Brexit: Zwei Anti-Europäer auf Kompromisssuche

May und Corbyn müssen die Blockade überwinden

Seit ihrem Einzug in 10 Downing Street führt Theresa May einen immer einsameren Kampf, um einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union mit einem Vertrag zu ermöglichen. Viel zu lange hat sie engstirnig und verbiestert jegliche parteiübergreifende Lösung abgelehnt und wollte gar ihre politischen Entscheidungen am britischen Parlament vorbei durchdrücken. Nun hat die Premierministerin das gesamte politische Porzellan zerschlagen und will den Labour-Parteichef Jeremy Corbyn gewinnen, mit ihr gemeinsam die Scherben wieder zu kitten. Ob dies gelingt, wird sich noch zeigen. Ich bin optimistisch, obwohl ausgerechnet zwei Anti-Europäer sich ans Werk gemacht haben, eine mehrheitsfähige Lösung im heillos zerstrittenen Unterhaus zu finden. Das bisherige Chaos ist nicht nur Theresa May geschuldet, sondern auch einem Kern an hard Brexiteers in der Conservative and Unionist Party, die mit aller Macht für eine totale Trennung von der EU streiten und dabei auch vor Anleihen im nationalistischen und rechtsextremen Gedankengut nicht zurückschrecken.

Ein großes Foto auf der Twitter-Seite von Chuka Umunna mit einem Transparent 'We demand a vote on the final Brexit deal'. Daneben ein Bild von Chuka Umunna.
Über die lautstarken hard Brexiteers, die auch auf großes mediales Interesse treffen, dürfen wir die Abgeordneten des Unterhauses nicht vergessen, die sich für Europa und ein zweites Referendum einsetzen. Zu ihnen gehören auch die Mitstreiter der ‚The Independent Group‘, die sich aus früheren Abgeordneten der Labour Party und der Konservativen zusammensetzt, die gerade auch wegen des antieuropäischen Kurses in Teilen ihrer Parteien die Fraktionen verlassen haben. Zu ihnen gehören u.a. Chuka Umunna, früherer Schattenminister der Labour Party, der ein zweites Referendum fordert, aber auch Anna Soubry, ehemals Conservative Party, die immer wieder erfrischend in die Parlamentsdiskussionen eingreift. (Bild: Screenshot, phoenix.de, 4.4.19)

Brexiteers mit verquerem Weltbild

Von außen betrachtet kann man zunehmend nur den Kopf schütteln, wenn die unterschiedlichen Gruppen im britischen Parlament die Klingen kreuzen. Zum Glück gibt es noch die Linien auf dem Boden, die im traditionsreichen Unterhaus früher die streitenden Parlamentarier auf Schwertlänge auseinanderhielten. Aber Scherz beiseite: Die Differenzen sind inzwischen nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der Konservativen und Labour so groß, dass es immer schwieriger wird, sachgerechte Entscheidungen vorzubereiten. Da kommen bei manchen reaktionären Tory-Vertretern die gesammelten Vorurteile gegenüber dem ‚Kontinent‘ hoch – und besonders gerät dabei Deutschland ins Visier.

Der Ex-Außenminister Boris Johnson vergleicht schon mal gerne die EU mit Adolf Hitler, und nicht nur er sieht das Vereinigte Königreich zu einem Vasallenstaat degradiert oder als Kolonie der EU. Sir Bill Cash meinte im Parlament, nachdem er einen Gesetzentwurf von Yvette Cooper als Müll bezeichnet hatte, „it’s a German Europe“, und Britannien habe doch den Kontinent in zwei Weltkriegen gerettet – natürlich vor uns Deutschen. Aber nicht nur bei den genannten konservativen Politikern sitzen die Vorurteile gegenüber dem heutigen Deutschland und der EU tief. Diese Weltsicht verdeckt bei manchen Abgeordneten den Blick auf das Europa unserer Tage und sie zieht es eher wieder zurück in die imperialen Tage als Britannien die Welt – oder zumindest große Teile davon – regierte. Wer solche Parteifreunde hat, der braucht eigentlich keine politischen Gegner mehr aus anderen Parteien.

