Das Wandern ist des Müllers Lust

Die Menschen zwischen Bewegungsarmut und Wanderlust

Überall sieht man seine Mitmenschen joggen, walken, Rad fahren oder sich im nächsten Fitness Center auf dem Laufband abmühen, doch gleichzeitig beklagt auch der neueste Bericht der Deutschen Krankenversicherung (DKV): „Die körperliche Aktivität rückt bei den Deutschen weiter in den Hintergrund.“ Irgendwie passt dies nicht ganz zu den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die sich – auch angeleitet von einer unserer Töchter – in der ‚Bewegten Pause‘ recken und strecken. Und auch bei unseren Wanderungen hatten wir bisher nicht das Gefühl, alleine unterwegs zu sein. Mögen auch die Wanderbegeisterten weniger geworden sein, dafür kommen einem auch auf engen Trampelpfaden Mountain-Biker entgegen. Der DKV Report „Wie gesund lebt Deutschland?“ wurde vom Zentrum für Gesundheit durch Sport und Bewegung der Deutschen Sporthochschule in Köln erstellt, und ist gut fundiert. Zeichnet sich bei der Bewegung – wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch – eine Spaltung der Gesellschaft ab? Auf der einen Seite die körperlich Aktiven und auf der anderen die Couch-Potatoes, die am Schreibtisch oder vor dem Computer bzw. dem Fernseher sitzen?

Nun aber wieder zum Hauptthema, dem Wandern. Im weiteren Verlauf des Blog-Beitrags werde ich aber nochmals den DKV-Report aufgreifen. Gerade sind wir von einer Wanderung an der irischen Küste – am Slea Head in der Nähe von Dingle – zurückgekommen, und auch dort waren wir positiv überrascht von den zahlreichen Wanderern, die uns begegneten.

Eine größere Gruppe von Wanderern geht auf einem Pfad talwärts. Neben ihnen fließt ein schmaler Bach. Die Wiesen sind grün, aber die Natur ist insgesamt recht karg.
Ob alleine, zu zweit, mit der Familie oder in einer Gruppe, Wandern ist immer möglich – mal mit mehr oder weniger sozialer Kommunikation. Bald wird diese Wandergruppe Annascaul im irischen Kerry erreichen, wo Tom Crean lebte. Ganz so weit wie bei seinen drei Vorstößen in die Antarktis muss es ja nicht immer gleich gehen, und so entbehrungsreich wie bei der von Ernest Shackelton geleiteten ‚Imperial Trans-Antarctic Expedition‘ von 1914-17 sollte es auch nicht zugehen: Als ihr Schiff ‚Endurance‘ sank, mussten sie sich mit einem Beiboot und dann zu Fuß zu einer Walfangstation durchschlagen. (Bild: Ulsamer)

Von Pilgern und Handschuhverkäufern

Schauen wir auf die vorindustrielle Zeit zurück, dann wurde auch gewandert, doch zumeist aus wirtschaftlichen Gründen. So zwang wirtschaftliche Not wandernde Händler aus dem Zillertal, sich im 18. und 19. Jahrhundert nach Süddeutschland aufzumachen und dort die in Heimarbeit hergestellten Lederhandschuhe zu verkaufen. Nur in gehobenen Kreisen konnte man es sich wie Johann Wolfgang von Goethe leisten, sich auf Reisen zu begeben oder auch aus Freude an der Natur zu wandern. Und Goethe hat bis heute recht, wenn er schreibt: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.“ Nun kann man natürlich nicht überall zu Fuß hingelangen, denn dann wäre unser Erlebniskreis doch etwas eng, aber die Details auf und am Weg erfasst man – so meine ich – ganz anders, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Einen Käfer oder eine Raupe, die über den Pfad krabbeln, ein Schmetterling, der auf einer Blüte am Wegesrand Nektar saugt, oder eine Forelle im Bach, die nach Fliegen schnappt, dies alles übersieht man auf zwei oder vier Rädern zumeist.

Aber nicht nur wirtschaftliche Aspekte brachten unsere Vorfahren auf die Wanderschaft, so z.B. auch die Handwerksgesellen, sondern sehr früh ließen sich auch religiöse Ziele über weite Strecken nur auf den eigenen zwei Beinen erreichen. Von diesen frühen Pilgern, die sich wahrscheinlich aus Irland auf den Weg nach Santiago di Compostela im spanischen Galicien machten, zeugen noch heute Beehive Huts, Bienenkorb-artige Steinhütten in Kerry. Lang war der Weg und deutlich unsicherer als heute. Aber den irischen Pilgern und Gleichgesinnten auf dem Kontinent war keine Mühe zu groß, um das Ziel zu erreichen. „Raube dem Pilger die Hoffnung, an sein Ziel zu gelangen, und die Kräfte des Wanderers brechen zusammen.“, so der Zisterzienser-Abt Wilhelm von Saint-Thierry am Übergang des 11. zum 12. Jahrhunderts.

