Mario Draghi und Jean-Claude Juncker: Politisches Verfallsdatum überschritten!

EU: Frischer Wind nur mit neuem Personal

Als Europäer mache ich mir wirklich Gedanken, in welcher Weise ein Teil des Spitzenpersonals sowohl in der EU-Kommission als auch bei der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht nur das Schicksal der Europäischen Gemeinschaft aufs Spiel setzt, sondern damit auch unser aller Zukunft. Aber trotz der mageren Ergebnisse ihrer Arbeit erwarten sie Beifall von uns Bürgerinnen und Bürgern, und wenn alle Stricke reißen, dann klopfen sie sich eben gegenseitig auf die Schultern.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich kritisiere Jean-Claude Juncker, den EU-Kommissionspräsidenten, oder Mario Draghi, den Präsidenten der EZB, nicht, um damit unser gemeinsames europäisches Projekt in Misskredit zu bringen, sondern ganz im Gegenteil! Weil die Gemeinschaft oder Union europäischer Staaten so wichtig ist, brauchen wir einen Wechsel in diesen Spitzenpositionen – und einigen anderen. Politik kann durch die Entwicklung überholt werden, vielleicht sogar hinfällig werden. Und in gleicher Weise können Politiker ihr politisches Verfallsdatum überschreiten. Vielleicht merken sie dies nicht selbst, aber aus der Außensicht wird vieles klarer.

Blick auf die Realität verloren

Viel Neues hatte ich von Jean-Claude Junckers „Rede zur Lage der Union 2017“ ohnehin nicht erwartet, aber so viel Selbstbeweihräucherung geht dann doch zu weit. „Das Wachstum der Europäischen Union hat das der Vereinigten Staaten in den vergangenen zwei Jahren übertroffen.“ Und er fuhr fort: „Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit neun Jahren nicht mehr.“ Jetzt dachte ich, kommen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Fabriken und Laboren, im Handel oder Gewerbe das Wachstum erarbeitet haben. Fehlanzeige! Dann werden sicherlich die mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer gewürdigt, die die Mehrzahl der von Juncker erwähnten „8 Millionen Arbeitsplätze“ geschaffen haben. Wieder Fehlanzeige! Dann werden doch sicherlich die Tüftler und Forscher genannt, die mit ihren neuen Ideen die technologische Entwicklung vorantreiben. Schon wieder Fehlanzeige!

Vor gut besetztem Haus trug Jean-Claude Juncker seine „Rede zur Lage der Union 2017“ vor, die aus einer Mischung von Allgemeinplätzen, Fehleinschätzungen und Selbstbeweihräucherung besteht. Statt weitere Staaten in den EURO zu zwingen und die Zahl der Mitgliedsstaaten aufzublähen, wäre es wichtiger, grundlegende Reformen durchzuführen. Die Europäische Union muss sich auf zentrale Aufgabenfelder konzentrieren, ansonsten droht der Zerfall. Juncker & Co. haben aus dem Brexit nichts gelernt. (Bild: European Union 2017, Source: EP)

Aber wer hat denn nun den „Wirtschaftsaufschwung“ gebracht? Eigentlich eine dumme Frage von mir: „Dieser Erfolg ist nicht nur die Leistung der europäischen Kommission“, sagte Juncker im gut besetzten Plenum des Europäischen Parlaments, aber doch beinahe. Ein bisschen vom Glanz gibt er dann doch ab – an sein erweitertes Umfeld: „Aber die europäischen Institutionen haben ihren Teil dazu beigetragen, dass sich der Wind gedreht hat.“ Und dann kommen doch noch „445 000 kleine und mittelständische Unternehmen“ in seiner Rede vor – allerdings nur als Darlehnsnehmer. Jean-Claude Juncker ist mit seinem eindimensionalen Blick auf wirtschafts- und finanzpolitische Zusammenhänge in diesem wichtigen Amt eigentlich nicht tragbar.

Zum Abschluss dieses Aspekts noch ein Blick auf die Banken, die jetzt „wieder über die nötige Kapitalstärke verfügen“ – und wer hat es vollbracht: „Es ist unser Verdienst …“

Kein Wort zur misslichen Lage mancher Banken, so z.B. auch in Italien, die noch immer von faulen Krediten erdrückt werden. Ist das dann auch der „Verdienst“ von Juncker und Konsorten?

