bezweifelt werden.

Selbst der ansonsten auf Alleingänge spezialisierte US-Präsident Donald Trump marschierte in Sachen Katalonien im Mainstream mit. Ob er so genau weiß, was die Katalanen wollen, das kann man nur schwer einschätzen, aber seine Berater haben sicherlich auf die strategische Bedeutung der amerikanischen Militärstützpunkte auf spanischem Boden hingewiesen. US-Stützpunkte haben in seiner „America first“-Politik sicherlich mehr Gewicht als nach Autonomie strebende Katalanen.

Selbst der für seine politischen Eskapaden bekannte US-Präsident hakte sich bei den Politikern unter, die sich mit der spanischen Regierung solidarisierten – ohne auf einen intensiven Dialog mit den Katalanen zu drängen. Donald Trump hatten seine Berater wohl eingeschärft, dass die US-Militärstützpunkte in Spanien wichtiger seien als die Wünsche der Katalanen. Und so war sich Trump auch sicher, dass die Katalanen, die ihr Land lieben, Spanien nicht verlassen würden.(Bild: Screenshot, “CNBC”, 10.11.17)

Ministerpräsident Rajoy sprang auch der spanische König Felipe VI. bei, der 2014 auf dem Thron Platz genommen hat. Er kritisierte scharf die Vorgehensweise der katalanischen Regionalregierung anstatt auf Versöhnung zu setzen. Verständlich ist seine Warnung, sie würden nicht nur die „wirtschaftliche und soziale Stabilität“ in Katalonien, sondern im ganzen Land gefährden, denn beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung liegt die aufmüpfige ‚Provinz‘ über dem Landesdurchschnitt – ebenso wie das Baskenland. Und es gibt prozentual auch deutlich weniger Arbeitslose. So dürften die politischen Ängste nicht alleine im Mittelpunkt bei König und Regierung stehen, sondern eben auch die Sorge, dass bei einem Austritt Kataloniens die Wirtschaftskraft Spaniens deutlich geschwächt würde. Bei einer erfolgreichen Abspaltung der Katalanen könnten darüber hinaus auch die Basken nochmals über ihre Zukunft nachdenken.

Wegschauen bringt nichts

Auch in anderen Regionen Europas brodelt es unter der Oberfläche. Zwar tauchten regionale Bestrebungen in Junckers „Rede zur Lage der Union 2017“ nicht auf, doch ist dies kein Beleg dafür, dass alles in Ordnung ist. Eher im Gegenteil: Die Themen, die Juncker & Co. jeweils weglassen, die beinhalten den meisten Sprengstoff. Verschleierung ist zwar eine Spezialität mancher Politikerinnen und Politiker, aber letztendlich ist dies zwecklos.

So wuchert der Spaltpilz nicht nur im belgischen Flandern, sondern auch in Schottland, in Venetien und der Lombardei, um nur diese Regionen zu nennen. Zwar sprachen sich die italienischen Regionen Venetien und Lombardei in einem Referendum nicht für die Unabhängigkeit aus, sondern nur für mehr Autonomie, aber es zeigt sich, dass sich die Kluft zwischen Nord- und Süditalien weiter auftut. Der Norden möchte mehr Geld für sich behalten und nicht über sein Steueraufkommen den notleidenden und strukturschwachen Süden ‚durchfüttern‘.

Vom Sardana zum Kilt

Vom Sardana, einem katalanischen Tanz, der als Symbol der katalanischer Einheit und des katalanischen Stolzes gilt, in den hohen Norden Europas zu den Highland Games, dieser Sprung mag ein wenig konstruiert erscheinen, doch auch dort gibt es – mit und ohne Kilt – das Streben nach Unabhängigkeit. Zwar haben die Schotten schon ein legales Referendum über die Bildung eines eigenen Staates durchgezogen und eine knappe Mehrheit war dagegen, doch die Scottish National Party (SNP) hat das Ziel noch nicht aufgegeben. Auftrieb hat der SNP nach ihrer Niederlage der Brexit-Beschluss der Briten vermittelt, denn die Mehrheit der Schotten möchte in der Europäischen Union (EU) verbleiben. Theresa May, die Premierministerin des Vereinigten Königreichs, die von einem Desaster zum anderen stolpert, verweigert der schottischen Ersten Ministerin Nicola Sturgeon jedoch jedes Gespräch über ein neues Referendum oder eine Sonderlösung für Schottland.

Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin der schottischen Regionalregierung, und ihre Scottish National Party (SNP) zeigen auch in den sozialen Netzwerken ihre Sympathie für die Autonomiebestrebungen der Katalanen. Sowohl in Schottland als auch in Katalonien steht die EU hoch im Kurs, es fragt sich jedoch, wie lange noch? Der enge Schulterschluss der EU-Führung mit strauchelnden Regierungen lässt wenig Gutes erwarten! (Bild: Screenshot, „Facebook“, 5.11.17)

Vor diesem Hintergrund ist eine gewisse Sympathie vieler Schotten für die Katalanen fast zwangsläufig. So betonte Fiona Hyslop in ihrer Funktion als Cabinet Secretary for Culture, Tourism and External Affairs: “We understand and respect the position of the Catalan Government. While Spain has the right to oppose independence, the people of Catalonia must have the ability to determine their own future. Today’s Declaration of Independence came about only after repeated calls for dialogue were refused.“ Völlig zurecht wird unterstrichen, dass nur die mangelnde Dialogbereitschaft der spanischen Regierung die Katalanen zur Unabhängigkeitserklärung getrieben hat. Interessant ist für mich die Ausgewogenheit des schottischen Statements, denn es betont das Recht der spanischen Regierung, den Unabhängigkeitsbestrebungen zu widersprechen ebenso wie die Fähigkeit der Katalanen, über ihre eigene Zukunft selbst zu bestimmen.

Reiche gegen ärmere Regionen?

Leider hat die von Ministerpräsident Rajoy geführte Regierung die Chance verpasst, den Dialog mit den Katalanen zur rechten Zeit zu führen: Autonomie vergleichbar zu den Basken hätte vielleicht schon gereicht, um die Lage zu beruhigen. Aber an intensiven Gesprächen fehlt es auch zwischen London und Edinburgh, da Premierministerin May ihrem spanischen Kollegen an Sturheit in nichts nachsteht. Auch die Bestrebungen, mehr Möglichkeiten zur Selbstbestimmung für Venetien und die Lombardei zu erreichen, resultieren aus der geringen Bereitschaft in Rom, den föderalen Gedanken in Italien verstärkt zu leben.

In all diesen Regionen geht es aber auch um wirtschaftliche Fragen: Mit dem Ölboom, der in Schottland längst den Zenit überschritten hat, keimte auch der Gedanke wieder stärker auf, wirtschaftlich und damit auch politisch auf eigenen Füßen stehen zu können. Venetien und die Lombardei haben, wie alle nördlichen Regionen Italiens, die Nase voll, immer den Süden alimentieren zu müssen. Gleiches gilt für das wirtschaftlich starke Katalonien, das mehr Steuermittel für sich selbst behalten möchte.

Wohin es führt, wenn eine Regierung das Streben nach Autonomie nicht rechtzeitig und sachgerecht aufgreift, das zeigt die Ruine eines Kernkraftwerks, das ab 1974 nahe der Stadt Lemóniz im Baskenland errichtet wurde. Nach mehreren Bombenanschlägen mit teilweise tödlichem Ausgang und umfangreichen Zerstörungen wurde der Bau – nach Investitionen von über 2 Mrd. EURO – 1984 endgültig eingestellt. Nach fast 30 Jahren im Dornröschenschlaf sollen die Ruinen jetzt zu einer Fischfarm umgebaut werden, um dringend notwendige Arbeitsplätze zu schaffen. Zumindest der Kühlkreislauf ist noch intakt, über den das für die Fische notwendige Meerwasser in die Becken gepumpt werden könnte. Der Konflikt um Selbstbestimmung im Baskenland wurde viel zu spät von der spanischen Regierung angegangen und erst nach einem schrecklichen Blutzoll auf allen Seiten zu einer Befriedung geführt. Ich hoffe sehr, dass sich in Katalonien Wege aus der Sackgasse finden lassen, ehe es zu Gewaltaktionen kommt. (Bild: Ulsamer)

Staaten können selbstredend nur überleben, wenn es einen Ausgleich zwischen wirtschaftlich stärkeren und schwächeren Landesteilen gibt, aber Solidarität hat auch ihre Grenzen: So empfinden dies zumindest viele Bürgerinnen und Bürger. In Deutschland galt die Frage, ob der Länderfinanzausgleich Sinn macht, lange Zeit als politisch unanständig. Es war ja auch so bequem, die unterschiedliche Potenz der Bundesländer geflissentlich zu übergehen und auf die Vielfalt zu verweisen. Zwar soll der Länderfinanzausgleich in seiner alten Form 2020 abgeschafft werden, doch werden dann neue Geldflüsse kreiert, um die aus eigener Kraft wirtschaftlich nicht ‚lebensfähigen‘ Länder zu stützen. Die Kraft zu echten Reformen fehlt in Deutschland, aber die gute Wirtschafts- und Finanzlage hat es erlaubt, den ‚Mantel des Schweigens‘ darüber zu legen, dass Länder wie Berlin, das Saarland, Bremen oder die neuen Bundesländer nur am Tropf der wenigen Nettozahler wie Bayern, Baden-Württemberg und Hessen überleben können. Selbst Nordrhein-Westfalen verwandelte sich – nicht zuletzt wegen der desaströsen Strukturpolitik im Ruhrgebiet – in den vergangenen Jahren zum Nehmerland. Solidarität ist ein wohlklingender Begriff, aber im Sinne der Subsidiarität dürfen schwächere Regionen auch nicht vergessen, dass es letztendlich ohne eigene Anstrengungen nicht geht! Und im Regelfall liegt es nicht an den Menschen in der jeweiligen Region, wenn die Wirtschaftskraft dahinwelkt, sondern an falschen politischen Rahmensetzungen.