Eine Schnecke mit einem braun-beige-gestreiften Schneckenhaus sitzt auf einem Blatt neben der blauen Blüste einer Stranddistel.
Die kleinen Dinge am Wegesrand erkennt man am besten beim Wandern: Schmetterlinge und Hummeln beim Nektarsammeln, Ameisen beim Transport von Tannennadeln oder Blattstücken oder auch diese Schnecke auf einer streng geschützten Stranddistel. (Bild: Ulsamer)

Die Deutschen sind eifrige Wanderer

Nun aber genug der Mühen und zurück zum Wandern aus Freude an der Bewegung und der Natur – und, moderner, der Gesundheit wegen in einer oft bewegungsarmen Umwelt. Zwar durchlief die Wanderbegeisterung Höhen und Tiefen – wie es sich auch für eine Wanderung gehört -, aber auch Rückschläge, vor allem während der beiden Weltkriege und einem eher altertümlichen Image in den Boom-Jahrzehnten danach. Dennoch trotzte das Wandern und blieb bis heute eine breite Bewegung, zumindest in Deutschland und weiten Teilen der europäisch geprägten Welt. Dies scheint zumindest eine Studie des ‚Europäisches Tourismus Institut an der Universität Trier‘ aus dem Jahre 2010 zu belegen, die unter dem Titel „Grundlagenuntersuchung Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern“ veröffentlicht wurde. Das Veröffentlichungsdatum liegt zwar schon etwas zurück, doch ist die Studie weiterhin lesenswert.

Veranlasst vom Deutschen Wanderverband heißt es in dieser Analyse: „Insgesamt können rund 56% oder fast 40 Mio. Personen der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren als aktive Wanderer bezeichnet werden.“ Das klingt auf Anhieb richtig imposant, doch sind Häufigkeit und Länge der Wanderungen natürlich sehr unterschiedlich: Regelmäßig wandern von den 16 bis 24jährigen nur etwas mehr als fünf Prozent, dann nehmen die Zahlen mit dem Alter bis zur Gruppe der 65 bis 74jährigen auf rd. 28 % zu, um dann wieder abzunehmen. Wer regelmäßig wandern möchte, der braucht natürlich auch die notwendige Zeit, und die ist bei den höheren Altersjahrgängen dann eher wieder vorhanden. Bei allen Angaben hoffe ich als Soziologe immer, dass die Befragten, die angeben, sie würden wandern, dies auch wirklich tun und nicht nur beim Interviewer gegenüber den Eindruck vermeiden wollen, sie seien Bewegungsmuffel.

Eine stabile Metallkonstruktion erlaubt die Überquerung eines Tales in Tirol. Die Brücke iist nur einen Meter breit.
Beim Wandern freue ich mich immer über naturbelassene Wege, aber bei der nur einen Meter breiten Holzgauer Hängebrücke bei Elbigenalp am Weitwanderweg durch das Lechtal in Tirol musste ich eher all meinen Mut zusammennehmen, um sie zu überqueren. Unsere Enkelkinder waren hellauf begeistert von dieser Brücke, die sich 200m weit über die 105m tiefe Höhenbachtalschlucht spannt – und so folgte ich ihnen über das technisch anspruchsvolle und ästhetische Bauwerk. (Bild: Ulsamer)

Migranten ersetzen kaum deutsche Nachwuchs-Wanderer

Voreilig wäre es jedoch, sich bequem zurückzulehnen und niedrigere Prozentsätze bei jüngeren Wanderern nicht ernst zu nehmen, dem Motto folgend, mit zunehmendem Lebensalter komme dann die Wanderlust schon. In ähnlicher Weise unterschätzten Anbieter klassischer Musik den Schwund in den Konzertsälen, als jüngere Zuhörerinnen und Zuhörer sich rarmachten. Häufig finden sie dann auch später nicht mehr in den Konzertsaal – und so könnte es auch mit der Freude am Wandern bestellt sein. Wer in seiner Kindheit nicht mit den Eltern oder als Jugendlicher nicht mal mit Freunden wandert, der wird beim breiten Angebot der Freizeitaktivitäten meist auch später nicht mehr die Wanderstiefel schnüren. Den Schwund an nachwachsenden Mitgliedern beklagen seit Jahren die Wandervereine, denn sie trifft nicht nur die demografische Entwicklung, sondern auch der Trend, sich nicht mehr langfristig in Vereinen engagieren zu wollen. Doch ohne die Wandervereine und ihre ehrenamtlichen Wegbetreuer wird das Wegenetz in Mitleidenschaft gezogen – hin und wieder merkt man dies schon heute an fehlenden Wegmarkierungen.