Zu viele Nullen

Ehe ich noch einige Themen aus Junckers Rede aufgreife, möchte ich – leider zum wiederholten Male – auf die von Mario Draghi weiterhin ungebremst vorangetriebene Nullzinspolitik eingehen. Wer hat denn nun recht: Juncker, der über den Wirtschaftsaufschwung palavert oder Draghi, der immer noch kein Licht am Ende des Tunnels zu erkennen vermag?

Eines ist sicher, die Nullzinspolitik Draghis enteignet die braven Sparer und hilft den Finanzjongleuren. Die Billionen-EURO-Geldschwemme ermöglicht es einigen EU-Staaten, sich um die notwendigen Finanz-, Wirtschafts- oder Arbeitsmarktreformen herumzudrücken. Schaden richtet diese zwielichtige EZB-Politik an, da sie Probleme in die Zukunft verschiebt, in eine Zukunft, die von einer neuen Wirtschafts- oder Finanzkrise gebeutelt werden könnte. Und was macht die EZB dann? Irgendwann laufen auch bei der Europäischen Zentralbank die Gelddruckmaschinen heiß. Im entscheidenden Moment hätte sie dann keine Spielräume mehr für Kriseninterventionen.

Null Zinsen, Ankauf von Anleihen in Billionenhöhe (schon wieder 12 Nullen) – und wie viele Nullen lenken die EZB? Eine Frage, die wir alle für uns selbst beantworten müssen. Für mich ist allerdings klar, dass ohne eine grundsätzliche Neuorientierung der EZB auch keine echte Abhilfe für die europäischen Probleme bei Finanzen und Wirtschaft geschaffen werden kann.

Wenn ich die Mitteilungen der EZB zu geldpolitischen Beschlüssen lese, dann frage ich mich, warum man die ‚neuen‘ Erkenntnisse nicht einen Roboter vorlesen lässt, denn ‚neu‘ ist wirklich nichts! Schon wieder eine Null: null Veränderung der Position.

Binnengrenzen ohne Schlagbäume und Kontrollen – wie hier zwischen Frankreich und Deutschland bei Saarbrücken -, daran haben wir uns gewöhnt und niemand möchte sie missen. Dies setzt aber auch eine konsequente Sicherung der Außengrenzen voraus. „Mehr als 1700 Beamte der neuen Grenz- und Küstenwache unterstützen nun die 100 000 nationalen Grenzschützer der Mitgliedsstaaten und patrouillieren in Griechenland, Italien, Bulgarien und Spanien.“ Was 2 % mehr Grenzschützer bewirken können? Im Grunde stellt sich die Frage nach der Zahl an Migranten, die die europäischen Staaten gewillt und befähigt sind aufzunehmen und zu integrieren. Diese Grundsatzfrage kann natürlich nicht die EU-Spitze beantworten, die sich über Quotenansätze um die Beantwortung drückt, sondern sie stellt sich allen beteiligten Staaten. Und nicht nur während des Bundestagswahlkampfs treten die Gegensätze der Parteien offen zu tage. (Bild: Ulsamer)

Geldschwemme verhindert Strukturreformen

Die EZB beließ es auch am 7. September bei den zinspolitischen Vorgaben, die bei uns Sparern zu null Zinsen führen. Und Tröstliches haben Draghi & Co. ohnehin nicht zu vermelden: „Der EZB-Rat geht davon aus, dass die EZB-Leitzinsen für längere Zeit und weit über den Zeithorizont des Nettoerwerbs von Vermögenswerten hinaus auf ihrem aktuellen Niveau bleiben werden.“ Wo bleiben eigentlich im genannten EZB-Rat die warnenden Stimmen? Tuscheln und Maulen hinter vorgehaltener Hand reicht nicht. Es juckt mich in den Fingern, aber vielleicht sollte ich doch nicht bei so viel versammeltem ‚Sachverstand‘ wieder über ‚Nullen‘ schreiben? Bis Ende Dezember wird daher auch weiterhin der sogenannte „Nettoerwerb von Vermögenswerten“ – mit monatlich 60 Mrd. EURO – fortgesetzt. Und sollte sich die Inflation nicht im Sinne von Mario Draghi weiter erhöhen, dann dürfen die Ankäufe gerne auch noch höher ausfallen. Ich möchte nicht wissen, wie viele faule Anleihen sich schon im Besitz der EZB befinden.