Sir Bill Cash mit blauem Sakko und gelber Krawatte in einer Unterhaussitzung.
Zwar ist der konservative Abgeordnete Sir Bill Cash außerhalb seines Heimatlandes nicht so bekannt wie die hard Brexiteers Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg, doch er übertrifft sie noch in ihrer Ablehnung der EU, denn er formulierte „it’s a German Europe”, und dabei habe Britannien doch den Kontinent in zwei Weltkriegen gerettet – natürlich vor uns Deutschen. Und als der Airbus-Chef Tom Enders bei einem (ungeordneten) Brexit Gefahren für weitere Investitionen seines Unternehmens in Großbritannien sichtete, da bekam er von einem weiteren Konservativen, Mark Francois, die Leviten gelesen: „My father, Reginald Francois, was a D-Day veteran. He never submitted to bullying by any German and neither will his son”. Bei solchen Parteifreunden hat Theresa May wenig zu lachen. (Bild: Screenshot, Twitter, 5.4.19)

The winner takes it all

Das Mutterland der Demokratie, wie sich das Vereinigte Königreich gerne sieht, hat durch das Mehrheitswahlsystem zumeist stabile Verhältnisse in London geschaffen, wobei im Regelfall knapp 40 % der abgegebenen Stimmen zur Regierungsbildung genügen. Das Finden eines Kompromisses zwischen verschiedenen Parteien gehört daher auch nicht zu den Stärken des politischen Systems. Um es mit Abba zu sagen: „The winner takes it all
The loser standing small“. So fallen die Anliegen gerade der kleineren Parteien meist unter den Tisch, da sie – wie die Grünen oder die Liberalen – nur wenige Wahlkreise erobern. Aber auch die Konservativen oder Labour brauchten im Regelfall keine Rücksicht auf die jeweilige Gegenseite im Parlament zu nehmen, konnten sie doch ihre Vorstellungen ungeschmälert durchsetzen.

Diese ideale Ausgangssituation hatte Theresa May mit den von ihr vorgezogenen Neuwahlen leichtfertig verspielt: Mit einer Mehrheit nach dem Brexit-Referendum und dem Abgang David Camerons gestartet, war sie nach dem Urnengang auf die Unterstützung der Democratic Unionist Party (DUP) angewiesen. Diese wichtigste nationalistische Vertretung der Protestanten in Nordirland wurde umgehend zum Hemmschuh bei allen Verhandlungen mit der EU, denn die DUP wittert all überall den heimtückischen Versuch, Nordirland vom Mutterland England abzuschneiden. Somit war auch klar, dass die DUP trotz der Subventionsgeschenke von Theresa May für das wirtschaftlich schwächelnde Nordirland nicht bereit sein würde, den Backstop zu akzeptieren.

Panzersperren aus Beton blockieren eine Straße.
Die Straßen zwischen Nordirland und der Republik Irland dürfen nicht wieder so aussehen – wie während der ‚Troubles‘! Panzersperren statt freier Durchfahrt! Für die hard Brexiteers spielt es keine Rolle, wenn in Nordirland der blutige Konflikt wieder aufflammt, und daher agitieren sie gegen eine Sonderregelung für Nordirland beim Brexit-Deal. Auch die Democratic Unionist Party (DUP), die Mays Regierung stützt, lehnt eine sogenannte Backstop-Regelung vehement ab. Doch es muss alles politisch Mögliche getan werden, um eine harte Grenze zu verhindern. (Bild: Ulsamer)