Auch der Zustrom an Migranten, den die Studie bei ihrer Erstellung in ganzer Breite noch nicht erkennen konnte, wird dem Wanderleben kaum in die Zukunft helfen. „Ob und inwieweit der sich verändernde Bevölkerungsanteil von Personen mit Migrationshintergrund und weitere Zuwanderungsgewinne diesen quantitativen Rückgang in der Wanderernachfrage ausgleichen können, wurde im Rahmen der Expertengespräche eher skeptisch beurteilt, da Wandern in vielen Kulturkreisen nicht diesen hohen Stellenwert hat. Wenn sich der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung mittel­ bis langfristig erhöhen wird, wird der Anteil der aktiven Wanderer an der Gesamtbevölkerung leicht rückläufig sein.“ Soweit nochmals die Analyse der Uni Trier.

Das trockene Flussbett der Donau. Das Wasser ist versunken wie es in Baden heißt oder versickert wie in Württemberg betont wird.
Rund 155 Tage im Jahr fällt das Flussbett der Donau bei Immendingen trocken: Das Wasser versinkt und kommt 12 km entfernt im Aachtopf wieder zum Vorschein. So gelangt das Wasser der Donau, die im baden-württembergischen Donaueschingen entspringt, nicht nur über die Donau ins Schwarze Meer, sondern auch via Aachtopf und Bodensee über den Rhein in die Nordsee. (Bild: Ulsamer)

Naturfreaks und Gesundheitsapostel

Einen deutlichen Schub hat das Wandern durch den stärker betonten Gesundheitsaspekt und den Wunsch, sich in der Natur zu bewegen, erlebt. Gerade in der Kombination von Gesundheit und Natur liegt ein Pfund, mit dem auch die Wanderindustrie wuchert. „Dabei löst Wandern als aktive Bewegung in der freien Natur äußerst positive Effekte auf das körperliche und geistige Wohlbefinden aus“, stellt die angesprochene Studie des Deutschen Wanderverbands fest und fährt fort: „Nicht nur die Wanderer selbst bestätigen dies, sondern auch zahlreiche wissenschaftliche Studien haben diese Effekte belegt.“ Diese Aussage deckt sich mit den Erkenntnissen des DKV-Reports: „Ausreichend Bewegung in unserem Alltag ist ein wichtiger Baustein für unsere Gesundheit. Wenn wir körperlich nicht ausreichend aktiv sind, steigt das Risiko, krank zu werden, und wir fühlen uns schlapp. Außerdem unterstützt regelmäßige körperliche Freizeitaktivität uns dabei, unseren Alltagsstress zu bewältigen, wodurch wir weniger anfällig für psychosomatische Krankheiten wie zum Beispiel Burn-out sind.  Darüber hinaus sind chronische Rückenschmerzen, Übergewicht, Bluthochdruck, Brust- und Darmkrebs sowie Diabetes nur einige Folgen von zu wenig körperlicher Aktivität. Aktuell leiden mehr als sechs Millionen Deutsche an Diabetes.“ Also dann mal los und die Wanderstiefel geschnürt!

Wer sich in der Natur bewegt, der möchte dies möglichst auf Naturpfaden tun und nicht auf Asphalt: Ganz folgerichtig setzen Premiumwege und andere Prädikate auf eine Infrastruktur, die dem Wanderer ein Eintauchen in die ‚Natur‘ ermöglicht – wohl wissend, dass diese im Regelfall vom Menschen überformt wurde. Die „Grundlagenuntersuchung Freizeit- und Urlaubsmarkt Wandern“ hebt bei der Infrastruktur des Wegenetzes hervor: „Die Einbindung der Wege in die Landschaft ist diesbezüglich das wichtigste Kriterium – rund 85% aller aktiven Wanderer bewerten dieses als wichtig. Etwas zurück, aber immer noch von höchster Bedeutung, fallen die Punkte ‚Absicherung von Gefahrenstellen‘ sowie die ‚Erreichbarkeit mit dem Pkw‘. Noch weiter zurück fallen dann Kriterien wie die Oberflächenqualität der Wege und die Informations­ und Übersichtstafeln“ und natürlich das “Wegeleitsystem“. Die Oberfläche des Wegs sollte auch nach meiner Meinung so naturbelassen wie möglich sein.