Berechtigte regionale Interessen akzeptieren

Vorschnell schlagen sich die Altvorderen wie der EU-Kommissionspräsident Juncker und Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Seite der ‚Herrschenden‘ und negieren die berechtigten Interessen der Regionen. Selbst Emmanuel Macron, zwar jünger, trotzdem aus gleichem Holz geschnitzt, setzt lieber auf die anderen Regierungschefs, denn in seinen europäischen Traumgebilden kommt den Regionen kein legitimer Platz zu. Doch wie könnte dies auch anders sein? Macron gibt seiner Präsidentschaft eher ein Gepräge der Machtentfaltung und nähert sich damit seinem ‚Vorgänger‘, dem Sonnenkönig Ludwig XIV., an:  Zentralismus ist angesagt und nicht Föderalismus.

Aber gerade im Föderalismus liegt der Ausweg: Mehr Autonomie für die Regionen wird zu einer Beruhigung führen. Je länger hier keine politischen Dialogprozesse entwickelt werden, desto mehr Regionen werden über das Autonomiestreben hinausschießen und auf völlige Selbständigkeit setzen. Wer einer weiteren Aufsplitterung Europas entgegenwirken möchte, der darf nicht auf Repression setzen, sondern muss sich der Mühe unterziehen, das Problem auch mal mit den Augen der Gegenseite zu betrachten. Politische Engstirnigkeit verhindert aber gerade diesen so wichtigen Dialog zusehends. Die Scherben müssen dann meist die nächsten Generationen zusammenkehren.

In den britischen Medien – von der “BBC” bis zum “Guardian” – wurden die Forderungen der Katalanen nach Autonomie breiter und differenzierter dargestellt als in zahlreichen deutschen Medien, die schnell auf den Regierungskurs einschwenkten.  Und so griff Carles Puigdemont einen Beitrag aus dem “Guardian” auch auf seiner “Facebook”-Seite auf. (Bild: Screenshot, „Facebook“, 8.11.17)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plauderte bei der Einweihung des neuen Plenarsaals im niedersächsischen Landtag über regionale Besonderheiten: „Selbst der Grünkohl heißt in Braunschweig Braunkohl und der Oldenburger Pinkel ist in Hannover die Bregenwurst.“ Sehr hübsch, aber das ist wirklich nicht die Frage. Zwar hebt er die Vorteile unseres föderalen Systems hervor, doch vorschnell werden regionale Autonomiewünsche in eine finstere Ecke geschoben: „Der Rückzug auf das Eigene, gar das Beharren auf quasi natürlicher Überlegenheit der eigenen Region sollten der Vergangenheit angehören.“ Weder in Katalonien noch in Schottland hat irgendjemand die „Überlegenheit der eigenen Region“ ausgerufen, sondern es geht um kulturelle und politische Eigenständigkeit. Viele Bürgerinnen und Bürger in diesen Regionen wollen auf Augenhöhe angesprochen und behandelt werden!

Regionen für Europa: Vielfalt und Gemeinschaft

Warum erkennen zu wenige Politikerinnen und Politiker, dass die zum Teil widerborstigen Regionen keine Gefahr für ein gemeinsames Europa, kein trennendes Moment für die Europäische Union sein müssen, sondern ganz im Gegenteil! Gerade in Schottland gab es im britischen Referendum eine Mehrheit für die EU, in Katalonien erhofften sich die Autonomiebefürworter Unterstützung von der EU im Sinne eines Moderators, leider vergeblich. Ein gutes Beispiel für die Befriedung ist bis heute Südtirol, denn ein Mehr an Autonomie hat auch für ein Ende von gewalttätigen Aktionen gegen den italienischen Staat geführt. Ich erinnere mich noch an Kinderzeiten, als in Südtirol wichtige Masten für Hochspannungsleitungen und andere Infrastruktureinrichtungen von Polizei und Militär bewacht werden mussten, aber auch dort droht heute immer wieder die Aushöhlung der Autonomie mit unberechenbaren Folgen.

Nehmen wir uns doch ein Vorbild z.B. an der Schweiz, denn dort werden unterschiedlichste Kantone – selbst mit verschiedenen Sprachen – zusammengehalten und dies nicht zuletzt dank einem hohen Maß an Selbstbestimmung der Regionen. Und auch das föderale System Deutschlands bietet – bei allen kritischen Momenten – Ansätze, die auch in anderen Staaten Vielfalt in Gemeinschaft sichern können. Wir brauchen mehr regionale Autonomie, nicht weniger, ansonsten werden die vorhandenen EU-Staaten von regionalen und nationalistischen Bestrebungen angenagt und letztendlich wird dadurch die EU selbst ins Wanken geraten, die bisher zu wenig Einsatz für die regionalen Wünsche zeigt. Nur EU-Mittel mit der Gießkanne über die Regionen zu verteilen, dies zeigt auch die Mehrheit für den Brexit in Wales, ist keine Lösung: Es geht insbesondere um die Anerkennung und Förderung der kulturellen Identität.

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