‚Brexit means Brexit‘

Der Backstop als Teil des Brexit-Abkommens soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern: Eine Grenze mit Kontrollen könnte im nördlichen Teil der irischen Insel den blutigen Konflikt wieder aufflammen lassen. Viele Katholiken würden eine solche Abtrennung von der Republik Irland nicht akzeptieren, und dies würde wiederum extremistischen Gruppen Auftrieb verleihen, die seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 weitgehend befriedet werden konnten. Derzeit nimmt jedoch bereits die Zahl der politisch motivierten Gewalttaten wieder zu. Aus meiner Sicht ist der Backstop jedoch nur eine Art Versicherung, denn dieser würde erst nach der Übergangsfrist greifen, wenn bis dahin kein Freihandelsabkommen mit der EU erreicht werden sollte. Alle Seiten dürften jedoch hohes Interesse daran haben, den Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU der dann 27 Staaten nicht zu gefährden. Nur im unwahrscheinlichen Fall einer Nichteinigung würde das Vereinigte Königreich in der Zollunion verbleiben und Nordirland sich zusätzlich den Regeln des EU-Binnenmarkts unterwerfen.

Und so kam es wie es kommen musste: Die DUP sah finstere EU-Mächte am Werk und tat sich mit den nationalistischen hard Brexiteers in der Conservative Party zusammen. So stand die britische Premierministerin nach Abschluss der Brexit-Verhandlungen ohne Mehrheit im britischen Unterhaus da. Trotz des sich abzeichnenden Desasters hielt Premierministerin May Kurs, obwohl dieser geradewegs auf die Klippen führte. Es gibt sicherlich wenige demokratisch gewählte PolitikerInnen, die wie Theresa May eisern und ohne Rücksicht auf Verluste eine Politik durchsetzen wollen, ohne sich rechtzeitig nach Bündnispartnern umzusehen. Als sie den über sein eigenes Brexit-Referendum gestolperten Premierminister David Cameron ablöste, unterstrich sie: „As prime minister, I will make sure we will leave the European Union.“ Und diesem Grundsatz blieb sie treu und wiederholte geradezu gebetsmühlenartig ‚Brexit means Brexit‘, ‚deliver Brexit‘, und verband das alles mit der Zusage „Britain’s future is bright“. Und bei diesem Gang ins Helle, in eine großartige Zukunft – „brighter future“ – da war nicht nur ihr, sondern gerade auch den hard Brexiteers, die EU nur im Wege.

Anna Soubry spricht im Unterhaus. Blonde Haare, leicht blaues Sakko
Wenn man die Berichte in Tageszeitungen über die Brexit-Debatten im britischen Unterhaus liest oder die notgedrungen verkürzten TV-Nachrichten sieht, dann möchte man manchmal beinahe verzweifeln. Wenn ich dank Phoenix die Debatten auch über Stunden und Tage verfolgen kann, dann atme ich wieder etwas auf: Es gibt auch die Stimmen, die zu einer Koalition der Vernunft aufrufen. Zu ihnen gehört die frühere Abgeordnete der Konservativen Anna Soubry, die seit Februar 2019 der ‚The Independent Group‘ angehört. Mag der common sense bei manchen ihrer Kollegen auch abhandengekommen sein, so zeichnet dieser Anna Soubry auf alle Fälle aus. (Bild: Screenshot, phoenix.de, 4.4.19)

Der common sense ging verloren

Ausgerechnet im selbsternannten Mutterland der parlamentarischen Demokratie versuchte Theresa May immer wieder, den Brexit am Parlament vorbei umzusetzen. So legte sie kritische Berichte zu den Auswirkungen des Brexits nur nach dringlicher Aufforderung durch das Parlament vor. Und anfänglich bandelte Theresa May sogar mit dem Tudorkönig Heinrich VIII. an. Wegen ihm hatten im 16. Jahrhundert schon zwei Frauen zu dessen Lebzeiten den Kopf verloren und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Dennoch suchte May bei ihm geistige Schützenhilfe, um EU-Gesetze notfalls ohne Zustimmung des Parlaments in britisches Recht umsetzen zu können. Als sie die Great Repeal Bill ins Londoner Unterhaus einbrachte, verwies sie auf die umfängliche Arbeit, die zu leisten sei, um rund 20 000 Gesetze und Verordnungen ins englische Recht zu überführen oder zu ändern. Und dabei schimmerte der Gedanke durch, sich auf das ‚Statute of Proclamations‘ aus dem Jahre 1539 zu berufen. Damals half es Heinrich VIII., vier seiner Ehefrauen loszuwerden und zwei weitere enthaupten zu lassen. Bei der Wahl ihrer Mittel war Theresa May nie zimperlich, aber die Rechte des Parlaments mit einer fast 500jährigen ‚Proclamation‘ auszuhebeln, das grenzte an Unverfrorenheit. Erst durch Gerichtsbeschluss wurde Mays Irrweg gestoppt. Das Parlament hatte allzu lange hilflos dem Treiben der Premierministerin zugesehen.