Völlig abwegig ist auch die verallgemeinernde Aussage von Mario Draghi, dass der Beschäftigungszuwachs durch „vorangegangene Arbeitsmarktreformen begünstigt wird“. Das Problem, dass einige Volkswirtschaften hinter der Entwicklung herhinken, liegt eben darin, dass keine Arbeitsmarktreformen vorangetrieben wurden: siehe Italien, das Heimatland Draghis oder Frankreich. Die EZB verhindert durch ihre Politik des billigen Geldes geradezu Strukturreformen in einigen europäischen Staaten: Warum unbeliebte Reformen vornehmen, wenn man sich dank Nullzinspolitik und Billionenschwemme noch über Wasser halten kann?

Nicht lernfähig!

Jean-Claude Juncker fordert in seiner Rede „einen Europäischen Wirtschafts- und Finanzminister, einen europäischen Minister, der positive Strukturreformen in unseren Mitgliedsstaaten fördert und unterstützt“. Im Grunde hat er recht, denn wie soll eine Gemeinschaftswährung funktionieren, wenn in den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht die gleiche Finanz- und Wirtschaftspolitik betrieben wird. Beim EURO haben führende Politiker das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt und zuerst eine gemeinsame Währung eingeführt, statt vorab eine Angleichung bei finanz- und wirtschaftspolitischen Standards und Handlungen zu erreichen. Aber wenn ich mir das Treiben von Mario Draghi anschaue, dann kann ich mir schon vorstellen, welche Art von Wirtschafts- und Finanzminister wir bekommen würden. Somit ist diese Forderung ohne eine grundlegende Neustrukturierung der EU-Institutionen abzulehnen. Seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vor 60 Jahren haben wir in Europa viel erreicht und sollten dies nicht durch den Bau von Luftschlössern gefährden.

Das Drängen Junckers auf eine Ausweitung des EUROs auf die noch nicht einbezogenen EU-Staaten halte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt für falsch. Zuerst muss das Fundament stabilisiert werden, ehe noch mehr EURO-Staaten einziehen können. Aber das hat der Kommissionspräsident wahrscheinlich übersehen, der betont: „Wir haben damit begonnen, unser Dach zu reparieren.“ Das ist sicherlich auch sinnvoll, aber wenn das Fundament wackelt, dann nutzt auch ein neues Dach nichts.

Schwächere Volkswirtschaften in den EURO zu locken, das hat bei Griechenland nicht funktioniert – warum soll es bei anderen Staaten klappen? Aber auch hier gibt es ‚Abhilfe‘ à la Juncker: „Deshalb schlage ich die Schaffung eines Euro-Beitrittsinstruments vor, das ihnen technische, manchmal auch finanzielle Heranführungshilfen bietet.“ Wenn führende Politiker – wie Juncker – nichts aus dem Griechenland-Debakel gelernt haben, dann stimmt mich dies traurig. Und dabei geht es mir nicht um die Milliarden an Hilfskrediten, sondern um die griechischen Bürgerinnen und Bürger, die politische Fehlentscheidungen im eigenen Land, aber auch bei der EU und anderen Mitgliedsstaaten – einschließlich Deutschland – ausbaden müssen. Wenn Staaten aus eigener Kraft die Eintrittsbestimmungen in das EURO-Land nicht schaffen, dann nützt es auch nichts, wenn man sie mit Transferzahlungen, Subventionen und Beihilfen hineinhievt.

„Unsere Union ist kein Staat, aber sie ist ein Rechtsstaat“, so Juncker. Wie geht das denn zusammen? Die EU ist eine Gemeinschaft von Staaten, die sich zur Bewältigung bestimmter Aufgaben zusammengefunden haben, aber noch lange kein Staat. Mit Redewendungen dieser Art schürt der Kommissionspräsident nur das Misstrauen bei Menschen, die um die Identität ihres Staates fürchten oder auch für mehr Eigenständigkeit ihrer Region kämpfen. Dem Erstarken regionaler Bewegungen, wie z.B. in Katalonien – hier ein Blick auf die Innenstadt von Barcelona -, wird in Junckers Gedankenwelt viel zu wenig Raum gegeben. Die EU kommt nicht nur durch den Ausstieg des Vereinigten Königreichs unter Druck, sondern auch durch ein Wegdriften einiger mittel-osteuropäischen Staaten sowie durch das Selbstbewusstsein der Regionen. (Bild: Ulsamer)

Abgehoben im eigenen Olymp

Wie könnte es auch anders sein: „Dieses Szenario beruht auf jahrzehntelangen persönlichen Erfahrungen.“ Gerade hier sehe ich Junckers Problem. Er hat längst verlernt, die europäische Situation mal mit den Augen der anderen zu sehen. Neue Persönlichkeiten bringen auch neue Ansätze mit, die mir bei Juncker – wie auch bei Draghi – fehlen. „Mein ganzes Leben habe ich das europäische Projekt gelebt und dafür gearbeitet.“ Na, das sehe ich dann doch etwas differenzierter: War Juncker als Premierminister in Luxemburg nicht auch an fragwürdigen Steuerpraktiken beteiligt, die er als EU-Kommissionspräsident in Irland dann anprangert?