Im Vordergrund kleinere Bäume und Sträucher, dann der Nonnenmattweiher. Auf ihm schwimmt eine leicht bewachsene Moorschicht.
Eine Wanderung zum Nonnenmattweiher im Biosphärengebiet Schwarzwald hat seine besonderen Reize, denn auf dem Wasser schwimmt eine Moorschicht. Der ursprüngliche Karsee, war im Mittelalter verlandet und zu einem Hochmoor geworden. Als er 1758 als Weiher für im Tal gelegene Mühlen aufgestaut wurde, löste sich ein Teil der Moorschicht vom Boden und trieb auf. Nach einem Dammbruch wurde 1934 das Wasser erneut und zwei Meter höher aufgestaut, und es zeigte sich das gleiche Phänomen: Durch Gärprozesse im Moor rissen wiederum Moorteile ab und bildeten eine auf dem Nonnenmattweiher treibende Insel. Der Nonnenmattweiher liegt in einem gleichnamigen Naturschutzgebiet auf der Gemarkung der Gemeinde Kleines Wiesental, und sein Name hat nichts mit einem Nonnenkloster zu tun – wie lange fälschlicherweise angenommen wurde, sondern geht auf die dort früher zur Mast weidenden Rinder, sogenannte Nonnen, zurück. (Bild: Ulsamer)

Ganz gerne habe ich auch hin und wieder von einem höhergelegenen Wanderweg aus einen guten Blick ins Tal oder in die Weite, auf Burgen, Klöster, Gemeinden oder auch Agrarflächen. Nicht selten wird dies bei Wegen versprochen, doch der Text wurde nie aktualisiert und die Bäume sind inzwischen eine durchgehende Sichtschutzwand. Bei aller Liebe für den Wald, an manchen Stellen sollte der Wanderer auch noch den Blick ins Tal oder auf den gegenüberliegenden Bergfried genießen können.

Take your litter home

Von zentraler Bedeutung ist es für mich aber auch, dass der Wanderweg nicht von Hinterlassenschaften der Vorgänger verunziert ist. Leider finden sich auch in abgelegenen Regionen bereits hinter nahezu jedem Baum eine leere Plastikflasche, in einer Spalte im Gestein eine hineingequetschte Bierdose und in Bächen und Seen Einwegverpackungen aus Kunststoff. Das gestiegene Umweltbewusstsein, das auch zur Sehnsucht nach dem Erleben in der Natur beiträgt, hat sich bedauerlicherweise noch nicht bei allen Zeitgenossen niedergeschlagen. Für mich ist dies aber auch eine Frage der Erziehung, die wieder offensiver angegangen werden muss. Häufig sind die Erwachsenen ihren Kindern, Schülern oder jungen Gruppenteilnehmern ein schlechtes Vorbild. Natur und Umwelt werden aber nicht nur im Großen verschandelt, sondern auch durch die kleinen Untaten. Wer durch die Natur wandert, der sollte die leergefutterten Verpackungen und ausgetrunkenen Flaschen und Dosen auch wieder mit nach Hause nehmen: „Take your litter home!“, wie wir bereits vor Jahren an einem englischen Parkplatz amüsiert lesen konnten. Und Zigarettenstummel gehören weder in den Wald noch an den Strand.

Die Mehrheit der Wanderer hält es mit dem Grundsatz, wenn gewandert wird, dann wird ‚marschiert‘. Nur etwas mehr als ein Fünftel verbindet Wanderungen gerne mit der Besichtigung kultureller Einrichtungen oder historischer Orte bzw. einem Besuch in einem Nationalpark- oder Biosphärenzentrum. Zu dieser Minderheit zähle ich mich gerne, denn diese ergänzenden Eindrücke halte ich für durchaus wichtig und weiterführend. Letztendlich wird jeder für sich selbst entscheiden, was eine ‘Genußwanderung’ für ihn ausmacht. Zu schauen und zu staunen gibt es allemal viel, und Natur und Kultur bieten auch Ansatzpunkte, um noch etwas dazu zu lernen. Hier nochmals eine Goethe’sche Einsicht: „Was ich nicht erlernt habe, das habe ich erwandert.“ Auch mit unseren Kindern und Enkelkindern haben wir den Eindruck gewonnen, dass das Wandern in der Natur mit dem einen oder anderen Abstecher zu einer Burg, in ein Nationalpark-Zentrum, zu einem Wildgehege und natürlich auch an einen Bach oder See der Wanderbegeisterung noch zusätzlichen Schub verleiht.