Premierministerin May hat jedoch weiterhin beständig den Einfluss des Parlaments möglichst klein gehalten und damit die Chance verspielt, früh Partner auch auf der Oppositionsseite für ihren Brexit-Deal zu gewinnen. Als Vorsitzende der Conservative and Unionist Party ist es zwar verständlich, dass sie eine Spaltung der eigenen Reihen vermeiden wollte, doch als Premierministerin müsste sie sich doch dem Wohle des gesamten Landes verantwortlich fühlen. Dieser Gedanke scheint ihr aber nicht gekommen zu sein, stattdessen ratterte sie auf jedwede kritische Frage im Unterhaus immer die gleichen Antworten herunter. Wenn man dank Phoenix über Stunden und Tage den Debatten folgen kann, dann nimmt man an einem bizarren Schauspiel teil: Der sprichwörtliche britische common sense ist zumindest in weiten Teilen des Parlaments verschwunden, und der gesunde Menschenverstand fiel einem harten und auch sehr persönlichen Schlagabtausch zwischen den streitenden Parteien zum Opfer.

Blaue EU-Flagge mit gelben Sternen an einer Hauswand. Ein ebenfalls gemalter Handwerker ist dabei, einen Stern zu entfernen.
Noch wäre es an der Zeit, den Brexit zu stoppen, doch zumindest sollte ein Austritt mit vertraglicher Grundlage möglich sein. Die beste Lösung wäre natürlich ein 2. Referendum und der Verbleib unserer Nachbarn aus England, Schottland, Wales und Nordirland in der Europäischen Union. Banksy rückt mit seinem Street-Art-Kunstwerk im englischen Fährhafen Dover den Brexit auf unnachahmliche Art und Weise in den Mittelpunkt. Wer meißelt da wohl gerade einen Stern aus der EU-Fahne heraus? Ist Theresa May in Dover auf die Leiter gestiegen oder ist dies Boris Johnson, der Unruhestifter und Ex-Außenminister? (Bild: Ulsamer)

HMS Britannia in schwerer See

Folgen wir dem bisherigen Weg Theresa Mays, dann wird deutlich, dass sie zwar gerne von ihrer Gesprächsbereitschaft redet, jedoch keinen echten Dialog zu führen vermag. Dies sind natürlich schlechte Voraussetzungen für die Suche nach einem Kompromiss gemeinsam mit Jeremy Corbyn. Besonders schwierig sind diese Diskussionen, da weder Theresa May noch Jeremy Corbyn Befürworter der EU sind. May hatte sich zwar kaum vernehmbar für die ‚Remain‘-Kampagne engagiert, doch in Wahrheit waren ihr bereits als Innenministerin die Migranten aus anderen EU-Staaten ein Dorn im Auge. Corbyn sieht in der EU einen Club der Kapitalisten und würde als Sozialist gerne mal wieder die Bahn und verbliebene Industrieunternehmen verstaatlichen. Zwar ist seine Partei mehrheitlich für den Verbleib in der EU-Zollunion, doch dies macht aus Jeremy Corbyn noch keinen Pro-Europäer. Er setzte zu lange darauf, Theresa May stürzen und Neuwahlen durchsetzen zu können, denn sein Ziel war und ist das Amt des Premierministers. Der Europäischen Union kann Jeremy Corbyn nichts abgewinnen, und damit würde er zu den Brexiteers passen. Zumindest aber ist bei ihm die – sonst total ungewöhnliche – gemeinsame Kritik der Gewerkschaften und der Industrieverbände angekommen, die beständig vor einem No-Deal-Brexit warnen.