Sitzt Juncker nicht schon in seinem eigenen Olymp? „Ich bin mit der Europäischen Union durch dick und dünn gegangen“. Steht hier nicht zu sehr die eigene Person im Mittelpunkt? Und geht es nicht auch eine Nummer kleiner: „Deshalb hat diese Kommission in großen Dingen Größe gezeigt …“. Weit vom Personenkult sind wir nicht mehr entfernt!

Aber nicht nur Juncker zeichnet eine Abgehobenheit und Bürgerferne aus, sondern auch viele EU-Entscheidungen. So ist es für mich schlichtweg unbegreiflich, dass in einer Gemeinschaft z.B. ein polnischer Politiker – wie Donald Tusk – als Ratspräsident wieder berufen wird, obwohl sein Herkunftsland und Mitgliedsstaat dies ablehnt. Nun kann man über die derzeitige polnische Politik trefflich streiten, aber dass eine derartige EU-Entscheidung nicht gerade zum Zusammenrücken der Staaten führt, dies sollte jedem politisch denkenden Menschen klar sein. Da nutzen auch freundliche Juncker-Sprüche nichts: „Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen, mit dem östlichen und dem westlichen.“ Launige Reden sind hier nicht gefragt, sondern kontinuierlicher Dialog und Kompromissbereitschaft – gerade auch mit unseren mittel-osteuropäischen Nachbarn. Auch der Brexit hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn die EU vor der Volksabstimmung im Vereinigten Königreich mehr Flexibilität gezeigt hätte. Hat die EU-Spitze wirklich alles getan, um das schlingernde Vereinigte Königreich mit den Bruchpiloten David Cameron und Theresa May sicher innerhalb der EU landen zu lassen?

Mir fehlt bei Juncker und seinen Kollegen die Empathie, wenn es um die Bürgerinnen und Bürger innerhalb der EU geht. „Am 29. März 2019 wird das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen. Das wird ein sehr trauriger und tragischer Moment sein, den wir immer bedauern werden. Doch wir müssen den Willen des britischen Volkes respektieren.“ Hätte hier nicht dazu gehört, dass wir den Engländern, Schotten, Walisern und Nordiren weiterhin die Hand reichen und die Tür noch nicht geschlossen ist? Warum gibt die EU-Spitze so schnell auf? Letztendlich ergab sich beim Referendum eine überschaubare Mehrheit, da die EU gegenüber den Briten jede Kompromissbereitschaft vermissen ließ. Dieser „tragische Moment“ hätte vielleicht vermieden werden können, aber natürlich nicht, wenn auf der einen Seite des Ärmelkanals Zocker wie David Cameron und Theresa May am Werk sind und auf der anderen Seite Juncker & Co.  Will denn keiner bemerkt haben, wem vom Big Ben in London die Stunde schlägt? (Bild: Ulsamer)

Einheit in Vielfalt

Die Europäische Union braucht nicht mehr institutionelle und formalistische Strukturen wie die von Juncker angeführte „Sondereinheit zur Unterstützung von Strukturreformen“ oder eine „Task Force Subsidiarität“ bzw. eine „gemeinsame Arbeitsmarktbehörde“ und ein „Investment Screening“, sondern mehr Anerkennung der kulturellen und regionalen Vielfalt, Akzeptanz des Bürgerwillens und die Konzentration auf wesentliche gesamteuropäische Kernfragen. Wer die kulturellen Besonderheiten zu wenig anerkennt, der übersieht auch die explosive Stimmung in den Regionen: Daher auch kein Wort von Juncker zu regionalen Befindlichkeiten wie in Katalonien.

Europa, unser Heimatkontinent, die Europäische Union, unsere wirtschaftliche und politische Gemeinschaft, und der EURO als unsere Währung sind so bedeutsam, dass wir sie nicht Politikern überlassen können, deren politisches Verfallsdatum abgelaufen ist. Wenn Juncker die Europäische Gemeinschaft auffordert, „die Segel setzen, und jetzt den günstigen Wind nutzen“, dann stimme ich gerne zu, aber nur mit neuem Kapitän auf der Brücke, neuer Mannschaft und einem klaren und realistischen Kurs.