Zahlreiche Gäste sitzen auf der Sulzlalm beim Vesper.
Wenn es bei einer Wanderung steil nach oben geht, dann hat es auch etwas, sich schon auf dem Weg auf eine deftige Brotzeit freuen zu können. Die Sulzlalm auf 1466 Meter Höhe in Tirol ist hier immer eine gute Adresse. Ein besonderes Highlight auch für Kinder sind die insgesamt 400 Meter langen Tunnel, die von den Almbauern selbst in den Fels getrieben wurden, um ihr Vieh auf die hochgelegenen Almwiesen treiben zu können. (Bild: Ulsamer)

Auch Asphalt-Wandern bringt neue Eindrücke

Ein Schattendasein führt in vielen Veröffentlichungen zum Wandern der städtische Bereich, doch dies halte ich für falsch. Statt über die richtige Definition für das Wandern – Länge der Strecke und zeitlicher Umfang – zu debattieren, sollte auch das Stadtwandern zu seinem Recht kommen. Trotz moderner Verkehrssysteme, die gerade in Städten auch mal zur Abkürzung dienen können, erlebt man doch Straßen und Plätze, Häuser und Parks ganz anders, wenn man sie sich gewissermaßen zu Fuß ‚erarbeitet‘. Manchmal bedauere ich Mitmenschen sogar, die im Doppeldeckerbus der Tourismusveranstalter schnell, schnell durch die Straßen chauffiert und dabei im Sekundentakt mit Informationen überhäuft werden. Sie bekommen zwar keine Blasen an die Füße, doch sicherlich schmerzen dann am Ende des Tages die Ohren.

Zwar ziehe ich auch Naturpfade dem Asphalt vor, doch viele Details erschließen sich in kleineren Gemeinden oder Städten nur, wenn man zu Fuß unterwegs ist. So sollte bei einer Stadt, die wie Stuttgart im Talkessel liegt, zumindest die eine oder andere Höhe über die zahlreichen Treppen erwandert werden. Wer in Berlin den noch vorhandenen Mauerteilen folgt – sei es an der East Side Gallery oder an der Bernauer Straße -, der erspürt zumindest noch ein Bisschen die trennende Wirkung dieses sozialistischen Monstrums. In vielen Städten, aber auch kleineren Gemeinden haben wir historische und kulturelle Orte gefunden, die in Reiseführern meist gar nicht erwähnt wurden. Also auch in Städten lohnt es sich durchaus – mit dem richtigen Schuhwerk ausgestattet! – loszuziehen.

Gäste sitzen auf unterschiedlichen Sesseln und anderen Sitzgelegenheiten. Die Farbe grün dominiert. Im Hintergrund ein Blick auf Lissabon.
So schön eine Städtetour mit dem Sightseeing-Doppeldecker auch sein mag, viele historische Gebäude in engen Gassen kann man sich nur erwandern. Und dann findet man auch – wie hier in Portugals Hauptstadt Lissabon – das eine oder andere alternative Café. (Bild: Ulsamer)

Die mediale „Wanderlust“

Auch wenn Radfahrern – sei es mit dem Mountainbike oder dem Rennrad – und Joggern die Zukunft zu gehören scheint, so sind Wanderer doch eine gewaltige Marktmacht. Von der Ausrüstung angefangen, die bei so manchem auch für eine Polarexpedition ausreichen dürfte, über Verpflegung vor Ort und Übernachtungen in der Jugendherberge, dem Heustadel oder im Luxushotel oder ganze Wanderreisen – hier werden alleine in Deutschland Milliarden bewegt.

Aber auch in Kunst und Kultur hat das Wandern seinen Stellenwert.

Werbeplakat der Ausstellung 'Wanderlust' an der Fassade der Alten Nationalgalerie aus rötlichem Stein. Das Bild ist an angelehnt an „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich.
„Wanderlust”, so der Titel einer eindrucksvollen Ausstellung in der Alten Nationalgalerie in Berlin, die mit Gemälden von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir aufzeigt, in welch umfassender Weise das Wandern Maler inspiriert hat. (Bild: Ulsamer)