Grafik in verschiedenen Farben mit den Ergebnissen der Abstimmung.
Yvette Cooper von der Labour Party ist im britischen Parlament schon fast ein kleines Wunder gelungen: Sie erreichte für ihren Gesetzentwurf eine Mehrheit im Unterhaus. Cooper forderte die Regierung May auf, in Brüssel um eine Verlängerung für die innerbritischen Diskussionen zu bitten. Die Grafik zeigt zwar die beiden großen Lager Conservatives und Labour, doch auf beiden Seiten gibt es Abweichler. Die Scottish National Party, die walisische Nationalpartei Plaid Cymru, die Liberalen und die einzige Vertreterin der Grünen, Caroline Lucas, stimmten für Coopers Gesetzesentwurf ebenso wie die TIG, ‚The Independent Group‘, die sich aus Labour- und Conservative-Parlamentariern zusammensetzt, die den Kurs ihrer ursprünglichen Parteien nicht mehr mittragen wollten. Daneben gibt es bei beiden Lagern auch noch unabhängige Abgeordnete als Unterstützer. (Bild: Screenshot, bbc.com, 3.4.19)

Mögen die Umgangsformen im britischen Parlament auch nach außen hin noch respektvoll klingen, so z.B. ‚The (Right) Honourable lady‘ oder ‚My (Right) Honourable friend‘ – je nach Parteizugehörigkeit -, doch ansonsten herrscht ein deutlich verschärfter Ton. In früheren Jahren war ich immer von der schnellen Frage-Antwort-Diskussion der britischen Parlamentarier angetan, die so ganz vom gemächlichen Gehabe im Bundestag abweicht, doch es fehlt im Unterhaus noch mehr an Sachorientierung und Kompromissbereitschaft als in unserem Berliner Parlament. Im XXL-Bundestag oder im Bundesrat sind die PolitikerInnen – als Folge des Verhältniswahlrechts – weit häufiger zum Aushandeln einer Lösung über Parteigrenzen hinweg gezwungen. Und in der Krise zeigt sich, dass dies von Vorteil ist. Nur nebenbei bemerkt: Es gibt noch zwei Katzen, die die Anrede ‚The Right Honourable‘ führen, denn sie sorgen in 10 Downing Street für Mäusefreiheit – als ‚Chief Mouser to the Cabinet Office‘. Sicherlich wünscht sich Theresa May genau so ein probates Mittel gegen die Querulanten in der eigenen Partei.

Die Briten sehen sich ja gerne als Seefahrernation, da ist dann auch der Vergleich erlaubt: Das Schiff Ihrer Majestät Britannia ist zwar noch nicht leckgeschlagen, aber es hat in schwerer See Schräglage – und die Kapitänin macht einen mehr als hilflosen Eindruck.

Theresa May im Unterhaus. Sie verkündete 1 Mrd. Pfunf zusätzlich für die Polizei.
Theresa May schüttete immer wieder das Füllhorn mit allerlei freundlichen Gaben aus, um die Stimmung während der Brexit-Debatten zu heben – doch vergeblich. (Bild: Screenshot, Twitter, 30.3.19)

Verlängerung der Verlängerung

Diese Mischung aus Engstirnigkeit und Hilflosigkeit bei Theresa May zeigt sich in gleichem Maße bei ihren Verlängerungswünschen, die aus der Unfähigkeit zum Kompromiss resultieren. Im neuesten Brief an den EU-Ratspräsidenten, Donald Tusk, bittet die Premierministerin um mehr Zeit für die Konsensfindung im Vereinigten Königreich – und jetzt bis zum 30. Juni 2019. Sie zeigt nun auch die Bereitschaft, die Beteiligung an den Europawahlen vorzubereiten. Damit bringt sie nicht nur die restlichen EU-Staaten in eine schwierige Entscheidungsfindung, sondern sie treibt natürlich so die hard Brexiteers auf die nächste Palme, die nun befürchten, der Brexit würde nicht nur auf die lange Bank geschoben, sondern irgendwann vollends abgesagt.