Bei unserem jüngsten Besuch in Berlin, der so manchen Kilometer zu Fuß umfasste, haben wir auch in der Alten Nationalgalerie vorbeigeschaut. „Wanderlust“, so der vielversprechende Titel einer umfassenden Ausstellung von Gemälden, die im engeren oder weiteren Sinne das Wandern zum Inhalt haben. Von „Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir“, so lautet der Untertitel der sehr eindrucksvollen Präsentation, die zeigt, in welch umfassender Weise das Wandern Maler inspiriert hat. Seit der Romantik machten sich zunehmend Künstler zu Fuß auf in die Natur, gerade auch die Berge hatten es ihnen angetan. Ein Musterbeispiel ist „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich. Nicht nur die Sehnsucht nach der Natur lässt sich aus den Bildern herauslesen, sondern sie zeigen auch gesellschaftliche Wandlungsprozesse auf: Die „Bergsteigerin“ von Jens Ferdinand Willumsen aus dem Jahr 1912 ist ein Sinnbild für die Emanzipation der Frau. Bis Mitte September 2018 ist die Ausstellung noch zu sehen und allemal einen Abstecher wert.

Nun kann man in der Alten Nationalgalerie selbstredend kein „Picknick mit Bären“ veranstalten, doch der Film mit dem gleichlautenden Titel schildert den Wunsch zweier älterer ‚Ex‘-Wanderer, nochmals auf Tour zu gehen – und wieder zu sich selbst zu finden. Und sie suchen sich ausgerechnet den 3524 Kilometer langen Appalachian Trail aus, der durch 14 US-Bundesstaaten führt. Robert Redford und Nick Nolte schaffen es zwar kilometermäßig nicht ans Ziel, aber sie beweisen sich, dass noch etwas geht! Alleine die stimmungsvollen Landschaftsbilder, aber auch die Wanderlust der beiden Protagonisten machen nicht nur Freude am heimischen Fernseher, sondern regen auch dazu an, den Rucksack zu packen und loszuwandern.

Die Schauspieler Robert Redford und Nick Nolte während ihrer Film-Wanderung auf einer Felsnase.
Wer Robert Redford und Nick Nolte auf den 3524 Kilometer langen Appalachian Trail begleiten möchte, der durch 14 US-Bundesstaaten führt, sollte sich unbedingt ‚Picknick mit Bären‘ – Originaltitel ‚A Walk in the Woods‘ – anschauen. Die beiden aus der Übung gekommenen Wanderer schlagen sich mit der Natur und dem Alter herum, und dies auf eine äußerst vergnügliche Art, doch auch tiefere Lebensweisheiten kommen nicht kurz. (Bild: Alamode Film).

Singen ist nicht meine Stärke, doch zahlreiche Wanderer sind seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit „Wandern ist des Müllers Lust“ durch Täler und auf Berge gezogen. Geschrieben hatte das Gedicht, aus dem der Liedtitel „Das Wandern ist des Müllers Lust“ entstammt, Wilhelm Müller bereits 1821, doch hier geht es nicht in erster Linie um die Freizeitwanderer, sondern um die wandernden Handwerksgesellen. Vertont haben das Gedicht unter anderen Franz Schubert und Otto Nicolai, doch erst 1844 kam mit dem vierstimmigen Chorsatz für Männerchöre von Carl Friedrich Zöllner der Durchbruch: eines der populärsten Volkslieder war entstanden.

Ein Zeichen für die mediale Wanderlust sind auch die zahlreichen Dokumentationen zu Land und Leuten, die in den unterschiedlichsten Medien den Wunsch wecken sollen, sich auf den Weg zu machen.

Im Bild der völlig vereiste Uracher Wasserfall am Rande der Schwäbischen Alb - ein seltenes Naturereignis.
Wandern im Winter hat seinen besonderen Reiz. Zumeist ist man auch einsamer als im Sommer, es sei denn man konkurriert mit Skilangläufern. Nach einem Blick auf den vereisten Uracher Wasserfall auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg freut man sich am Ende der Wanderung auch auf ein warmes Plätzchen in einer warmen Gaststube. Sollte der Klimawandel weiter voranschreiten, dann werden solche Erlebnisse in Mitteleuropa eher seltener. (Bild: Ulsamer)

Der Weg ist das Ziel

Für mich kommt es beim Wandern eigentlich nicht auf die hohe Zahl der zurückgelegten Kilometer oder ein zackiges Tempo an, sondern auf die Eindrücke, die sich mit dem Wandern verbinden. „Der Weg ist das Ziel“ soll Konfuzius geschrieben haben, und dabei hat er vor rd. 2500 Jahren natürlich nicht an uns Freizeitwanderer gedacht, doch im übertragenen Sinne passt sein Zitat wunderbar. Die unscheinbaren Käfer und Ameisen am Wegesrand, der Schmetterling und die Hummel an einer farbenfrohen Blüte, dies alles sieht man am besten beim Wandern. Und man kann sogar den kleinen Mitlebewesen auf dem Weg noch ausweichen und ihnen so das Leben retten. Ist ein Berggipfel – oder auch nur ein besserer Hügel – erreicht, trifft man auf einer Burgruine ein oder kann die Füße in einem klaren Bach erfrischen, dann sind dies beglückende Momente. Und für einen kurzen Augenblick sind die politischen Probleme dieser Welt aus den Gedanken verdrängt. Aber die nächste weggeworfene Plastikflasche bringt mich dann leider immer sehr schnell wieder in die nicht ganz so erbauliche umweltpolitische Tagesrealität zurück.

Eine Wandererin mit einer roten Jacke und Wanderstöcken in der Hand klettert über eine Pbersteighilfe aus grünem Metall. Im Hintergrund eine frühere Filmkulisse.
Der Infrastruktur kommt bei Wanderungen eine große Bedeutung zu, und dies gilt auch für Übersteighilfen in Weidebereichen. Das zerfallende Gebäude im Hintergrund spielte in ‘Ryan’s Daughter’ mit Robert Mitchum and Sarah Miles eine zentrale Rolle als Schule des fiktiven irischen Ortes Kirrary. Dort und in der malerischen Umgebung entspann sich die tragische Liebesgeschichte einer irischen jungen Frau, die 1916 eine Affäre mit einem britischen Offizier hat und dies in einem nationalistisch-irischen Umfeld, das keine Sympathien für den als Besatzer empfundenen britischen Offizier hatte. Und die Begeisterung des Ehemanns hielt sich natürlich auch in Grenzen. Der Regisseur David Lean drehte u.a. auch die ‚Die Brücke am Kwai‘, ‚Lawrence von Arabien‘ und ‚Doktor Schiwago‘. Das Grundstück mit der Filmkulisse hatte der Gründer von Ryanair – der inzwischen verstorbene Tony Ryan – in den 1980er Jahren erworben – und leider dem Verfall überlassen. ‚Ryan‘s Daughter‘ ist nicht vergessen, dies beweisen bis heute die zahlreichen Besucher, und ganz in der Nähe haben die ‚Star Wars‘-Fans eines ihrer Epizentren. Irland und Nordirland investieren nicht wenig Geld in die Filmförderung, um so für ihre touristischen Ziele zu werben. (Bild: Ulsamer)

Die Gesundheitsaspekte habe ich zwar auch im Blick, aber Wandern nur wegen der Bewegung und der Gesundheit wäre mir zu wenig. Das Wandern muss für mich auch Spaß und Freude machen, und daher suche ich auch den schönen Ausblick, den Weg in der Natur, sei es im Wald oder am Meer, auf Almwiesen oder an einem See, auf Bergen oder in Flusstälern, in einsamen Regionen und selbst in betriebsamen Großstädten. Gerade in Zeiten, in denen vielen von uns die Bewegung während der Arbeit fehlt und wir vielleicht auch zu viele Stunden vor irgendeinem Bildschirm sitzen, da bietet sich das Wandern als Ausgleich an: Die Investitionen in ordentliches Schuhwerk, in auch mal wetterfeste Kleidung und vielleicht einen Rucksack sind überschaubar, aber der Output an neuen Eindrücken in der Stadt oder auf dem Land und die zahlreichen kleinen Dinge am Wegesrand sind unschätzbar wichtig. Damit kann ich nur sagen: Jetzt die Stiefel geschnürt und auf zu einer neuen Wandertour.

Die Stiefel an den Füßen von zwei Wanderern vor Heidekraut.

Danke, dass Sie vorher noch meinen Blog-Beitrag gelesen haben.

 

 

Ein Bohlenweg führt zum Lotharpfad im Schwarzwald. Links das Schild "Lotharpfad", im Hintergrund Bäume und Sträucher, die nach dem Orkan wieder hochgewachsen sind.
In den letzten Jahren wurden die Bemühungen verstärkt, Wanderwege – wo immer möglich – auch barrierefrei auszubauen. Für Menschen mit Beeinträchtigungen, aber auch für jede Familie mit Kinderwagen erschließen sich so neue ‚Welten‘. Die demografische Entwicklung trägt in Deutschland auch dazu bei, dass mit zunehmendem Alter auch mehr Bürgerinnen und Bürger auf barrierefreie Wege angewiesen sind. Auf dem Foto wird gerade der Lotharpfad an der Schwarzwaldhochstraße in diesem Sinne erweitert. Der Lotharpfad wurde nicht dem Autor dieses Beitrags gewidmet, sondern erinnert an den gleichnamigen Orkan, der am 26. Dezember 1999 über den Schwarzwald hinwegfegte. Auf dem Feldberg erreichte er Windgeschwindigkeiten von deutlich über 200 Stundenkilometern und hinterließ in den Wäldern des Landes 30 Millionen m³ Sturmholz und 40.000 Hektar Kahlfläche. Noch heute lässt der Pfad die Verwüstungen erkennen, die der Orkan mit sich brachte, doch in geradezu unglaublicher Weise hat sich die Natur selbst regeneriert. (Bild: Ulsamer)