Theresa May versucht mit dieser Bitte um Verlängerung auch einen Gesetzesvorstoß der Labour-Abgeordneten Yvette Cooper zu unterlaufen, in dem ohnehin eine Aufschiebung des Brexits für eine noch zu bestimmende Zeit gefordert wurde, um zumindest nicht ohne Deal auszuscheiden. Coopers Gesetzesentwurf fand im House of Commons eine Mehrheit und wurde im House of Lords debattiert. Zwar hatte der französische Präsident Emmanuel Macron sich bereits vorher kritisch über weitere Verzögerungen geäußert, doch Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte auch bei einem Besuch in Irland gegenüber Premierminister Leo Varadkar, sie wolle alles tun, um einen Austritt mit Vertrag zu sichern. Letzteres ist selbstverständlich die einzig richtige Lösung: Wer jetzt nicht alle Chancen auslotet, der trägt auch eine Mitschuld am Desaster – wenn es doch einen No-Deal-Brexit geben sollte. Hoffentlich drängelt Macron nicht nur deshalb, weil Frankreich 5 weitere Sitze im Europaparlament zukommen sollen, wenn die Briten nicht mehr dabei sind: Ich halte es ohnehin für einen Skandal, dass 27 der bisherigen 73 britischen Sitze auf 14 EU-Staaten verteilt wurden! Wenn ein Mitglied die EU verlassen sollte, dann müssen dessen Sitze ersatzlos wegfallen.

Petition mit dem Titel 'Revoke Article 50 and remain in the EU'.
Über sechs Millionen Briten haben sich bisher an einer Petition, die an das britische Parlament gerichtet ist, für eine Rücknahme des Austrittsantrags und den Verbleib in der EU eingesetzt. Dies ist ein deutlicher Beweis, dass Theresa May und die Brexiteers den Widerstand gegen den Brexit nicht weg reden können. (Bild: Screenshot, petition.parliament.uk, 5.4.19)

People’s vote – ein zweites Referendum

Zwar lehnte Theresa May bisher ein zweites Referendum über den Brexit ab, und zumindest darin sind sich nahezu alle Abgeordneten ihrer Partei und der DUP bisher einig gewesen, doch die Labour Party sowie die anderen Oppositionsparteien haben ein solches gefordert, gerade auch vor dem Hintergrund einer fehlenden Mehrheit für einen tragfähigen Brexit-Beschluss im Unterhaus. Ob Jeremy Corbyn sich in seinen Gesprächen mit Theresa May wirklich nachhaltig für ein 2. Referendum einsetzt, muss sich erst noch zeigen. Diese Forderung wird zwar mehrheitlich von der Labour Party getragen, doch er selbst hat das Anliegen bisher nur halbherzig vorgebracht.

Millionen Briten haben inzwischen für ein 2. Referendum demonstriert und sechs Millionen ihrer Landsleute eine Online-Petition unterzeichnet, die einen Verbleib in der EU fordert. Die Demonstranten und die Unterzeichner der Petition liegen nach meiner Meinung richtig, denn beim ersten Referendum bogen sich die Brexiteers die Wahrheit zurecht, leugneten alle negativen Folgen eines Austritts und zeichneten ein paradiesisches Bild der Zukunft ohne die EU. Jetzt liegt nicht nur der Austrittsvertrag auf dem Tisch, sondern auch die Folgen des Brexits lassen sich besser abschätzen. Somit ist es an der Zeit, die Bürgerschaft entscheiden zu lassen.