 

Eine weiße Segeljacht liegt gestrandet auf dem Strand.
Eine Wanderung an einem Strand ist immer abwechslungsreich, und es gibt viel zu entdecken. Kilometerlange Sandstrände laden an der Brandon Bay im Südwesten Kerrys zu Wanderungen ein. Doch dieses Mal lagen am Strand nicht nur die Überreste von Großen Seespinnen, deren Inhalt schon den Möwen geschmeckt hatte, oder die Kadaver von zwei Delfinen, sondern auch ein gänzlich anderer Gast: Die Illumia 12. Hier einige Zeilen mehr zu diesem Boot, denn es hat auch eine lange ‚Wanderung‘ hinter sich. Im Mai 2017 startete mit dieser modernen Jacht der italienische Skipper Michelle Zambelli zur ‚Original Single-handed Transatlantic Race‘ (OSTAR), doch kurz vor dem Ziel, 630 Kilometer vor dem kanadischen Neufundland, kam das jähe Ende: Zambelli rammte mit seinem Boot einen unbekannten Gegenstand, und der Kiel wurde abgerissen. Die Royal Canadian Air Force rettete den Schiffbrüchigen mit einem Helikopter. Doch die Reise der Illumia war noch nicht zu Ende: Sie machte sich gewissermaßen selbstständig auf den Rückweg, denn losgesegelt war Zambelli im englischen Southampton, und die Illumia strandete nach 3 000 km in Irland. Laut Medienberichten will Zambelli die Illumia nach Hause zurückholen. Hoffentlich lässt er sich nicht zu viel Zeit, denn der Zustand ist schon jetzt nicht sehr vielversprechend. Ansonsten könnte sie leicht im Sand enden wie so mancher alte Anhänger, dessen Zerfall wir in den letzten zwanzig Jahren beobachten konnten. (Bild: Ulsamer)

 

Bänke und Tische laden zum Picknick ein. Im Vordergrund HInweisschilder für die Wanderwege.
Trotz aller Smartphones, gedruckter und digitaler Wanderkarten, GPS-Daten und Navis spielt die Auszeichnung von Wanderwegen weiterhin eine große Rolle – wie hier im Thüringer Wald. (Bild: Ulsamer)

 

Auf einer beigen Informationstefel werden Informationen zu einem Hochmoor vermittelt.
Wenn wir wandern, dann informieren wir uns vorab über die interessanten Highlights am Weg, seien es historische Gebäude oder ihre Überbleibsel, Natur- und Industriedenkmäler, Höhlen etc., aber auch vor Ort sind wir für ergänzende Hinweise dankbar – wie hier zu einem Hochmoor im Nationalpark Bayerischer Wald. In vielen Regionen sollten verstärkt kultur-historische Info-Tafeln errichtet werden, denn noch immer gilt der Grundsatz ‚Was man nicht weiß, das sieht man auch nicht‘. (Bild: Ulsamer)

 

Blick auf Quedlinburgs historischen Kern.
Historische Orte lassen sich zumeist am besten zu Fuß erkunden, und schnell wird aus einem Rundgang einschließlich eines Museums oder einer Galerie – wie hier in der UNESCO-Welterbe-Stadt Quedlinburg in Sachsen-Anhalt – eine mehrstündige Wanderung oder Stadtexkursion. (Bild: Ulsamer)

 

Anzeige von Donaubergland Tourismus: Im Bild der Höwenegg und ein kleines Foto des Autors dieses Blog-Beitrags.
Wer Gäste anziehen möchte, der muss mit der Zeit gehen, und so hat ‚Donaubergland Tourismus‘ fünf Premiumwanderwege unter der vielversprechenden Marke ‚DonauWellen‘ kreiert – unterstützt durch Wegepatenschaften. Einer der Premium-Wege mit dem ‚Deutschen Wandersiegel‘ führt an der Donauversinkung und dem Höwenegg, einem Vulkan vorbei, der dank eines früheren Steinbruchs heute einen grünlich schillernden See zu bieten hat. (Bild: Donaubergland Tourismus und Marketing GmbH/Gränzbote)