Premierministerin May und die Brexiteers betonen zwar unablässig, ein zweites Referendum würde den Willen des Volkes missachten oder man könne ja nicht abstimmen lassen, bis einem das Ergebnis passe. Doch ist diese Kritik wirklich tragfähig? Ich denke, nein! Beim Referendum 2016 lagen – wie bereits ausgeführt – den Wählern keine sachgerechten Informationen über die Folgen des Brexits vor, und so mancher wollte dabei nur der ungeliebten konservativen Regierung unter David Cameron einen Denkzettel verpassen. Und, man könnte sagen, Wahlen finden ja auch nicht nur einmal statt. Aber gewichtiger ist der Tatbestand, dass unter der Labour-Regierung von Harold Wilson 1974 ein Referendum zum Verbleib in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) stattfand, welcher das Vereinigte Königreich 1973 unter dem Konservativen Edward Heath beigetreten war. Zwar ist die EU eine politische Weiterentwicklung der EWG, doch wenn man dieses Referendum aus den 1970er Jahren mitzählt, bei dem sich 67 % der Wähler für den Verbleib entschieden, dann wäre das Referendum von 2016 auch schon Nr. 2 gewesen.

Nicht zu leugnen ist, dass sich für viele Briten zwar ein wirtschaftlicher Zusammenschluss der europäischen Staaten in ihre Vorstellungswelt einfügen lässt, einer immer weitergehenden politischen Vereinigung stehen sie jedoch skeptisch gegenüber. Und aus unseren Gesprächen wissen wir, dass gerade die ungeordnete Migration – als Folge der Freizügigkeit – für viele Briten ausschlaggebend für ihr Brexit-Votum war.

Yvette Cooper mit dunkelblonden Haaren und blauem Sakko.
Neben der Ablehnung eines No-Deal-Brexits gehört der Gesetzesvorstoß von Yvette Cooper zu den wenigen Initiativen, die eine Mehrheit im Unterhaus fanden. Sie forderte die Regierung auf, die EU um eine Fristverlängerung für die Brexit-Verhandlungen zu bitten. Inzwischen bequemte sich die Premierministerin den EU-Ratspräsidenten Donald Tusk um eine Ausdehnung der Ausstiegsfrist bis Ende Juni zu ersuchen. Für eine echte Lösung wird jedoch vermutlich mehr Zeit notwendig sein.  (Bild: Screenshot, phoenix.de, 3.4.19)

Die Tür offenhalten

Betrachtet man die Pattsituation im britischen Parlament, dann ist es verständlich, wenn viele andere Europäer nach einem schnellen Ende des Gezerres und nach einer Entscheidung rufen. Dennoch bin ich der Meinung, dass die EU alles tun sollte, um zu einem vertraglich geregelten Austritt zu gelangen. Und noch habe ich die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass die Briten ihren Brexit-Antrag zurückziehen. Wer jetzt vorschnell die Tür zuschlägt, der schadet nicht nur dem eigenen Land, sondern auch dem europäischen Gedanken. Selbst wenn das Vereinigte Königreich austreten sollte, so bleiben unsere Nachbarn wichtige Partner für uns. Wer aus der EU austritt, bleibt dennoch Europäer! Dies scheint allerdings nicht allen hard Brexiteers, die sich gerne in der imperialen Geschichte ihres Landes verfangen, ganz klar zu sein.

Das Vereinigte Königreich ist jedoch nicht nur unter wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Aspekten ein wichtiger Partner, sondern die Briten haben in der EU auch einen eher marktwirtschaftlichen und finanzpolitisch soliden Kurs gesteuert. Ohne die britischen Nachbarn werden sich die Gewichte in der EU eindeutig zu Gunsten von Partnern verlagern, die auf Institutionen und Staatseinfluss setzen wie Frankreich unter Emmanuel Macron oder auch Italien, das in seinen Staatshaushalten nicht gerade durch Solidität glänzt. Generell ist es immer ein Verlust, wenn eine Geber-Nation den Club verlässt und die Nehmer-Länder tendenziell noch zunehmen werden. Und jeder, der meint, die Briten sollten doch am besten aus der EU verschwinden, der sollte sich mal überlegen, wie der Länderfinanzausgleich in Deutschland in den letzten Jahren ohne Bayern ausgesehen hätte.

Ian Blackford mit grauen Haaren und roter Krawatte.
Die Schotten sprachen sich beim Brexit-Referendum mit 62 % für den Verbleib in der EU aus. Die halsstarrige Politik von Theresa May hat unter den Schotten den Wunsch nach Unabhängigkeit wieder aufleben lassen. Und Ian Blackford machte für die Scottish National Party (SNP) im britischen Unterhaus immer wieder deutlich, dass seine Partei den Brexit ablehnt, ein zweites Referendum zum Austritt fordert und ein unabhängiges Schottland anvisiert. (Bild: Screenshot, phoenix.de, 4.4.19)

Blockadehaltung fördert Zerfall

Wir alle können nur hoffen, dass sich auf der letzten Brexit-Entscheidungs-Etappe der common sense wieder durchsetzt und Theresa May und Jeremy Corbyn unter Einbeziehung der anderen Parteien einen Ausweg aus der von der Premierministerin verschuldeten Blockade finden. Sollte dies nicht geschehen, dann droht dem Vereinigten Königreich der Zerfall, den die Unionisten bei den Konservativen und der DUP gerade verhindern wollen. Das Unabhängigkeitsstreben in Schottland und der Wunsch vieler Nordiren nach einer Wiedervereinigung mit der Republik Irland erhalten Auftrieb und mehr Sprengkraft.

Die britischen Parteien müssen auch wieder zu einem sachorientierten und weniger feindseligen Diskurs zurückfinden oder diesen begründen: Derzeit werden nur Gräben aufgeworfen, die sich selbst durch Familien und Freundeskreise, durch ganze Dorfgemeinschaften und Stadtquartiere ziehen, doch irgendwann müssen diese wieder zugeschüttet werden. Die verlogene Kampagne der Brexiteers vom Schlage des früheren UKIP-Vorsitzenden, Nigel Farage, oder des Ex-Außenministers Boris Johnson, aber auch die kompromisslose Sturheit von Premierministerin Theresa May haben das Vereinigte Königreich in den Grundfesten erschüttert – und dies weit über den Brexit hinaus. Die Risse in der Conservative and Unionist Party und bei Labour dürften sich noch vertiefen: Längst hätten die Liberalen, die Grünen oder die Abspaltungen weitere Verstärkung bekommen, wenn das Mehrheitswahlrecht nicht die angestammten Großparteien bevorzugen würde. Aber Theresa May hat auch hier ganz ungewollt Veränderungen in Bewegung gesetzt, die zum Niedergang ihrer eigenen Partei beitragen könnten.

Doch die Hoffnung stirbt zuletzt: Noch ist es Zeit für eine Koalition der Vernunft im britischen Parlament. Aber nur, wenn Theresa May aufhört, zu taktieren und sich für einen echten Dialog öffnet. Die EU der 27 sollte – wenn auch aufstöhnend – die notwendige Zeit für eine Besinnung auf den common sense gewähren. Wir brauchen unsere Nachbarn in England, Schottland, Wales und Nordirland auch zukünftig in unserem europäischen Haus – und zwar als Freunde!

 

Die hellen Kreidefelsen von Dover erheben sich direkt aus dem dunkelblauen Meer.
Ein ungeordneter Brexit wäre wie ein Sprung von den Klippen in Dover. Die Fallhöhe in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht würde enorm sein – und ganz gewiss niemandem nutzen. Theresa May hat versucht, den Brexit um das britische Parlament herum umzusetzen und ist damit kläglich gescheitert. Der Flurschaden, den sie angerichtet hat, macht es nun doppelt schwer, noch eine kompromissbereite Mehrheit im Unterhaus zu schaffen. Hoffentlich können Theresa May und Jeremy Corbyn noch eine Koalition der Vernunft bilden. (Bild: Ulsamer)

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